MIA > Deutsch > Referenz > Berkman > ABC des Anarchismus
„Wie steht es mit der Produktion?“ fragen Sie. „Wie wird diese gehandhabt?“ Wir haben schon gesehen, welche Prinzipien den Aktivitäten der Revolution zugrunde liegen müssen, damit sie sozial ist und ihre Ziele erreicht. Dieselben Prinzipien der Freiheit und freiwilliger Zusammenarbeit müssen auch die Umorganisation der Industrien leiten.
Die erste Auswirkung der Revolution ist eine reduzierte Produktion. Schon der Generalstreik, den ich als Ausgangspunkt der sozialen Revolution ansehe, bedeutet Stillegung der Industrie. Die Arbeiter legen ihr Werkzeug nieder, demonstrieren auf den Straßen und stellen somit vorübergehend die Produktion ein. Aber das Leben geht weiter. Die wesentlichen Bedürfnisse der Menschen müssen befriedigt werden. In dieser Phase lebt die Revolution von den vorhandenen Vorräten. Die Erschöpfung der Vorräte aber würde eine Katastrophe sein. Diese Lage muß von der Arbeiterschaft gemeistert werden: Die sofortige Wiederaufnahme der Arbeit ist vorrangig. Das organisierte landwirtschaftliche und industrielle Proletariat nimmt das Land, die Fabriken, Werkstätten, Bergwerke und Betriebe in Besitz. Die größtmögliche Anstrengung steht nun auf der Tagesordnung.
Es muß ganz klar erkannt werden, daß die soziale Revolution – verglichen mit dem Kapitalismus – eine höhere Produktion benötigt; denn der Bedarf der großen Massen, die bis dahin in Armut gelebt haben, muß gedeckt werden. Die Steigerung der Produktion kann nur durch die Arbeiter erzielt werden, die sich schon vorher auf die neue Situation vorbereitet haben. Die Vertrautheit mit den industriellen Verfahren, die Kenntnis der8ezugsquellen und der Zwang, es zu schaffen, werden die Herausforderungen bewältigen. Die durch die Revolution hervorgerufene Begeisterung, die freigewordenen Energien und die dadurch angeregte Erfindungsgabe, müssen volle Freiheit und Spielraum erhalten, schöpferisch neue Problemlösungen zu entwickeln. Revolution bringt immer einen hohen Grad an Verantwortlichkeit mit sich. Gemeinsam mit der neuen Atmosphäre der Freiheit und Brüderlichkeit bewirkt sie die Erkenntnis, daß harte Arbeit und strenge Selbstdisziplin notwendig sind, um die Produktion auf die Höhe des Verbraucherbedarfs zu bringen.
Andererseits wird die neue Lage die gegenwärtig stark ineinander verwobenen Probleme der Industrie entwirren und sehr vereinfachen. Denn Sie dürfen nicht vergessen, daß der Kapitalismus aufgrund seines Wettbewerbswesens und seiner widersprüchlichen finanziellen und kommerziellen Interessen zu vielen seltsamen und verblüffenden Ergebnissen führt, die durch Abschaffung der heutigen Bedingungen völlig beseitigt würden. Dinge wie Lohnskalen und Verkaufspreise; die Bedürfnisse des bestehenden Marktes und Jagd nach neuen Märkten, Kapitalmangel bei großen Vorhaben und hohe Zinsen, die für Kapitalkredite bezahlt werden müssen; neue Investitionen, die Auswirkungen der Spekulation und des Monopols und eine Reihe anderer damit verbundener Probleme, die den Kapitalisten Sorgen und die Industrie heute zu einem so komplizierten und schwerfälligen Instrument machen, würden samt und sonders verschwinden. Gegenwärtig müssen sich zahlreiche Studiengruppen und hochqualifizierte Menschen damit beschäftigen, um das ineinander verschlungene Geflecht plutokratischer Mißverständnisse zu entwirren, viele Spezialisten kalkulieren die tatsächlichen und möglichen Gewinne und Verluste; und es bedarf einer großen Schar von Helfern, um das Schiff Industrie zwischen den gefährlichen Klippen hindurchzusteuern, die den chaotischen Kurs des kapitalistischen Wettbewerbs auf nationaler und internationaler Ebene umgeben.
Alles dies würde bei der Sozialisierung der Industrie und der Beendigung des Wettbewerbssystems automatisch verschwinden und dadurch vereinfachen sich die Probleme der Produktion gewaltig. Das verknotete Geflecht der kapitalistischen Industrie braucht also niemandem übermäßige Furcht vor der Zukunft einzuflößen. Jene, die davon reden, daß die Arbeiter nicht in der Lage sind, die „moderne“ Industrie zu leiten, vergessen, die oben erwähnten Faktoren zu berücksichtigen.
Das industrielle Labyrinth wird sich am Tage des sozialen Neuaufbaus als wenig schreckenerregend erweisen. Bei dieser Gelegenheit soll noch erwähnt werden, daß auch alle anderen Bereiche im Leben sich infolge der erwähnten Veränderungen stark vereinfachen werden: Zahlreiche Gewohnheiten, Sitten, zwanghafte und ungesunde Lebensformen werden auf natürliche Weise aussterben.
Außerdem muß berücksichtigt werden, daß die Aufgabe der Erhöhung der Produktion dadurch enorm erleichtert wird, daß sich in die Reihen der Arbeiter noch die große Anzahl der durch die veränderten Wirtschaftsbedingungen für wirkliche Arbeit freigewordenen eingliedert.
Kürzlich erstellte Statistiken zeigen, daß im Jahre 1920 in den Vereinigten Staaten mehr als 41 Millionen Menschen beiderlei Geschlechts bei einer Gesamtbevölkerung von mehr als 105 Millionen erwerbstätig waren. Von diesen 41 Millionen Menschen waren 26 Millionen tatsächlich in der Industrie, einschließlich Transportwesen und Landwirtschaft beschäftigt, während der Rest von 15 Millionen hauptsächlich aus Personen bestand, die im Handel als Reisende und Zwischenhändler tätig waren. Das heißt in anderen Worten, daß 15 Millionen Menschen durch eine Revolution in den Vereinigten Staaten für nützliche Arbeit freigemacht werden könnten. Ein ähnliches Bild würde sich im Verhältnis zur Bevölkerung in anderen Ländern ergeben. Für die bei einer sozialen Revolution notwendig werdende Produktionssteigerung würde eine zusätzliche Armee von vielen Millionen Menschen zur Verfügung gestellt werden können. Die gezielte Eingliederung dieser Millionen in die Industrie und Landwirtschaft mit Hilfe moderner wissenschaftlicher Organisations- und Produktionsmethoden würde auf lange Sicht zur Lösung der Versorgungsprobleme beitragen.
Der kapitalistischen Produktion geht es um den Profit; heutzutage werden mehr Arbeiter zum Verkauf als zur Produktion benötigt. Die soziale Revolution reorganisiert die Industrie auf der Basis der Bedürfnisse der Einwohner.
Wesentliche Bedürfnisse stehen natürlich an erster Stelle. Lebensmittel, Kleidung und Unterkunft – das sind die Hauptbedürfnisse des Menschen. Der erste Schritt auf diesem Weg ist die Ermittlung der vorhandenen Lebensmittelvorräte und anderer Waren. Die Arbeiterverbände in jeder Stadt und Gemeinde übernehmen diese Aufgabe, um eine gerechte Verteilung zu gewährleisten. Arbeiterkomitees in jeder Straße und jedem Bezirk nehmen die Verwaltung in die Hand, wobei sie mit ähnlichen Komitees der Stadt und des Staates zusammenarbeiten und sich über das ganze Land hinweg in einem Bund mit Räten zusammenschließen, in denen Hersteller und Verbraucher vereinigt sind.
Große Ereignisse und Umwälzungen bringen die aktivsten und tatkräftigsten Elemente an die Oberfläche. In der sozialen Revolution werden sich die klassenbewußten Arbeiterschichten herauskristallisieren. Wie sie später auch heißen mögen, ob es um Industriegewerkschaften, revolutionäre Gewerkschaftsgruppen, Genossenschaftsverbände, Vereinigungen von Herstellern und Verbrauchern gehen wird, sie werden den aufgeklärtesten und fortschrittlichsten Teil der Arbeiterschaft repräsentieren, die organisierten Arbeiter, die sich ihrer Ziele bewußt sind und wissen, wie diese zu erreichen sind. Sie sind es, die die treibende geistige Kraft der Revolution darstellen werden. Mit Hilfe der Industrie und der auf wissenschaftlicher Grundlage betriebenen Bewirtschaftung des Landes, das von Monopolen befreit ist, muß die Revolution vor allen Dingen zuerst die elementaren Wünsche der Gesellschaft erfüllen. In Landwirtschaft und Gartenbau haben uns intensive Bebauung und andere moderne Methoden praktisch unabhängig von der naturgegebenen Bodenqualität und dem Klima gemacht. In einem sehr beträchtlichen Umfang kann der Mensch heute dank neuer Erkenntnisse der Chemie seinen eigenen Boden und sein eigenes Klima herstellen. Exotische Früchte können im Norden gepflanzt und in den warmen Süden geliefert werden, wie es schon heute in Frankreich der Fall ist. Der Zauberer Wissenschaft befähigt den Menschen, alle Schwierigkeiten zu meistern und alle Hindernisse zu überwinden. Die Zukunft, vom Alpdruck des Profitsystems befreit und bereichert durch die Arbeit der Millionen heutzutage unproduktiv Tätigen, bietet den größten Wohlstand für die Gesellschaft. Diese Art Zukunft muß das Ziel der sozialen Revolution sein; das Motto: Brot und Wohlstand für alle. Erst Brot, dann Wohlstand und Luxus. Ja, sogar Luxus, denn Luxus ist ein tiefverwurzeltes Bedürfnis des Menschen, ein Bedürfnis sowohl seines körperlichen als auch geistigen Daseins. Die Revolution muß sich ständig darum bemühen, dieses Ziel zu erreichen: Es darf nicht etwas sein, was auf einen fernen Tag verschoben wird, sondern was sofort praktiziert werden muß.
Die Revolution muß danach streben, jede Gemeinde in die Lage zu bringen, sich selbst zu unterhalten, materiell unabhängig zu werden. Kein Land sollte auf Hilfe von außen angewiesen sein, Kolonien für seinen Unterhalt ausbeuten. Genau das ist nicht der kapitalistische Weg. Das Ziel des Anarchismus ist dagegen materielle Unabhängigkeit, nicht nur für den Einzelnen, sondern für jede Gemeinde. Das bedeutet allmähliche Dezentralisierung anstelle von Zentralisierung.
Selbst im Kapitalismus sehen wir, wie die Dezentralisierungstendenz trotz des notwendigerweise zentralistischen Charakters des heutigen Industriesystems offenkundig wird. Einst vollständig von ausländischen Herstellern abhängige Länder, wie z.B. Deutschland im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts, danach Italien und Japan und jetzt Ungarn, die Tschechoslowakei usw., lösen sich allmählich aus der industriellen Abhängigkeit von anderen Ländern und erlangen ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit, indem sie ihre eigenen Bodenschätze verwenden und eigene Fabriken und Werke errichten. Die internationale Finanzwelt begrüßt diese Entwicklung nicht und versucht ihr Äußerstes, um diesen Fortschritt aufzuhalten, denn es ist für die Morgans und Rockefellers profitträchtiger, Länder wie Mexiko, China, Indien, Irland oder Ägypten industriell rückständig zu halten, um deren Bodenschätze ausbeuten und gleichzeitig sicher sein zu können, daß diese ausländischen Märkte für die „Überproduktion“ des eigenen Landes erhalten bleiben. Die Regierungen helfen diesen großen Finanziers und Industriemagnaten, die ausländischen Bodenschätze und Märkte zu sichern, dabei schrecken sie selbst vor brutaler Gewalt nicht zurück. So zwingt Großbritannien beispielsweise China mit Waffengewalt, zuzulassen, daß englisches Opium mit gutem Profit die Chinesen vergiftet, und wendet jedes Mittel an, um in dem Land den größten Teil seiner Textilprodukte verkaufen zu können. Aus dem gleichen Grund wird Ägypten, Indien, Irland und den anderen Schutzgebieten und Kolonien nicht gestattet, eigene inländische Industrien zu entwickeln.
Zusammengefaßt: Der Kapitalismus strebt Zentralisierung an. Aber ein freies Land braucht Dezentralisierung, Unabhängigkeit nicht nur in politischer sondern auch in industrieller und wirtschaftlicher Hinsicht. Rußland liefert ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie wichtig wirtschaftliche Unabhängigkeit besonders im Hinblick auf die soziale Revolution ist. Noch Jahre nach dem Oktoberaufstand konzentrierte die bolschewistische Regierung ihre Bemühungen darauf, um die Gunst bourgeoiser Regierungen zwecks „Anerkennung“ zu buhlen und ausländische Kapitalisten einzuladen, damit sie bei der Ausbeutung der russischen Bodenschätze halfen. Aber das Kapital, zurückschreckend vor großen Investitionen unter den unsicheren Bedingungen der Diktatur, ließ jegliche Begeisterung vermissen.
In der Zwischenzeit näherte sich Rußland dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die schwierige Lage zwang schließlich die Bolschewisten zu der Erkenntnis, daß das Land sich auf seine eigenen Anstrengungen verlassen mußte, um zu überleben. Rußland begann, sich nach Möglichkeiten umzuschauen, um sich selbst zu helfen;dadurch gewann es mehr Vertrauen in sein eigenes Können, bekam Selbstsicherheit, entwickelte Initiative und begann seine eigenen Industrien zu fördern, das war ein langsamer und schmerzlicher Prozeß, aber eine heilsame Maßnahme, die Rußland schließlich wirtschaftlich selbständig und unabhängig machen wird.
Überall muß die soziale Revolution von Anfang an entschlossen darauf hinarbeiten, das eigene Land wirtschaftlich unabhängig und selbständig zu machen. Man muß sich selbst helfen. Das Prinzip der Selbsthilfe darf nicht als Mangel an Solidarität mit anderen Ländern mißverstanden werden. Gegenseitige Hilfe und Zusammenarbeit unter den Ländern kann dagegen genauso wie unter einzelnen Menschen nur auf der Basis der Gleichheit unter Gleichen gedeihen. Bei Abhängigkeit ist das nicht möglich.
Sollte die soziale Revolution in mehreren Ländern gleichzeitig eintreten – zum Beispiel in Frankreich und Deutschland – dann wäre der gemeinsame Einsatz eine Selbstverständlichkeit und er würde die Aufgabe der revolutionären Neuorganisation sehr erleichtern.
Glücklicherweise kommen die Arbeiter zu der Erkenntnis, daß ihre Sache eine internationale ist: Die Organisation der Arbeiter entwickelt sich jetzt über die nationalen Grenzen hinaus. Es bleibt zu hoffen, daß der Zeitpunkt nicht mehr weit ist, zu dem sich das ganze europäische Proletariat zu einem Generalstreik vereint, der das Vorspiel zur sozialen Revolution sein wird. Das ist zweifellos ein Punkt, der mit dem größten Eifer angestrebt werden muß. Aber gleichzeitig sollte die Möglichkeit berücksichtigt werden, daß die Revolution in einem Land früher als in dem anderen ausbricht – sagen wir in Frankreich früher als in Deutschland – in diesem Fall wäre es unbedingt erforderlich, daß Frankreich nicht auf eine mögliche Unterstützung von außen wartet, sondern all seine Energie dafür einsetzt, sich selbst zu helfen und die wesentlichsten Bedürfnisse seines Volkes aus eigener Kraft zu versorgen.
Jedes Land, das sich in einer Revolution befindet, muß die landwirtschaftliche Unabhängigkeit nicht weniger erstreben als die politische, die industrielle Selbsthilfe nicht weniger als die landwirtschaftliche. Dieser Prozeß findet in gewissem Maße sogar im Kapitalismus statt. Er sollte eines der Hauptziele der sozialen Revolution sein. Moderne Methoden ermöglichen es. Die Herstellung von Uhren zum Beispiel, die früher ein Monopol der Schweiz war, wird nun in jedem Land betrieben. Die Seidenherstellung, die sich einst auf Frankreich beschränkte, ist heute Teil der Großindustrien verschiedener Länder. Italien, das keine Kohlen- oder Eisenvorkommen besitzt, baut Schiffe mit Stahlpanzerung. Die darin nicht reichere Schweiz baut ebenfalls welche. Die Dezentralisierung wird die Gesellschaft von vielen Übeln des zentralistischen Prinzips befreien. Politisch gesehen bedeutet Dezentralisierung Freiheit; industriell gesehen materielle Unabhängigkeit; sozial gesehen Sicherheit und Wohlstand für die kleinen Gemeinden; individuell gesehen führt sie zu Menschlichkeit und Freiheit.
Genauso wichtig wie die Unabhängigkeit vom Ausland ist für die soziale Revolution eine Dezentralisierung innerhalb des eigenen Landes. Die interne Dezentralisierung bedeutet, die größeren Regionen und sogar jede Gemeinde so weit wie möglich autark zu machen. Peter Kropotkin hat in seiner höchst klärenden und anregenden Arbeit „Landwirtschaft, Industrie und Handwerk“ überzeugend dargelegt, daß sogar eine Stadt wie Paris, heute fast ausschließlich als Handelszentrum dienend, genug Nahrungsmittel in ihren eigenen Vororten aufbringen könnte, um die Bevölkerung reichlich zu versorgen. Durch die Nutzung moderner landwirtschaftlicher Maschinen und intensiver Anbaumethoden könnten London und New York von den Produkten leben, die in der nächsten Umgebung gezüchtet worden sind. Tatsache ist, daß „unsere Möglichkeiten, vom Boden alles zu erhalten, was wir wünschen, gleichgültig in welchem Klima und auf welchem Boden, in letzter Zeit dermaßen verbessert worden sind, daß wir die Grenze der Produktivität eines Hektars Land noch nicht absehen können. Diese Grenze dehnt sich in dem Maße, wie sich unsere Bearbeitung dieses Problems verbessert, jedes Jahr entschwindet sie mehr und mehr unseren Blicken“.
Wenn die soziale Revolution in irgendeinem Land beginnt, dann geht sein Außenhandel augenblicklich auf Null zurück: Der Import von Rohstoffen und Fertigprodukten wird eingestellt. Das Land mag sogar einer Blockade der bourgeoisen Regierungen ausgesetzt sein, wie es in Rußland der Fall war. Dadurch wird die Revolution zur Selbstversorgung gezwungen, die Bedürfnisse müssen aus dem eigenen Land befriedigt werden. Sogar verschiedene Gebiete desselben Landes müssen unter Umständen mit dieser Möglichkeit rechnen. Sie würden alle Dinge, die gebraucht werden, auf eigenem Territorium allein mit eigener Kraft produzieren müssen. Nur eine Dezentralisierung könnte dieses Problem lösen. Das Land müßte seine Aktivitäten so umorganisieren, daß es sich selbst ernähren kann. Es würde von Produktion im kleinen Rahmen, von Heimindustrie und von intensivem Acker- und Gartenbau Gebrauch machen müssen. Die durch die Revolution freigesetzte Initiative des Menschen und sein durch die Zwangslage geschärfter Verstand werden sich der Lage gewachsen zeigen. Aus diesem Grunde muß man klar begreifen, daß es für die Interessen der Revolution katastrophal wäre, die Kleinbetriebe, die sogar heute noch in großem Umfang in verschiedenen europäischen Ländern geführt werden, auszuschalten oder sich in ihre Belange einzumischen. Zahllose Artikel für den täglichen Gebrauch werden von Bauern im kontinentalen Europa während ihrer freien Stunden im Winter hergestellt. Diese Heimproduzenten erzeugen riesige Mengen, die einen großen Bedarf decken. Es würde der Revolution sehr schaden, wenn sie ausgeschaltet würden, was in Rußland törichterweise von den Bolschewisten aufgrund ihrer verrückten Idee der völligen Zentralisierung gemacht worden ist. Wenn ein Land im Laufe der Revolution von ausländischen Regierungen angegriffen, wenn es boykottiert und seiner Importe beraubt wird, wenn seine Großindustrien zusammenzubrechen drohen und der Eisenbahnverkehr tatsächlich zusammenbricht, dann werden gerade die Heimindustrien zum Lebensnerv des Wirtschaftslebens, nur sie allein können die Revolution unterhalten und retten.
Darüber hinaus sind diese Heimindustrien nicht nur ein mächtiger wirtschaftlicher Faktor, sie haben auch einen außerordentlich großen Wert für die Gesellschaft. Sie dienen der Pflege eines freundschaftlichen Verkehrs zwischen dem Land und der Stadt, indem sie beide zu einem engeren und solidarischen Kontakt zwingen. In der Tat sind die Heimindustrien Ausdruck des sehr gesunden Geistes einer Gesellschaft, der sich schon seit frühen Zeiten in Dorfversammlungen, in kommunalen Bemühungen, im Volkstanz und Volkslied kundtat. Diese normale und gesunde Neigung in ihren verschiedensten Aspekten sollte von der Revolution zum Wohl der Gemeinde angeregt und gefördert werden.
Die Rolle der industriellen Dezentralisierung in der Revolution wird leider zu wenig gewürdigt. Selbst in fortschrittlichen Arbeiterschichten besteht die gefährliche Tendenz, ihre Bedeutung zu ignorieren oder zu unterschätzen.
Die meisten Menschen befinden sich noch in der Knechtschaft des marxistischen Dogmas, demzufolge Zentralisierung „leistungsfähiger und wirtschaftlicher“ ist. Sie schließen ihre Augen vor der Tatsache, daß diese angebliche „Wirtschaftlichkeit“ nur auf Kosten der Gesundheit und des Lebens des Arbeiters erreicht wird, daß die „Leistungsfähigkeit“ ihn zu einem Rädchen im Getriebe degradiert, seine Seele abstumpft und seinen Körper tötet. Außerdem geht in einem zentralisierten System die Verwaltung der Industrie ständig in die Hände von immer weniger Personen über und es bildet sich eine machtvolle Bürokratie industrieller Oberherrscher. Es wäre blanke Ironie, wenn die Revolution dieses Ergebnis zur Folge hätte. Es würde der Einsetzung einer neuen Herrscherklasse gleichkommen.
Die Revolution kann die Emanzipation der Arbeiter nur über eine stufenweise Dezentralisierung erreichen, wobei der einzelne Arbeiter zu einem bewußteren und bestimmenden Faktor in der Industrie heranreifen muß und er zu dem Ursprung wird, aus dem alle industriellen und sozialen Aktivitäten entstehen. Die tiefe Bedeutung der sozialen Revolution liegt in der Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen, an ihre Stelle tritt ein rein sachbezogenes Management.
Nur so kann industrielle und soziale Freiheit erreicht werden. „Sind Sie sicher, daß das funktioniert?“ fragen Sie. Ich bin davon überzeugt: Wenn das nicht funktioniert, dann funktioniert gar nichts. Der von mir gegebene Umriß entspricht einem freien Kommunismus, einem Leben in freiwilliger Zusammenarbeit mit gleichen Lasten. Es gibt keinen anderen Weg, wirtschaftliche Gleichheit sicherzustellen, sie allein ist Freiheit. Jedes andere System führt zwangsläufig zu Kapitalismus.
Es ist natürlich möglich, daß ein Land im Laufe der sozialen Revolution andere Experimente bezüglich der Wirtschaft macht. Ein begrenzter Kapitalismus mag in einem Teil des Landes eingeführt werden und Kollektivismus in einem anderen. Kollektivismus ist aber nur eine andere Form des Lohnsystems und pflegt rasch zu einem Kapitalismus heutiger Art zu führen. Der Kollektivismus schafft zwar zuerst das Privateigentum an den Produktionsmitteln ab, macht dann aber, indem er zu einem System der Vergütung zurückkehrt, das sich nach der geleisteten Arbeit richtet, was die Wiedereinführung der Ungleichheit bedeutet, alles sofort wieder zunichte.
Der Mensch lernt durch die Tat. Die soziale Revolution in verschiedenen Ländern und Regionen wird wahrscheinlich mannigfaltige Methoden ausprobieren und durch praktische Erfahrung den besten Weg erkennen. Die Revolution bietet gleichzeitig die Möglichkeit und die Rechtfertigung dafür. Ich versuche nicht vorauszusagen, was dieses oder jenes Land tun wird und welchen Kurs es im einzelnen steuern wird. Noch maße ich mir an, der Zukunft die Verfahrensweise zu diktieren oder vorzuschreiben. Meine Absicht ist es in einem breit angelegten Überblick die Prinzipien aufzuzeigen, die die Revolution beleben müssen sowie die Prinzipien des allgemeinen Bewegungsablaufs, dem sie folgen sollte, wenn sie ihr Ziel erreichen soll – die Neugestaltung der Gesellschaft auf der Grundlage von Freiheit und Gleichheit. Wir wissen, daß frühere Revolutionen meistens ihre Ziele verfehlten, daß sie zu Diktatur und zu Despotismus degenerierten und somit die alten Institutionen der Unterdrückung und Ausbeutung wiederherstellten. Wir wissen das aus der älteren und neuesten Geschichte. Daher ziehen wir den Schluß, daß die alten Methoden nicht ausreichen werden. In der kommenden sozialen Revolution muß ein neuer Weg beschritten werden. Welcher neue Weg? Der einzige, der den Menschen bisher bekannt ist: Der Weg der Freiheit und Gleichheit, der Weg des freien Kommunismus, der Anarchie.
Zuletzt aktualisiert am 13.2.2005