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„Vorbereiten auf die Revolution!“ ruft Ihr Freund aus. „Ist das möglich?“ Ja. Es ist nicht nur möglich, sondern unbedingt notwendig. „Deuten Sie damit geheime Vorbereitungen an, bewaffnete Gruppen und Männer, um den Kampf durchzuführen?“ fragen Sie. Nein, mein Freund, ganz und gar nicht.
Wenn die soziale Revolution sich nur in Straßenschlachten und im Bau von Barrikaden erschöpft, dann wären die Vorbereitungen angebracht, die Sie im Sinn haben. Aber das ist nicht die Revolution; zumindest macht die Kampfphase nur einen sehr kleinen und unwichtigen Teil aus. Die Wahrheit ist, daß Revolutionen in modernen Zeiten nicht mehr auf Barrikaden ausgefochten werden. Diese gehören der Vergangenheit an. Die soziale Revolution ist eine ganz anders geartete und viel wesentlichere Sache: Sie schließt eine Neuorganisation des ganzen gesellschaftlichen Lebens ein. Sie werden zustimmen, daß diese sicherlich nicht durch bloßes Kämpfen erreicht werden kann.
Natürlich müssen die auf dem Weg zur sozialen Neuordnung stehenden Hindernisse beseitigt werden. Dazu ist zu sagen, daß die Mittel für diesen Neuaufbau durch die Massen aufgebracht werden müssen. Diese Mittel befinden sich gegenwärtig in den Händen der Regierung und des Kapitalismus, und diese werden sich jedem Versuch widersetzen, ihnen ihre Macht und ihren Besitz zu nehmen. Dieser Widerstand wird Kampf mit sich bringen. Aber vergessen Sie nicht, daß dieser Kampf nicht die Hauptsache, nicht das Ziel noch die Revolution ist. Er ist nur die Einleitung, das Vorspiel dazu.
Es ist unbedingt nötig, daß Sie das richtig verstehen. Die meisten Menschen haben sehr verworrene Ansichten über die Revolution. Sie sehen darin nur Kampf und Zerstörung. Das ist so, als wenn Sie das Aufkrempeln der Ärmel für eine Arbeit, die Sie ausführen sollen, schon als die Arbeit selbst ansehen würden. Die Kampfphase ist mit dem Aufkrempeln der Ärmel zu vergleichen. Die wahre, die eigentliche Aufgabe, die es zu lösen gilt, stellt sich dann erst.
Was für eine Aufgabe ist das?
„Die irreversible Veränderung der bestehenden Zustande“, antworten Sie. Richtig. Aber Zustände werden nicht dadurch verändert, daß Sachen zerbrochen und zertrümmert werden. Sie können die Lohnsklaverei nicht aufheben, indem Sie die Anlagen in den Werken und Fabriken verwüsten, oder? Sie werden die Regierung nicht beseitigen, indem Sie Feuer an das Weiße Haus legen.
Revolution nur in Begriffen wie Gewalt und Zerstörung zu verstehen hat zur Folge, daß die ganze Idee mißdeutet und verfälscht wird. Wenn eine solche Auffassung in die Wirklichkeit umgesetzt wird, zeitigt das unweigerlich verheerende Folgen. Wenn ein großer Denker wie der berühmte Anarchist Bakunin von Revolution als Zerstörung spricht, dann meint er die Idee von Autorität und Gehorsam, die vernichtet werden muß. Aus diesem Grunde kann er sagen, daß Zerstörung konstruktiv ist, denn wenn ein falscher Glaube zerstört wird, dann ist das in der Tat ein höchst konstruktives Werk.
Aber der Durchschnittsmensch und zu oft sogar der Revolutionär reden gedankenlos von der Revolution als etwas, das ausschließlich im physikalischen Sinne des Wortes zerstörerisch wirkt. Diese Ansicht ist falsch und gefährlich. Je eher wir sie loswerden desto besser. Eine Revolution und insbesondere die soziale Revolution ist nicht Zerstörung sondern Konstruktion. Das kann nicht oft genug betont werden, und wenn wir das nicht klar erkennen, dann wird die Revolution nur zerstörerisch bleiben und damit immer ein Fehlschlag sein. Natürlich wird die Revolution immer von Gewalt begleitet sein, aber dann könnte man auch sagen, daß der Bau eines neuen Hauses auf dem Platz eines alten zerstörerisch ist, weil erst das alte Haus niedergerissen werden muß. Die Revolution ist der Höhepunkt eines bestimmten evolutionären Prozesses. Sie beginnt mit einem gewalttätigen Umbruch. Dieser ist wie das Aufkrempeln der Ärmel die Vorbereitung für den Beginn der tatsächlichen Arbeit.
Überlegen Sie, was die soziale Revolution bewerkstelligen und was sie erreichen soll, und Sie werden feststellen, daß sie nicht kommt, um zu zerstören sondern um aufzubauen. Was gibt es eigentlich zu zerstören? Den Reichtum der Reichen? Nein, denn das ist etwas, was die ganze Gesellschaft genießen soll.
Das Land, die Felder, die Kohlenbergwerke, die Eisenbahnen, Fabriken, Werke und Werkstätten. Diese wollen wir nicht zerstören, sondern für alle Menschen nutzbar machen. Die Telegraphen, Telephone, die Kommunikations- und Vertriebsmittel – wollen wir die zerstören? Nein, wir wollen, daß sie den Bedürfnissen aller dienen. Was also zerstört soziale Revolution überhaupt? Es geht darum, daß Dinge zum allgemeinen Nutzen übernommen, nicht aber, daß sie zerstört werden. Die Bedingungen für den allgemeinen Wohlstand müssen neu organisiert werden.
Nicht das Zerstören ist das Ziel der Revolution, sondern Wiederherstellung und Wiederaufbau. Daher ist eine Vorbereitung nötig, denn der soziale Revolutionär ist nicht der biblische Messias, der seine Mission aufgrund schlichter Verordnung oder auf Befehl ausführt. Die Revolution benutzt die Hände und den Verstand der Menschen. Und diese müssen die Ziele der Revolution erkennen, um sie ansteuern zu können. Sie müssen wissen, was sie wollen und wie sie es erreichen können. Der zu beschreitende Weg, wird durch die Ziele festgelegt, die angestrebt werden sollen. Denn das Ziel bestimmt die Mittel, genauso wie Sie einen bestimmten Samen säen müssen, um später die gewünschte Pflanze ernten zu können.
Worin besteht also die Vorbereitung der sozialen Revolution? Wenn es Ihr Ziel ist, die Freiheit zu schützen, dann müssen Sie erst lernen, ohne Autorität und Zwang auszukommen. Wenn Sie die Absicht haben, mit Ihren Mitmenschen in Frieden und Harmonie zu leben, dann sollten alle untereinander Brüderlichkeit üben und Respekt voreinander haben. Wenn man zum gemeinsamen Nutzen aller zusammenarbeiten will, dann muß man Kooperation praktizieren. Die soziale Revolution führt weit über die Neugestaltung der Lebensbedingungen hinaus: Sie zieht das Entstehen neuer menschlicher Werte und sozialer Beziehungen nach sich, sowie ein verändertes Verhalten des Menschen gegenüber dem Menschen, nämlich das eines freien und unabhängigen Menschen zu seinem ebenbürtigen Partner; sie setzt eine andere Gesinnung im individuellen und kollektiven Leben voraus, und diese Gesinnung kann nicht von einem Tag auf den anderen entstehen. Dieser Geist muß gehegt und gepflegt werden wie eine sehr empfindliche Blume, denn er ist die Blume eines neuen und herrlichen Daseins.
Täuschen Sie sich nicht selbst mit der dummen Redewendung, daß „die Dinge sich von allein arrangieren“. Nichts arrangiert sich jemals von selbst, am wenigsten die menschlichen Beziehungen. Es sind die Menschen, die etwas arrangieren und sie handeln in Übereinstimmung mit ihrer Einstellung zu und ihrem Verständnis für die Dinge. Neue Situationen und veränderte Bedingungen lassen uns andersartig fühlen, denken und handeln. Aber die neuen Bedingungen selbst können nur als Ergebnis neuer Gefühle und Ideen zustandekommen. Die soziale Revolution ist solch eine neue Bedingung. Wir müssen anders denken lernen, bevor die Revolution kommen kann. Nur das ermöglicht die Revolution.
Wir müssen lernen, anders über Regierung und Autorität zu denken, denn solange wir so denken und handeln wie heute, wird es Intoleranz, Verfolgung und Unterdrückung geben, selbst wenn die organisierte Regierung abgeschafft ist. Wir müssen die menschliche Natur unseres Mitmenschen respektieren lernen, uns nicht einmischen und seine Freiheit als genauso heilig wie die unsrige empfinden; seine Freiheit und seine Persönlichkeit respektieren, dem Zwang jeder Art abschwören: wir müssen begreifen daß das Heilmittel gegen alte Übel der Freiheit mehr Freiheit ist, daß die Freiheit die Mutter der Ordnung ist.
Ferner müssen wir lernen, daß Gleichheit gleiche Möglichkeit bedeutet, daß Monopol ihre Verneinung ist und daß nur Brüderlichkeit die Gleichheit bewahrt. Das können wir nur lernen, wenn wir uns von den falschen Ideen des Kapitalismus und des Besitzes, von Mein und Dein, von dem engstirnigen Begriff des Eigentums befreien. Indem wir das lernen, werden wir in den Geist der echten Freiheit und Solidarität hineinwachsen und erfahren, daß der freie Zusammenschluß die Seele jeder Errungenschaft ist. Wir werden dann erkennen, daß die soziale Revolution die Frucht von Kooperation, solidarischem Handeln und gemeinsamem Einsatz ist. Vielleicht meinen Sie, daß dieser Prozeß zu langsam vorankommt, daß die Bemühungen zuviel Zeit beanspruchen werden. Ja, ich gebe zu, daß es eine schwierige Aufgabe ist. Aber fragen Sie sich selbst, ob es wohl besser ist, ein neues Haus schnell, aber so schlecht zu bauen, daß es vielleicht über Ihrem Kopf zusammenbricht, als ordentlich zu bauen, selbst wenn es mehr und härtere Arbeit erfordert.
Denken Sie daran, daß die soziale Revolution Freiheit und Wohlergehen der ganzen Menschheit verkörpert und daß von ihr die vollständige und endgültige Emanzipation der Arbeiterschaft abhängt. Berücksichtigen Sie auch, daß dann, wenn Pfuscharbeit geleistet wird, alle Anstrengungen und Leiden umsonst sind oder noch schlimmer, daß infolge der mies ausgeführten Revolution die alte Tyrannei nur durch eine andere abgelöst wird, die aufgrund ihrer Neuartigkeit unbemerkt ein Eigenleben entwickelt. Dann werden sich die neu geschmiedeten Ketten stärker als die alten erweisen.
Bedenken Sie auch, daß die soziale Revolution, die wir im Sinn haben, ein Werk vollbringen soll, an dessen Vollendung viele Generationen gearbeitet haben, denn die gesamte Geschichte der Menschheit war Kampf für Freiheit und gegen Sklaverei, für sozialen Wohlstand und gegen Armut und Elend, für Gerechtigkeit und gegen Ungerechtigkeit. Was wir Fortschritt nennen, war ein leidensvoller aber ständiger Marsch in Richtung auf eingeschränkte Autorität und Regierungsmacht, auf Ausdehnung der Rechte und Freiheiten sowohl des Einzelnen als auch der Massen. Dieser Kampf hat Tausende von Jahren angehalten. Der Grund, daß er so lange gedauert hat – und jetzt noch nicht beendet ist – ist, daß die Menschen die wirklichen Schwierigkeiten nicht erkannten: Sie kämpften gegen dieses und jenes, sie wechselten die Könige, bildeten neue Regierungen, setzten einen Herrscher ab, nur um ihn durch einen neuen zu ersetzen, vertrieben einen „ausländischen“ Unterdrücker, nur um unter dem Joch eines Einheimischen zu leiden, beseitigten eine Form der Tyrannei, wie die des Zaren, und unterwarfen sich der einer Parteidiktatur, und immer wieder vergossen sie ihr Blut und opferten heldenhaft ihr Leben in der Hoffnung, Freiheit und Wohlstand zu erlangen. Aber sie fanden nur neue Beherrscher, weil sie, so verzweifelt und eindrucksvoll sie auch kämpften, nie den wahren Kern des Übels antasteten, das Prinzip von Autorität und Regierung. Sie erkannten nicht, daß sie die eigentlichen Quellen der Versklavung und Unterdrückung sind und es gelang ihnen darum nie, die Freiheit zu erlangen.
Aber heute wissen wir, daß echte Freiheit nichts mit einem Wechsel von Königen oder Herrschern zu tun hat. Wir wissen, daß das ganze System von Herr und Knecht abgeschafft werden muß, daß das gesamte soziale System falsch ist, daß Regierung und Zwang beseitigt werden müssen, daß Autorität und Monopol mit ihren eigentlichen Wurzeln ausgemerzt werden müssen. Glauben Sie immer noch, daß irgendeine Vorbereitung auf diese große Aufgabe zu schwierig sein könnte? Vergegenwärtigen wir uns darum im ganzen Ausmaß, wie wichtig die Vorbereitung auf die soziale Revolution ist, die richtige Vorbereitung.
„Aber welches ist das richtige Verfahren?“ fragen Sie. „Und wer soll vorbereiten?“ Wer vorbereiten soll? Zuerst einmal Sie und ich – alle, die bei ihrer Verwirklichung helfen wollen. Und Sie und ich sind jeder Mann und jede Frau; zumindest jeder anständige Mann und jede anständige Frau, die Unterdrückung hassen und Freiheit lieben, jeder, der das Elend und die Ungerechtigkeit nicht ertragen kann, die die Welt heute beherrschen.
Und vor allem jene, die am meisten unter den bestehenden Bedingungen zu leiden haben, unter Lohnsklaverei, Unterwerfung und Unwürde. „Die Arbeiter natürlich“, sagen Sie. Ja, die Arbeiter. Als den am schlimmsten mitgespielten Opfern der heutigen Institutionen liegt es in ihrem Interesse, sie abzuschaffen. Es ist zutreffend gesagt worden, daß „die Emanzipation der Arbeiter durch die Arbeiter selbst erreicht werden muß“, denn keine andere Klasse in der Gesellschaft wird ihnen dazu verhelfen. Jedoch hat die Emanzipation der Arbeiterschaft gleichzeitig die Befreiung der ganzen Gesellschaft zur Folge, und darum sprechen manche Leute von der „historischen Mission“ des Arbeiters, die zu besseren Tagen führen soll.
Aber „Mission“ ist nicht das richtige Wort. Es läßt an eine Pflicht oder Aufgabe denken, die jemandem von außerhalb, von irgendeiner äußeren Macht auferlegt worden ist. Diese Vorstellung ist falsch und irreführend, im wesentlichen drückt sie eine religiöse, metaphysische Empfindung aus. Wenn die Emanzipation des Arbeiters tatsächlich eine „historische Mission“ ist, dann wird die Geschichte dafür sorgen, daß sie auch stattfindet, gleichgültig was wir denken, fühlen oder dazu beitragen mögen. Eine solche Einstellung macht menschliche Bemühungen sinnlos und überflüssig, denn „was sein muß, wird sein“. Solch eine seltsame Vorstellung zerstört jegliche Initiative und Bewegungsfreiheit des menschlichen Verstands und Willens.
Es ist eine gefährliche und schädliche Idee. Es gibt keine Macht außerhalb des Menschen, die ihn befreien kann, keine, die ihn mit einer „Mission“ beauftragen kann. Weder der Himmel noch die Geschichte können das. Die Geschichte ist die Erzählung von dem, was geschehen ist. Sie kann eine Lektion erteilen, aber niemals eine Aufgabe. Es ist nicht die „Mission“, sondern das Interesse des Proletariats, sich von der Knechtschaft zu befreien. Wenn die Arbeiterschaft nicht bewußt und aktiv darum kämpft dann wird es nie geschehen. Es ist notwendig, daß wir uns von diesem dummen und falschen Begriff der „historischen Missionen“ freimachen. Nur wenn die Massen zur richtigen Erkenntnis ihrer gegenwärtigen Lage, zur richtigen Einschätzung ihrer Möglichkeiten und Kräfte kommen, Einigkeit und Kooperation erlernen und praktizieren, werden sie die Freiheit gewinnen. Auf ihrem Wege dahin werden sie auch den Rest der Menschheit befreien.
Aus diesem Grunde geht der proletarische Kampf jeden an, und alle aufrichtigen Männer und Frauen sollten der Arbeiterklasse bei ihrer großen Aufgabe zur Seite stehen. Obwohl nur die Arbeiter das Werk der Emanzipation bewältigen können, so brauchen sie in der Tat auch die Hilfe anderer Gruppen aus der Gesellschaft. Denn sie dürfen nicht vergessen, daß die Revolution vor dem Aufbau einer neuen Zivilisation steht – einem Werk, das größte revolutionäre Integrität und kluge Zusammenarbeit aller gutmeinenden und freiheitsliebenden Elemente erfordert. Wir wissen schon, daß es bei der sozialen Revolution nicht nur um die Abschaffung des Kapitalismus geht. Wir mögen den Kapitalismus fortjagen, genauso wie wir den Feudalismus los wurden, und trotzdem können wir Sklaven bleiben wie zuvor. Anstatt wie jetzt Sklave des privaten Monopols zu sein, könnten wir Knechte des Staatskapitalismus werden, wie es beispielsweise mit den Menschen in Rußland geschehen ist und sich die Dinge in Italien und anderen Ländern gerade entwickeln. Die soziale Revolution – und das darf nie vergessen werden – will nicht eine Art der Unterwerfung durch eine andere ersetzen, sondern alles beseitigen, das Sie versklaven und unterdrücken kann.
Eine politische Revolution mag durch ein konspirativ arbeitendes Monopol erfolgreich beendet werden, indem es an die Stelle einer herrschenden Clique eine andere setzt. Aber die soziale Revolution stellt nicht nur eine politische Veränderung dar: Sie ist eine grundlegende wirtschaftliche, ethische und kulturelle Umgestaltung. Eine konspirativ arbeitende Minderheit oder politische Partei, die solch einen Versuch unternimmt, muß auf den aktiven und passiven Widerstand der großen Mehrheit stoßen und wird daher zu einem System von Diktatur und Terror entarten.
Angesichts einer feindlichen Mehrheit ist die soziale Revolution von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Das heißt, daß die erste Stufe der Vorbereitung auf die Revolution in der Gewinnung der Mehrheit der Massen für die Revolution und ihre Ziele besteht; zumindest müssen die Massen dazu gebracht werden, sich vom aktiven Feind zum passiven Sympathisanten zu wandeln, was im Endeffekt zu ihrer Neutralisierung führt, so daß sie – wenn sie schon nicht für die Revolution eintreten – wenigstens nicht mehr gegen sie kämpfen.
Das wirkliche, eigentliche Werk der sozialen Revolution muß natürlich von den Arbeitern selbst, von den erwerbstätigen Menschen ausgeführt werden. Und hierbei lassen Sie uns nicht vergessen, daß nicht nur die Menschen in der Fabrik zu den Arbeitern gehören, sondern auch die Bauern. Einige Radikale neigen dazu, das industrielle Proletariat überzubewerten, während sie die Existenz des landwirtschaftlichen Arbeiters fast völlig ignorieren. Was könnte jedoch der Fabrikarbeiter ohne den Bauern erreichen? Die Landwirtschaft ist der wesentlichste Faktor des Lebens, die Stadt würde hungern ohne das Land. Es ist müßig, Industriearbeiter und Landarbeiter zu vergleichen oder ihren relativen Wert zu diskutieren. Keiner kann ohne den anderen leben; beide sind gleich wichtig in einem Schema des Lebens und genauso in der Revolution und beim Aufbau einer neuen Gesellschaft.
Es stimmt, daß Revolutionen zuerst in Industriegebieten ausbrechen, jedenfalls eher als in landwirtschaftlichen. Das ist nur natürlich, da dort eine größere Ballung der arbeitenden Bevölkerung gegeben ist und daher auch der allgemeinen Unzufriedenheit. Aber wenn das industrielle Proletariat ein Vorposten der Revolution ist, dann ist der Landarbeiter ihr Rückgrat. Wenn das letztere schwach oder gebrochen ist, dann ist der Vorposten und damit auch die Revolution selbst verloren.
Aus diesem Grunde liegt die soziale Revolution in den Händen beider, nämlich sowohl des Industrie- als auch des Landarbeiters. Leider muß zugegeben werden, daß es zu wenig Verständnis und fast gar keine Freundschaft oder direkte Zusammenarbeit zwischen beiden gibt. Noch schlimmer als das- und zweifellos ein Ergebnis dessen – es existiert eine gewisse Abneigung und Feindschaft zwischen den Proletariern des Feldes und der Fabrik. Der Stadtmensch würdigt die harte und erschöpfende Arbeit des Bauern zu wenig, der ihm dies instinktiv verübelt. Darüber hinaus ist der Bauer geneigt, den Arbeiter aus der Stadt als einen Müßiggänger zu betrachten, da er mit der anstrengenden und oft gefährlichen Arbeit in der Fabrik nicht vertraut ist. Eine bessere Annäherung und größeres Verständnis der beiden füreinander ist unbedingt notwendig. Der Kapitalismus gedeiht nicht so sehr auf der Teilung der Arbeit als auf der Teilung der Arbeiter. Er versucht, eine Rasse gegen die andere aufzuhetzen, den Fabrik- gegen den Landarbeiter, den ungelernten Arbeiter gegen den Facharbeiter, die Arbeiter des einen gegen die des anderen Landes. Die Macht der ausbeutenden Klasse beruht auf einer entzweiten, uneinigen Arbeiterschaft. Die soziale Revolution braucht aber die Einheit der arbeitenden Massen und vor allen Dingen die Kooperation des Proletariats aus der Fabrik mit seinem Bruder auf dem Land.
Eine weitergehende Annäherung beider ist ein wichtiger Schritt bei der Vorbereitung der sozialen Revolution. Echter Kontakt zwischen ihnen ist von größter Wichtigkeit. Gemeinsame Räte, der Austausch von Delegierten, ein System von Genossenschaften und andere Methoden ähnlicher Art würden zu einer engeren Bindung und einem besseren Verständnis zwischen dem Arbeiter und dem Bauern führen.
Aber nicht nur die Zusammenarbeit von Fabrik- und Landarbeiter ist für die Revolution von Bedeutung. Es gibt ein anderes Element, das im konstruktiven Werk der Revolution unbedingt notwendig ist. Es ist der geschulte Verstand des Fachmannes.
Machen Sie nicht den Fehler anzunehmen, daß die Welt nur mit den Händen erbaut worden ist. Auch der Verstand ist erforderlich gewesen. Ebenso braucht die Revolution beide, den Mann mit Muskeln und den Mann mit Verstand. Viele Leute bilden sich ein, daß allein der manuell Arbeitende die gesamte Arbeit der Gesellschaft ausführen kann. Das ist eine irrige Vorstellung, ein sehr schwerwiegender Irrtum, der dem Unrecht kein Ende machen wird. Diese Auffassung hat in der Tat bei früheren Gelegenheiten großen Schaden angerichtet, und es gibt gute Gründe für die Befürchtung, daß sie auch die besten Errungenschaften der Revolution zunichte machen könnte.
Die Arbeiterklasse setzt sich zusammen aus den Lohnempfängern in der Industrie und in der Landwirtschaft. Aber die Arbeiter brauchen die Dienste der Fachleute, der Manager, den Elektro- und Maschinenbauingenieur, den technischen Spezialisten, den Wissenschaftler, den Erfinder, den Chemiker, den Erzieher, den Arzt und den Chirurgen. Kurz gesagt, das Proletariat braucht unbedingt die Hilfe der Fachleute, ohne deren Kooperation eine produktive Arbeit nicht möglich ist. Die meisten dieser Fachleute gehören in Wirklichkeit auch zum Proletariat. Sie sind das intellektuelle Proletariat, das Proletariat des Verstandes. Es ist klar, daß es keinen Unterschied macht, ob man seinen Lebensunterhalt mit den Händen oder mit dem Kopf verdient. Tatsächlich wird keine Arbeit nur mit den Händen oder nur mit dem Kopf getan. Der Einsatz beider Arten der Arbeit wird bei jeder Aufgabe verlangt. Der Zimmermann muß beispielsweise im Laufe seiner Arbeit berechnen, messen und mit den Händen arbeiten; er muß seine Hände und seinen Kopf gebrauchen. Ebenso muß sich der Architekt seinen Plan ausdenken, bevor er ihn auf Papier zeichnen und in der Praxis verwenden kann.
„Aber nur die Arbeiter können produzieren“, wendet Ihr Freund ein, „Kopfarbeit ist unproduktiv.“ Falsch, mein Freund. Weder die manuelle Arbeit noch die Kopfarbeit kann etwas allein produzieren. Beide sind erforderlich, und zwar in Zusammenarbeit, um etwas hervorzubringen. Bauarbeiter und Maurer können die Fabrik ohne den Plan des Architekten nicht erbauen, genausowenig wie der Architekt eine Brücke ohne Eisen und Stahl errichten kann. Niemand von ihnen kann allein etwas produzieren. Aber beide zusammen können Wunder vollbringen. Verfallen Sie auch nicht dem irrigen Glauben, daß nur produktive Arbeit zählt. Es gibt viele Arten von Arbeit, die nicht unmittelbar produktiv sind, die aber nützlich und für unser Dasein und unseren Komfort sogar unbedingt notwendig und daher genauso wichtig wie produktive Arbeit sind.
Nehmen Sie zum Beispiel den Eisenbahningenieur und den Zugführer. Sie produzieren nichts, aber sie sind wesentliche Faktoren im Produktionssystem. Ohne die Eisenbahn und andere Transport- und Kommunikationsmittel könnten wir weder die Produktion noch den Vertrieb meistern.
Produktion und Vertrieb stellen die zwei Pole ein und derselben Lebensachse dar. Die für den einen Pol aufgewendete Arbeit ist genauso wichtig wie die für den anderen aufgewendete. Was ich oben gesagt habe, gilt für zahlreiche Arten menschlichen Tuns, das, obwohl es nicht direkt produktiv ist, eine wichtige Rolle in den mannigfaltigen Prozessen unseres Wirtschafts- und Gesellschaftslebens spielt. Der Wissenschaftler, der Erzieher, der Arzt und der Chirurg sind im technischen Sinne des Wortes nicht produktiv. Aber ihre Arbeit ist für unser Leben und unseren Wohlstand unbedingt nötig. Eine zivilisierte Gesellschaft könnte ohne sie nicht auskommen.
Es ist darum offensichtlich, daß, nützliche Arbeit gleichermaßen von Bedeutung ist, wird sie nun unter Mitwirkung des Verstandes oder der Muskeln, manuell oder iintellektuell erbracht. Auch ist es gleichgültig, ob man Gehalt oder Lohn empfängt, ob jemandem viel oder wenig gezahlt wird oder welche politischen oder anderen Ansichten jemand hat. Alle die Elemente, die nützliche Arbeit zum allgemeinen Wohlstand beitragen können, werden in der Revolution für den Aufbau eines neuen Lebens benötigt. Keine Revolution kann ohne ihre solidarische Zusammenarbeit erfolgreich sein, und je früher wir das einsehen desto besser. Die Neugestaltung der Gesellschaft umfaßt die Umorganisation der Industrie, das richtige Funktionieren der Produktion, die Leitung des Vertriebs und zahlreiche andere soziale, erzieherische und kulturelle Bemühungen, um die gegenwärtige Lohnsklaverei und Knechtschaft in ein Leben voller Freiheit und Wohlstand umzuwandeln. Nur wenn man Hand in Hand arbeitet, wird das Proletariat der Muskeln in der Lage sein, diese Probleme zu lösen.
Es ist höchst bedauerlich, daß eine Atmosphäre der Unfreundlichkeit oder sogar Feindschaft zwischen dem manuell und dem intellektuell Arbeitenden herrscht. Dieses Gefühl ist in dem Mangel an Verständnis, in Vorurteil und Engstirnigkeit auf beiden Seiten begründet. Traurigerweise muß zugegeben werden, daß in bestimmten Kreisen der Arbeiterschaft und sogar unter einigen Sozialisten und Anarchisten die Tendenz besteht, die Arbeiter gegen die Mitglieder des intellektuellen Proletariats aufzubringen. Solch ein Verhalten ist dumm und kriminell, da es dem Wachstum und der Entwicklung der sozialen Revolution nur schaden kann. Es war einer der verhängnisvollen Fehler der Bolschewisten in den ersten Phasen der russischen Revolution, daß sie die Lohnempfänger absichtlich gegen die Fachleute in einem solchen Ausmaß aufhetzten, daß eine freundschaftliche Zusammenarbeit unmöglich gemacht wurde. Ein unmittelbares Ergebnis dieser Politik war der Zusammenbruch der Industrie aus Mangel an geistiger Führung, ebenso wie der fast totale Ausfall der Eisenbahnverbindungen, weil es kein fachkundiges Management gab. Als Lenin sah, daß Rußland wirtschaftlich vor dem Ruin stand, weil die Fabrikarbeiter und Bauern das industrielle und landwirtschaftliche Leben des Landes nicht allein in Gang halten konnten, entschied er, die Hilfe der Fachleute in Anspruch zu nehmen. Er führte ein neues System ein, um die Techniker zur Hilfe beim Wiederaufbau zu bewegen. Aber diese Änderung kam fast zu spät, denn die vielen Jahre des gegenseitigen Hasses und der Verfolgung hatten eine so tiefe Kluft zwischen dem manuell und dem intellektuell Arbeitenden geschaffen, daß gegenseitiges Verständnis und Zusammenarbeit außerordentlich erschwert wurden. Rußland brauchte viele Jahre heroischer Anstrengungen, um die Auswirkungen dieses brudermörderischen Kriegs einigermaßen wieder gutzumachen.
Lassen Sie uns diese wichtige Lektion aus dem russischen Experiment lernen. „Aber die Fachleute gehören der Mittelklasse an“, wenden Sie ein, „und die sind bourgeois gesinnt.“ Richtig, Fachleute haben im allgemeinen eine bourgeoise Einstellung, aber sind nicht die meisten Arbeiter auch bourgeois gesinnt? Das heißt doch nur, daß beide in autoritären und kapitalistischen Vorurteilen verhaftet sind. Und gerade diese müssen durch Aufklärung und Erziehung der Leute, ob sie nun Hand- oder Geistesarbeiter sind, ausgerottet werden. Das ist der erste Schritt in der Vorbereitung der sozialen Revolution.
Es stimmt aber nicht, daß Fachleute als solche unbedingt der Mittelklasse angehören. Die wahren Interessen der sogenannten Intellektuellen liegen eher auf Seiten der Arbeiter als auf Seiten der Herren. Gewiß, die meisten unter ihnen erkennen das nicht. Aber der verhältnismäßig hochbezahlte Zugführer oder Eisenbahningenieur fühlt sich genauso wenig als Mitglied der Arbeiterklasse. Durch sein Einkommen und sein Verhalten gehört auch er zur Bourgeoisie. Aber nicht das Einkommen oder das Gefühl bestimmen, zu welcher Gesellschaftsschicht ein Mensch gehört. Wenn der Bettler auf der Straße sich vorstellt, ein Millionär zu sein, ist er dann einer?
Die Vorstellung eines Menschen darüber, was er ist, ändert nichts an seiner tatsächlichen Lage. Und die wirkliche Situation ist die, daß, wer immer seine Arbeit verkaufen muß, ein Arbeitnehmer, ein bezahlter Abhängiger, ein Lohnempfänger ist und damit liegen seine wahren Interessen auf Seiten der Arbeitnehmer, also gehört er zur Arbeiterklasse.
In Wirklichkeit ist der intellektuelle Proletarier noch viel mehr seinem kapitalistischen Herrn ausgeliefert als der Mann mit Spitzhacke und Schaufel. Der letztere kann leicht seinen Arbeitsplatz wechseln. Wenn er für einen bestimmten Boß nicht arbeiten will, dann kann er sich einen anderen suchen. Der intellektuell Arbeitende andererseits ist viel mehr von seinem speziellen ]ob abhängig. Sein Wirkungsbereich ist viel stärker begrenzt. Unerfahren in irgendeinem anderen Beruf und physisch unfähig, als Tagelöhner zu arbeiten, ist er (in der Regel) auf einen verhältnismäßig begrenzten Bereich der Architektur, des Ingenieurwesens, des Journalismus oder ähnlicher Arbeit beschränkt. Das liefert ihn stärker der Gnade seines Arbeitgebers aus und verleitet ihn, dessen Partei gegenüber seinen unabhängigeren Mitarbeitern an der Werkbank zu ergreifen.
Aber wie auch immer sich der bezahlte und abhängige Intellektuelle verhalten mag, er gehört der proletarischen Klasse an. Die Behauptung ist jedoch falsch, daß die Intellektuellen immer die Partei der Bosse gegen die Arbeiter ergreifen. „Im allgemeinen tun sie es“, höre ich irgendeinen radikalen Fanatiker ausrufen. Und die Arbeiter? Unterstützen sie denn nicht im allgemeinen die Bosse und das System des Kapitalismus? Könnte das System weiterhin ohne ihre Unterstützung existieren? Es wäre jedoch falsch, daraus zu folgern, daß die Arbeiter bewußt Hand in Hand mit ihren Ausbeutern arbeiten. Genausowenig trifft es für die Intellektuellen zu. Wenn die Mehrheit der letzteren auf der Seite der herrschenden Klasse steht, so liegt es an ihrer Unkenntnis in bezug auf gesellschaftliche Probleme und weil sie ihre eigenen Interessen trotz all ihrer „Intelligenz“ nicht erkannt haben. Ebenso helfen die großen Arbeitermassen, die sich ihrer wahren Interessen genauso wenig bewußt sind, den Bossen gegen ihre Mitarbeiter, manchmal sogar in demselben Beruf und in derselben Fabrik, ganz zu schweigen von dem Fehlen nationaler und internationaler Solidarität. Das beweist nur, daß der eine wie der andere, der Arbeiter nicht weniger als der intellektuelle Proletarier der Aufklärung bedürfen.
Um den Intellektuellen gerecht zu werden, wollen wir nicht vergessen, daß ihre besten Vertreter immer auf der Seite der Unterdrückten standen. Sie haben Freiheit und Emanzipation verteidigt, und oft waren sie die ersten, die die tiefsten Sehnsüchte der arbeitenden Massen aussprachen. In dem Kampf für Freiheit haben sie oft auf den Barrikaden Schulter an Schulter mit den Arbeitern gestanden und sind im Kampf für deren Sache gestorben. Wir brauchen nicht lange zu suchen, um das beweisen zu können. Es ist eine bekannte Tatsache, daß jede fortschrittliche, radikale und revolutionäre Bewegung der letzten hundert Jahre in bezug auf Gedanken und Ideen von den besten Elementen der intellektuellen Klassen inspiriert worden ist. Die Initiatoren und Organisatoren der revolutionären Bewegung, beispielsweise in Rußland vor einem Jahrhundert, waren Intellektuelle, Männer und Frauen nichtproletarischer Herkunft und Standeszugehörigkeit. Genausowenig war ihre Freiheitsliebe nur theoretischer Natur. Buchstäblich Tausende von ihnen widmeten ihr Wissen, ihre Erfahrung und ihr Leben dem Dienst der Massen. Es gibt nicht ein Land, wo nicht solche edlen Männer und Frauen ihre Solidarität mit den Enteigneten bewiesen haben, indem sie sich selbst der Wut und Verfolgung ihrer eigenen Klasse aussetzten, weil sie mit den Unterdrückten Hand in Hand arbeiteten. Die jüngste Geschichte genauso wie die der Vergangenheit ist voll von solchen Beispielen. Die Garibaldis, die Kossuths, die Liebknechts, Rosa Luxemburgs, die Landauers, die Lenins und die Trotzkis waren doch nichts anderes als Intellektuelle der Mittelklasse, die sich auf die Seite des Proletariats stellten. Die Geschichte jedes Landes und jeder Revolution erhält Glanz durch ihre uneigennützige Hingabe für die Freiheit und Arbeiterschaft.
Lassen Sie uns das nicht vergessen und uns nicht durch fanatische Vorurteile und grundlose Feindschaft blenden. Der Intellektuelle hat der Arbeiterklasse in der Vergangenheit große Dienste geleistet. Es wird von dem Verhalten der Arbeiter ihm gegenüber abhängen, in welchem Maße er in der Lage und bereit sein wird, zu der Vorbereitung und Verwirklichung der sozialen Revolution beizutragen.
Zuletzt aktualisiert am 17.10.2004