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Clara Zetkin, Für die Sowjetmacht, Artikel, Reden und
Briefe, Berlin 1977, S.242-245.
Kopiert mit Dank von der verschwundenen Webseite Marxistische Bubliothek.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Moskau
Verehrter, teurer Genosse Lenin!
Daß ich nach Ihnen über die russische Revolution sprechen soll, ist ein großes Wagnis, ja ein Stück Unverschämtheit. Ich würde es nicht tun, wenn ich mich nicht als guter Kommunist der Parteidisziplin fügte und die Meinung als richtig anerkennen muß, daß es für den Westen nützlich ist, wenn auch jemand von dort spricht. Radek sagte mir, daß er Ihnen die Druckbogen meines Anti-Levi gegeben habe, um Ihnen meine Einstellung zu der russischen Revolution und ihren wichtigsten Problemen zu zeigen. Ich will noch einen Gedankengang einfügen, den ich schon seinerzeit bei der Diskussion über den Revisionismus Bernsteins und Davids vertreten habe. Diese Herren meinten, das Proletariat könne vor der Eroberung der politischen Macht durch Arbeiterschutz etc. den Kapitalismus aushöhlen. Meiner Meinung nach kommt jedoch alles, was man als „Sozialreform“ zusammenfaßt, nicht in Betracht, um den Kapitalismus auszuhöhlen. Solange die Bourgeoisie die Macht hat, braucht sie die Sozialreform als ein Mittel, den kapitalistischen,Profit und die kapitalistische Klassenherrschaft zu sichern. Nach der Eroberung der politischen Macht, in der starken Faust des Proletariats gewinnt die Sozialreform eine andere Bedeutung. Sie ist ein Mittel, die Wirtschaft und Gesellschaft in der Richtung zum Kommunismus umzuwälzen. In diesem Zusammenhange spielen Gewerkschaften, Genossenschaften und andere proletarische Organisationen eine große Rolle, weil hinter ihnen die Staatsmacht als Sowjetordnung steht. Ein Vergleich zwischen den Dingen in Deutschland und Sowjetrußland gibt eine Probe auf das Exempel. In Sowjetrußland Sozialisierung der großen Industrie etc., in Deutschland Stinnesierung; in Sowjetrußland strengste Durchführung der Arbeitergesetzgebung, in Deutschland Zerbröckelung und Abbau etc. etc.
Hell wollte ich auch beleuchten die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats für die Durchführung der „neuen Politik“ für die Aufrechterhaltung der Sowjetmacht als deren Voraussetzung. Die „neue Politik“ ist nicht nur unter den in Rußland gegebenen Umständen unvermeidlich, sondern sie ist notwendig, um die Umwälzung zum Kommunismus durchzuführen. Mutatis mutandis wird das Proletariat auch in anderen Ländern nach der Eroberung der politischen Macht den sauren Weg der „neuen Politik“ gehen müssen, natürlich unter erheblich günstigeren Verhältnissen wie bei Euch. Die wichtigste Voraussetzung für die Durchführung der Diktatur und einer zielbewußten „neuen Politik“ bleibt das Verhältnis von Partei und Proletariat. Die Partei muß der Ausdruck bleiben des geschichtlichen Prozesses in seiner höchsten Potenz der Selbstverständigung, Selbstbewegung und Selbständigkeit des Proletariats. Das ist nur möglich bei geschlossener Ideologie, Organisation und strammer Disziplin. Eine besondere Bedeutung gewinnt in diesem Zusammenhange die klare, feste Herausarbeitung der kommunistischen Ideologie und ihre Übertragung auf die breitesten Massen, die Kräftigung und Ausgestaltung des Volksbildungswesens, das unabweisbare Korrelat der „neuen Politik“ sowohl für die wirtschaftstechnische Schulung der Massen wie [für] ihre Erziehung für den Kommunismus.
Summa summarum, meiner Meinung nach ist die russische Revolution, d.h. ihre Politik, der erste große weltgeschichtliche Versuch, den Marxismus von der Theorie zur Praxis zu erheben und dementsprechend „Geschichte“ zu machen. Trotz „Fehler“ und „Dummheiten“ – die Sie ja im einzelnen so verprügelt haben – sehe ich in Ihrer Linie kein zufälliges Zickzack, sondern eine konsequent festgehaltene gerade Linie. (Siehe Ihr Programm vom April 1917.) Ihr mußtet über das dort gesteckte Ziel hinausgehen, um zu verhindern, daß die russische Revolution hinter ihren Ausgangspunkt zurückgeworfen wurde. Meiner Ansicht nach gibt es keine Revolution, die wie die Eure schon im ersten Anlauf soweit über das Anfangsstadium des Realisierbaren hinausgekommen wäre.
Lieber Freund Lenin, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir vielleicht mit einem Wort mitteilen wollten, welche Seiten und Probleme Sie besonders behandeln wollen. Ich möchte nicht gern schlechter wiederholen, was Sie schon besser gesagt haben.
Mit herzlichsten Grüßen für Sie, Genossin Krupskaja und Ihre Schwestern
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Zuletzt aktualisiert am 19.7.2008