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Geschrieben Juni 1936.
Veröffentlicht in deutscher Sprache als Teil der Sammlung Wohin geht Frankreich? (Antwerpen, August 1936).
Transkription: Oliver Fleig.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Nie schien das Radio so kostbar wie in diesen Tagen. Es ermöglicht. aus dem fernen norwegischen Dorf den Pulsschlag der französischen Revolution zu verfolgen. Genauer wäre zu sagen: seine Widerspiegelung im Bewusstsein und in der Stimme der Herren Minister, Gewerkschaftssekretäre und anderer tödlich erschrockener Führer.
Die Worte „Französische Revolution“ mögen übertrieben erscheinen. Aber nein! Das ist keine Übertreibung. Just so entsteht die Revolution. Anders kann sie gar nicht entstehen. Die französische Revolution hat begonnen.
Freilich versichert Léon Jouhaux im Gefolge Léon Blums die Bourgeoisie, es handle sich um eine rein ökonomische Bewegung, streng im Rahmen des Gesetzes. Gewiss bemächtigen sich die Arbeiter während des Streiks der Fabriken und führen eine Kontrolle über den Eigentümer und seine Verwaltung ein. Aber über dies betrübliche „Detail“ kann man ein Auge zudrücken. Im Ganzen genommen sind es „korporative und nicht politische Streiks“, beteuern die Herren Führer. Inzwischen verändert sich unter der Wirkung der „nichtpolitischen“ Streiks gründlich die gesamte politische Lage im Lande. Die Regierung legt in ihren Handlungen eine Eile an den Tag, an die sie vorher nicht dachte: ist doch nach Blums Worten die wahre Kraft geduldig! Die Kapitalisten lassen überraschend leicht mit sich reden. Die gesamte Konterrevolution versteckt sich abwartend hinter Blums und Jouhaux Rücken. Und dies Wunder wurde vollbracht durch ... einfache „korporative“ Streiks. Wo stünden wir, wenn die Streiks politisch wären?
Aber nein, die Führer reden die Unwahrheit. Die Korporation umfasst die Arbeiter eines einzelnen Berufs und scheidet sie von den anderen Berufen. Der Tradeunionismus und der reaktionäre Syndikalismus sind aus Leibeskräften bemüht, die Arbeiterbewegung im korporativen Rahmen zu halten. Darauf beruht die faktische Diktatur der Gewerkschaftsbürokratie über die Arbeiterklasse (die schlimmste aller Diktaturen!) bei sklavischer Abhängigkeit der Jouhaux-Racamond-Clique vorn bürgerlichen Staat. Das Wesen der heutigen Bewegung besteht eben darin, dass sie den beruflichen, korporativen und lokalen Rahmen durchbricht und darüber hinweg die Forderungen, die Hoffnungen. den Willen des gesamten Proletariats kundgibt. Die Bewegung bekommt epidemieartigen Charakter. Die Seuche pflanzt sich fort von Fabrik zu Fabrik, von Korporation zu Korporation, von Gebiet zu Gebiet. Alle Schichten der Arbeiterklasse rufen sich gleichsam gegenseitig zu. Den Anfang machen die Metallarbeiter: das ist die Vorhut. Doch die Kraft der Bewegung will es, dass im kurzen Abstand nach der Vorhat die schweren Reserven der Klasse folgen, darunter auch die rückständigsten Berufe, ihre Nachhut, die die Herren Parlamentarier und Gewerkschaftsführer gewöhnlich ganz vergessen. Nicht von ungefähr gab der „Peuple“ offen zu, dass einige besonders niedrig bezahlte Kategorien der Pariser Bevölkerung für ihn eine vollkommene „Überraschung“ darstellten. Indes, gerade in der Tiefe dieser unterdrücktesten Schichten entspringen unversiegbare Quellen der Begeisterung, der Selbstaufopferung, der Tapferkeit. Die bloße Tatsache ihres Erwachens ist ein unfehlbares Anzeichen einer großen Flutwelle. Zu diesen Schichten gilt es Zugang finden, koste was es wolle!
Dadurch dass sich die Streikbewegung aus den korporativen und lokalen Rahmen losriss, wurde sie gefährlich nicht nur für die bürgerliche Gesellschaft, sondern auch für ihre eigenen parlamentarischen und gewerkschaftlichen Vertretungen, die jetzt vor allem besorgt sind, die Wirklichkeit nicht zu sehen. Einer historischen Legende zufolge antwortete einer der Höflinge auf die Frage Ludwig XVI. „Was ist das, eine Revolte?“, „Nein, Eure Hoheit, das ist die Revolution“. Heute antworten auf die Frage der Bourgeoisie: „Ist das eine Revolte?“ ihre Höflinge: „Nein, das sind nur Korporativstreiks“. Indem sie die Kapitalisten beruhigen, beruhigen BIum und Jouhaux sich selbst. Doch Worte werden nicht helfen. Zwar kann in dem Augenblick, wo diese Zeilen in der Presse erscheinen werden, die erste Welle sich legen. Äußerlich gesehen wird das Leben in die alten Ufer zurücktreten. Doch das ändert nichts an der Sache. Das was geschah, sind nicht Korporativstreiks. Das sind überhaupt nicht Streiks. Das ist ein Streik. Das ist der offene Zusammenschluss der Unterdrückten gegen die Unterdrücker. Das ist der klassische Anfang der Revolution.
Die ganze vergangene Erfahrung der Arbeiterklasse, die Geschichte ihrer Ausbeutung, Not. ihrer Kämpfe und Niederlagen wird unter dem Ansturm der Ereignisse lebendig und tritt jedem, selbst dein rückständigsten Proletarier ins Bewusstsein und stößt ihn in eine Reihe mit den anderen. Die ganze Klasse geriet in Bewegung. Diese gigantische Masse ist mit Worten nicht zurückzuhalten.
Der Kampf muss enden entweder mit dem größten aller Siege oder mit der fürchterlichsten aller Katastrophen.
Der Temps nannte den Streik „Generalmanöver der Revolution„. Das ist unvergleichlich ernster als das was Blum und Jouhaux sagen. Aber auch die Definition des Temps. ist gleichwohl unrichtig weil in gewissem Sinne übertrieben. Manöver setzen das Vorhandensein eines Kommandos, eines Stabes, eines Plans voraus. Das gibt es in dem Streik nicht. Die Zentren der Arbeiterorganisationen. darunter auch der Kommunistischen Partei, wurden überrumpelt. Sie fürchten am meisten, dass der Streik ihnen einen Strich durch alle ihre Rechnungen macht. Das Radio gibt einen bemerkenswerten Satz von Marcel Cachin wieder: „Wir alle – die einen wie die anderen – stehen vor der Tatsache des Streiks“. Mit anderen Worten: der Streik ist unser gemeinsames Unglück. Mit diesen Worten überzeugt der grimmige Senator die Kapitalisten, Zugeständnisse zu machen, um die Lage nicht zu verschärfen. Die Parlamentarier und Gewerkschaftssekretäre, die sich an den Streik von der Seite her anpassen, um ihn möglichst bald zu ersticken, stehen im Wesen außerhalb des Streiks, hängen in der Luft und wissen selber nicht, ob sie mit den Beinen oder mit dem Kopf am Boden landen werden. Einen revolutionären Stab hat die erwachte Masse noch nicht.
Der wirkliche Stab ist beim Klassenfeind. Dieser Stab fällt durchaus nicht mit der Regierung Blum zusammen, wenn er sie auch geschickt ausnutzt. Die kapitalistische Reaktion spielt heute ein großes und riskantes Spiel, aber sie spielt es mit Verstand. Im gegenwärtigen Augenblick greift sie zum Schlagdamesystem. „Geben wir heute all den unangenehmen Forderungen nach, die den einmütigen Beifall Blums, Jouhaux und Daladiers finden. Von der Anerkennung im Prinzip zur Verwirklichung ist ja noch ein weiter Weg. Da ist das Parlament, der Senat, die Kanzleien, alles Obstruktionsmaschinen. Die Massen werden Ungeduld an den Tag legen und versuchen, heftiger zu drücken. Daladier wird sich mit Blum entzweien. Thorez wird versuchen, nach links abzuspringen. Blum und Jouhaux werden sich mit den Massen entzweien. Dann werden wir alle heutigen Zugeständnisse zurückholen, sogar mit Wucher.“ So überlegt der wirkliche Stab der Konterrevolution: die berühmten „200 Familien“ und ihre Angriffsstrategen. Sie handeln nach einem Plan. Und es wäre leichtfertig zu sagen, dass ihr Plan unbegründet sei. Nein, mit Blums, Jouhaux’ und Cachins Hilfe kann die Konterrevolution ihr Ziel erreichen.
Die Tatsache, dass die Massenbewegung als Improvisation so grandiose Ausmasse und einen so großen politischen Effekt erzielt, charakterisiert am allerbesten den tiefen, organischen, wahrhaft revolutionären Charakter der Streikwelle. Darin liegt ein Pfand für die Dauer der Bewegung, für ihre Zähigkeit und die Unvermeidlichkeit einer Reihe wachsender Wellen. Ohne das wäre der Sieg unmöglich. Aber für den Sieg ist all dies ungenügend. Gegen den Stab und den Plan der „200 Familien“ bedarf es eines Stabs und Plans der proletarischen Revolution. Weder das eine noch das andere ist bereits vorhanden. Doch sie können geschaffen werden. Alle Voraussetzungen und Elemente einer neuen Massenkristallisierung sind gegeben.
Die Ausdehnung der Streiks ist, wird gesagt, hervorgerufen durch die „Hoffnungen“ auf die Volksfrontregierung. Das ist nur ein Viertel der Wahrheit oder gar noch weniger. Beschränkte sich die Sache nur auf Hoffnungen, so würden die Arbeiter das Risiko des Kampfes nicht laufen. Im Streik kommt vor allem das Misstrauen oder der Mangel an Vertrauen seitens der Arbeiter zum Ausdruck, wenn nicht dem guten Willen der Regierung, so ihrer Fähigkeit gegenüber, die Hindernisse niederzureißen und mit ihren Aufgaben zu Rande zu kommen. Die Proletarier wollen der Regierung „helfen“, aber auf ihre, auf proletarische Weise. Volles Bewusstsein ihrer Kraft ist bei ihnen natürlich noch nicht vorhanden. Es wäre aber eine grobe Karikatur, die Sache so darzustellen, als ließe sich die Masse nur von frommen „Hoffnungen“ auf Blum leiten. Es fällt ihr nicht leicht, die Gedanken beisammen zu halten unter dem Druck der alten Führer, die sich bemühen, sie so bald wie möglich in das alte Tretrad der Knechtschaft und der Routine zurückzujagen. Dennoch beginnt das französische Proletariat die Geschichte nicht von vorn. Der Streik brachte überall und allenthalben die denkendsten und kühnsten Arbeiter in vorderste Reihe. Ihnen gehört die Initiative. Sie handeln bislang vorsichtig, sie tasten den Boden ab. Die vordersten Abteilungen bemühen nicht zu weit vorzuspringen, um sich nicht zu isolieren. Der freundschaftliche Widerhall der Übrigen wird ihnen Mut gehen. Der Klassenappell verwandelt sich in die Probe einer Selbstmobilisierung. Das Proletariat selbst bedürfte am meisten dieser Kundgebung des eigenen Willens. Die erreichten praktischen Erfolge, so wacklig sie an sich auch sind, müssen außerordentlich das Selbstvertrauten der Massen erhöhen, besonders der rückständigsten und unterdrücktesten Schichten.
Die Haupteroberung der ersten Welle besteht darin, dass in den Werkstätten und Fabriken Führer hervortraten. Es entstanden die Elemente für lokale und bezirkliche Stäbe. Die Masse kennt sie. Sie kennen einander. Die echten Revolutionäre werden Verbindung mit ihnen suchen. So hat die erste Selbstmobilisierung der Massen die ersten Elemente der revolutionären Führung bezeichnet und zum TeiI herausgebildet. Der Streik hat den gigantischen Organismus der Klasse aufgerüttelt, belebt, erneuert. Die alte Organisationshülle ist noch längst nicht abgestreift, im Gegenteil, hält sich noch ziemlich fest. Doch unter ihr macht sich bereits die neue Haut bemerkbar.
Über das Tempo der Ereignisse, das sich unzweifelhaft beschleunigen wird. sprechen wir jetzt nicht. Hier ist es bislang nur möglich, zu vermuten und zu erraten. Die zweite Welle, ihre Dauer, ihr Umfang und ihre Spannung werden ohne Zweifel eine viel konkretere Prognose gestatten, als es jetzt angeht. Doch eins ist von vornherein klar: die zweite Welle wird bei weitem nicht denselben friedlichen, fast gutmütigen, frühlingsmäßigen Charakter tragen wie die erste. Sie wird reifer, zäher und strenger sein, weil hervorgerufen durch die Enttäuschung der Massen über die praktischen Resultate der Volksfrontpolitik und ihres eigenen ersten Angriffs. In der Regierung wird Uneinigkeit Platz greifen, desgleichen in der Parlamentsmehrheit. Die Konterrevolution wird plötzlich selbstsicherer und frecher werden. Neue leichte Erfolge werden die Massen nicht erwarten dürfen. Angesichts der Gefahr, zu verlieren, was erobert worden war, des wachsenden Widerstands des Feindes, der Schlappheit und Uneinigkeit der offiziellen Führung verspüren die Massen das brennende Bedürfnis nach einem Programm, einer Organisation, einem Plan, einem Stab. Darauf gilt es sich und die vorgeschrittenen Arbeiter vorzubereiten. In der Atmosphäre der Revolution werden die Umerziehung der Massen, die Auswahl der Kader und ihre Stählung schnell vor sich gehen.
Der revolutionäre Stab kann nicht durch Spitzenkombinationen entstehen. Die Kampforganisation würde mit der Partei selbst dann nicht zusammenfallen, wenn in Frankreich eine revolutionäre Massenpartei bestände, denn die Bewegung ist unvergleichlich breiter als die Partei. Die Organisation kann auch nicht mit den Gewerkschaften zusammenfallen, denn die Gewerkschaften erfassen nur einen unbedeutenden Teil der Klasse und an ihrer Spitze steht eine erzreaktionäre Bürokratie. Die neue Organisation muss der Natur der Bewegung selbst entsprechen, die kämpfenden Massen widerspiegeln, ihren sich erstarkenden Willen ausdrücken. Es handelt sich um eine unmittelbare Vertretung der revolutionären Klasse. Hier braucht man neue Formen nicht zu erfinden: es gibt geschichtliche Präzedenzfälle. Die Werkstätten und Fabriken werden ihre Deputierten wählen, die sich zwecks gemeinsamer Ausarbeitung der Kampfpläne und zur Kampfleitung versammeln. Den Namen dieser Organisation braucht man ebenfalls nicht zu erfinden, er lautet Sowjets der Arbeiterdeputierten.
Die Hauptmasse der revolutionären Arbeiter steht heute bei der Kommunistischen Partei. In der Vergangenheit riefen sie nicht selten: „Überall Sowjets!“ Die meisten von ihnen meinten es mit dieser Losung zweifellos ehrlich und ernst. Es gab eine Zeit, wo wir diese Losung für unzeitgemäß hielten. Jetzt aber hat sich die Lage von Grund auf geändert. Der mächtige Klassenzusammenprall geht einem schicksalsschweren Ende entgegen. Wer schwankt, wer Zeit verstreichen lässt, der ist ein Verräter. Es heißt wählen zwischen dem größten der geschichtlichen Siege und der fürchterlichsten der Niederlagen. Man muss den Sieg vorbereiten. „Überall Sowjets“? Einverstanden. Aber es ist Zeit, von den Worten überzugehen zur Tat.
Zuletzt aktualiziert am 22.7.2008