Leo Trotzki

 

Geschichte der russischen Revolution

Band 1: Februarrevolution

 

Kapitel 11:
Doppelherrschaft

Worin besteht das Wesen der Doppelherrschaft? Man darf an dieser Frage nicht vorbeigehen, deren Beleuchtung wir in der historischen Literatur bisher nicht begegnet sind. Indes ist die Doppelherrschaft ein eigenartiger Zustand der gesellschaftlichen Krise, der durchaus nicht nur für die russische Revolution von 1917 allein charakteristisch ist, wenn er auch hier am deutlichsten beobachtet werden konnte.

Antagonistische Klassen existierten in der Gesellschaft stets, und die von der Macht ausgeschlossene Klasse ist unvermeidlich bestrebt, den Staatskurs in diesem oder jenem Grade in ihre Richtung zu lenken. Das bedeutet jedoch noch keinesfalls, daß in der Gesellschaft eine Doppel- oder Vielherrschaft besteht. Der Charakter eines politischen Regimes wird unmittelbar bestimmt von dem Verhältnis der unterdrückten Klassen zu den herrschenden. Die Einzelherrschaft, die notwendige Bedingung der Widerstandsfähigkeit eines jeden Regimes, kann nur so lange bestehen, wie es der herrschenden Klasse gelingt, ihre ökonomischen und politischen Formen als die einzig möglichen der ganzen Gesellschaft aufzuzwingen.

Die gleichzeitige Herrschaft des Junkertums und der Bourgeoisie – in der hohenzollernschen oder in der republikanischen Form – ist, so stark zeitweilig die Konflikte zwischen den beiden Partnern der Macht auch sein mögen, noch keine Doppelherrschaft: sie haben eine gemeinsame soziale Basis, ihre Zusammenstöße drohen nicht den Staatsapparat zu spalten. Das Regime der Doppelherrschaft entsteht nur aus dem unversöhnlichen Zusammenprall der Klassen, ist demzufolge nur in einer revolutionären Epoche möglich und bildet eines ihrer wesentlichen Elemente.

Die politische Mechanik der Revolution besteht in dem Übergang der Macht von der einen Klasse zur anderen. Die gewaltsame Umwälzung an sich kommt gewöhnlich innerhalb einer kurzen Frist zustande. Aber keine historische Klasse erhebt sich aus der unterdrückten Lage zur herrschenden mit einem Male, sozusagen über Nacht, mag es auch die Nacht einer Revolution sein. Sie muß schon am Vorabend in bezug auf die offiziell herrschende Klasse eine höchst unabhängige Stellung eingenommen haben; mehr noch, sie muß die Hoffnungen der Zwischenklassen und -schichten, der mit dem Bestehenden Unzufriedenen, aber für eine selbständige Rolle Unfähigen, auf sich konzentriert haben. Die historische Vorbereitung einer Umwälzung führt in der vorrevolutionären Periode zu einer Situation, in der die Klasse, die das neue Gesellschaftssystem zu verwirklichen berufen ist, ohne bereits Herr im Lande zu sein, faktisch einen bedeutenden Teil der Staatsmacht in Händen hält, während der offizielle Staatsapparat noch im Besitz der alten Machthaber verbleibt. Dieses ist der Ausgangspunkt der Doppelherrschaft in einer jeden Revolution.

Doch das ist nicht ihre einzige Form. Falls die neue Klasse, die durch die Revolution, die sie nicht gewollt, an die Macht gestellt wird, eine alte, historisch verspätete Klasse ist; falls sie sich etwa vor ihrer offiziellen Krönung verbraucht hat; falls sie, zur Macht gekommen, ihren Widerpartner bereits hinreichend reif, den Arm nach dem Staatssteuer ausgestreckt, vorfindet, – dann führt die politische Umwälzung zum Ersatz der einen Doppelherrschaft mit sehr schwankendem Gleichgewicht durch eine andere, mitunter noch weniger widerstandsfähige. Im Siege über die „Anarchie“ der Doppelherrschaft besteht eben auf jeder neuen Etappe die Aufgabe der Revolution oder – der Konterrevolution.

Die Doppelherrschaft setzt die Teilung der Macht in gleiche Hälften oder überhaupt irgendein formales Gleichgewicht der beiden Mächte nicht nur nicht voraus, sondern schließt sie, allgemein gesprochen, völlig aus. Das ist keine konstitutionelle, sondern eine revolutionäre Tatsache. Sie beweist, daß die Störung des sozialen Gleichgewichts den Staatsüberbau bereits gespalten hat. Eine Doppelherrschaft entsteht dort, wo feindliche Klassen sich bereits ihrem Wesen nach miteinander nicht zu vereinbarende staatliche Organisationen stützen – eine im Ableben und eine im Entstehen begriffene –, die auf dem Gebiet der Staatsleitung einander auf jedem Schritt bedrängen. Der Teil der Macht, der hierbei jeder der kämpfenden Klassen zufällt, wird vom Kräfteverhältnis und dem Gang des Kampfes bestimmt.

Ein solcher Zustand kann seinem ganzen Wesen nach nicht beständig sein. Die Gesellschaft verlangt Konzentration der Macht und strebt in Gestalt der herrschenden Klasse, oder in diesem Falle. der zwei halbherrschenden Klassen, unversöhnlich dahin. Die Spaltung der Macht kündet nichts anderes an als den Bürgerkrieg. Jedoch bevor sich die rivalisierenden Klassen und Parteien zu diesem entschließen, können sie, besonders wenn sie die Einmischung einer dritten Macht fürchten, gezwungen sein, das System der Doppelherrschaft ziemlich lange zu dulden und sogar gewissermaßen zu sanktionieren. Aber doch wird es unvermeidlich gesprengt werden. Der Bürgerkrieg verleiht der Doppelherrschaft einen augenfälligen, und zwar einen territorialen Ausdruck: indem sich jede Macht einen befestigten Punkt schafft, führt sie den Kampf um das übrige Territorium, das nicht selten eine Doppelherrschaft in Form des aufeinanderfolgenden Einfalls der beiden kriegführenden Mächte erduldet, bis eine von ihnen sich endgültig festsetzt.

Die englische Revolution des 17. Jahrhunderts zeigt, gerade weil sie eine große Revolution war, die die Nation bis in die Tiefen aufwühlte, ein deutliches Abwechseln von Doppelherrschaftregimes, mit scharfen Übergängen von dem einen zum anderen, in Form des Bürgerkrieges.

Zuerst stehen der Königsmacht, die sich auf die privilegierten Klassen oder die Oberschichten dieser Klassen, Aristokraten und Bischöfe, stützt, Bourgeoisie und dieser nahestehende Schichten des kleinen Landadels gegenüber. Die Regierung der Bourgeoisie ist das Presbyterianer-Parlament, das sich auf die Londoner City stützt. Der andauernde Kampf dieser zwei Regimes wird im offenen Bürgerkrieg entschieden. Zwei Regierungszentren, London und Oxford, schaffen sich ihre Armeen, die Doppelherrschaft nimmt eine territoriale Form an, wenn auch die territorialen Abgrenzungen, wie stets im Bürgerkriege, sehr schwankend sind. Das Parlament obsiegt. Der König ist gefangen und harrt seines Geschicks.

Es könnte scheinen, die Bedingungen für die Einzelherrschaft der presbyterianischen Bourgeoisie seien im Entstehen. Aber bevor noch die Königsmacht gebrochen ist, verwandelt sich die Armee des Parlaments in eine selbständige politische Kraft. Sie vereinigt in ihren Reihen die Independenten, fromme und entschlossene Kleinbürger, Handwerker und Ackerbauer. Die Armee mischt sich machtvoll in das öffentliche Leben ein, aber nicht einfach als bewaffnete Gewalt, auch nicht als Prätorianergarde, sondern als politische Vertretung einer neuen Klasse, die sich der reichen und wohlhabenden Bourgeoisie entgegenstellt Dementsprechend schafft die Armee ein neues Staatsorgan, das sich über das militärische Kommando erhebt: den Rat der Soldaten und Offiziersdeputierten („Agitatoren“). Es beginnt eine neue Periode der Doppelherrschaft: die des presbyterianischen Parlaments und der Independenten-Armee. Die Doppelherrschaft führt zum offenen Zusammenstoß. Die Bourgeoisie erweist sich als ohnmächtig, der „mustergültigen Armee“ Cromwells, das heißt den bewaffneten Plebejern, eine eigene Armee entgegenzustellen; Der Konflikt endet mit einer Säuberung des presbyterianischen Parlaments mit Hilfe des Independentensäbels. Vom Parlament bleibt nur Spreu, es wird die Diktatur Cromwells errichtet. Die unteren Schichten der Armee versuchen unter Leitung der Leveller, des äußersten linken Flügels der Revolution, der Herrschaft der militärischen Spitzen, der Granden der Armee ihr eigenes, wahrhaft plebejisches Regime entgegenzustellen. Doch die neue Doppelherrschaft kommt nicht zur Entwicklung: die Levellers, die untere Schicht der Kleinbürger, haben noch keinen eigenen historischen Weg und können ihn auch noch nicht haben. Cromwell wird mit den Gegnern bald fertig. Es entsteht für eine Reihe von Jahren ein neues, allerdings keinesfalls widerstandsfähiges politisches Gleichgewicht.

In der großen Französischen Revolution konzentriert die Konstituierende Versammlung, deren Rückgrat die oberste Schicht des dritten Standes ist, die Macht in ihren Händen, jedoch ohne dem König seine Vorrechte völlig zu nehmen. Die Periode der Konstituierenden Versammlung ist die Periode scharfer Doppelherrschaft, die mit der Flucht des Königs nach Varennes endet und formell erst mit der Gründung der Republik liquidiert wird.

Die erste französische Konstitution (1791), aufgebaut auf der Fiktion der voneinander völlig unabhängigen gesetzgebenden und ausführenden Gewalt, verschleierte in Wirklichkeit, oder suchte vor dem Volke zu verschleiern, die tatsächliche Doppelherrschaft: der Bourgeoisie, die sich nach der Einnahme der Bastille durch das Volk endgültig in der Nationalversammlung verschanzt hatte, und der alten Monarchie, die sich noch auf die Spitzen des Adels, des Klerus, der Bürokratie und der Militärs stützte, nicht zu reden von ihren Hoffnungen auf eine ausländische Intervention. In diesem widerspruchsvollen Regime lag die Unvermeidlichkeit seines Zusammenbruchs. Ein Ausweg konnte nur gefunden werden entweder in der Vernichtung der bürgerlichen Vertretung mit den Kräften der europäischen Reaktion oder in der Guillotine für den König und die Monarchie. Paris und Koblenz mußten ihre Kräfte messen.

Aber noch bevor es zu Krieg und Guillotine kommt, tritt auf die Bühne die Pariser Kommune, die sich auf die unteren Schichten des dritten Standes der Stadt stützt und den offiziellen Vertretern der bürgerlichen Nation die Herrschaft immer kühner streitig macht. Es entsteht eine neue Doppelherrschaft, deren erste Äußerungen wir bereits im Jahre 1790 wahrnehmen, zu einer Zeit, wo die Mittel- und Großbourgeoisie noch in Administrationen und Munizipalitäten festsitzt. Welch erstaunliches – und gleichzeitig niedrig verleumdetes! – Bild der Bemühungen der plebejischen Schichten, aus der Tiefe emporzusteigen, aus den sozialen Kellern und Katakomben, und jene verbotene Arena zu betreten, wo Menschen in Perücken und Culotten die Schicksale der Nation entscheiden. Es schien, als sei das Fundament selbst, getreten von den Füßen der aufgeklärten Bourgeoisie, lebendig geworden und in Bewegung geraten; aus der formlosen Masse erhoben sich menschliche Häupter, streckten sich schwielige Hände in die Höhe, heisere, aber mutige Stimmen wurden vernehmbar! Die Pariser Distrikte, die Bastarde der Revolution, begannen ihr eigenes Leben zu leben. Sie wurden anerkannt – sie nicht anzuerkennen war unmöglich! – und in Sektionen umgewandelt. Aber unentwegt rissen sie die Schranken der Legalität nieder, erhielten Zustrom frischen Blutes von unten und öffneten, dem Gesetz zuwider, den Entrechteten, Armen, den Sansculotten Zutritt in ihre Reihen. Gleichzeitig bieten die Landmunizipalitäten dem bäuerlichen Aufstand Deckung gegen die bürgerliche Gesetzlichkeit, die den Feudalbesitz begönnert. So erhebt sich unter den Füßen der zweiten Nation die dritte.

Die Pariser Sektionen verhielten sich anfangs der Kommune gegenüber, in der noch die ehrenwerte Bourgeoisie herrschte, oppositionell. Durch einen kühnen Vorstoß eroberten die Sektionen sie am 10. August 1792. Von nun an bildete die revolutionäre Kommune einen Gegensatz zur Gesetzgebenden Versammlung und später zum Konvent, die beide hinter dem Gang und den Aufgaben der Revolution zurückblieben, die die Ereignisse registrierten, aber nicht machten, weil sie nicht die Energie, die Kühnheit, die Einmütigkeit jener neuen Klasse besaßen, die inzwischen aus den Tiefen der Pariser Distrikte aufgestiegen war und einen Stützpunkt in den zurückgebliebensten Dörfern gefunden hatte. In gleicher Weise, wie die Sektionen die Kommune eroberten, eroberte die Kommune durch einen neuen Aufstand den Konvent. Jede dieser Etappen war von der scharf umrissenen Doppelherrschaft charakterisiert, deren beide Flügel bestrebt waren, eine einheitliche und starke Macht aufzurichten, der rechte Flügel auf dem Wege der Verteidigung, der linke auf dem des Angriffes. Das sowohl die Revolution wie die Konterrevolution kennzeichnende Bedürfnis nach einer Diktatur entspringt den unerträglichen Widersprüchen der Doppelherrschaft. Ihr Übergang von einer Form zur anderen wird auf dem Wege des Bürgerkrieges vollzogen. Große Revolutionsetappen, das heißt Verschiebungen der Macht an neue Klassen oder Schichten, fallen dabei ganz und gar nicht zusammen mit den Zyklen der Vertretungskörperschaften, die hinter der Dynamik der Revolution einherschreiten als verspätete Schatten. Zwar verschmilzt schließlich die revolutionäre Diktatur der Sansculotten mit der Diktatur des Konvents – aber welches? –, des durch die Hand des Terrors von den Girondisten, die noch gestern ihn beherrschten, gesäuberten, beschnittenen, der Herrschaft der neuen sozialen Kraft angepaßten Konvents. So erhebt sich über die Stufen der Doppelherrschaft im Laufe von vier Jahren die Französische Revolution zu ihrem Höhepunkt. Mit dem 9. Thermidor beginnt sie wiederum über die Stufen der Doppelherrschaft hinabzusteigen. Und wieder geht der Bürgerkrieg dem Abstieg voran, wie er früher den Aufstieg begleitete. So sucht die neue Gesellschaft ein neues Gleichgewicht der Kräfte.

Die russische Bourgeoisie, die gegen die Rasputinsche Bürokratie kämpfte und gleichzeitig mit ihr zusammenarbeitete, hatte im Kriege ihre politischen Positionen sehr stark gefestigt. Indem sie die Niederlagen des Zarismus ausbeutete, konzentrierte sie mittels der Semstwo- und Stadtverbände und der Kriegsindustriekomitees eine bedeutende Macht in ihren Händen, verfügte selbständig über gewaltige Staatsmittel und stellte im Grunde genommen eine Parallelregierung dar. Während des Krieges beklagten sich die zaristischen Minister, Fürst Lwow versorge die Armee, ernähre und heile sie und errichte sogar Friseurgeschäfte für Soldaten. „Man muß damit Schluß machen oder aber die ganze Macht in seine Hände geben“, sagte schon 1915 Minister Kriwoschejin. Er hat damals noch nicht geahnt, daß Fürst Lwow nach anderthalb Jahren tatsächlich „die ganze Macht“ bekommen würde, nur nicht aus den Händen des Zaren, sondern aus denen Kerenskis, Tschcheidses und Suchanows. Doch am Tage nachdem dies geschehen war, entstand eine neue Doppelherrschaft: neben der gestrigen liberalen Halbregierung, heute formell gesetzlichen, erwuchs die inoffizielle, aber um so realere Regierung der werktätigen Massen in Gestalt der Sowjets. Mit diesem Augenblick beginnt die Russische Revolution ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung zu werden.

Worin besteht nun die Eigenart der Doppelherrschaft der Februarrevolution? Bei den Ereignissen des 17. und 18. Jahrhunderts bildete die Doppelherrschaft jedesmal eine natürliche Kampfetappe, die sich den Beteiligten durch das zeitliche Kräfteverhältnis aufdrängte, wobei jede der Parteien bestrebt war, die Doppelherrschaft durch die eigene Einzelherrschaft zu ersetzen. In der Revolution von 1917 sehen wir, wie die offizielle Demokratie die Doppelherrschaft bewußt und vorbedacht schafft und sich mit allen Kräften dagegen stemmt, die Macht allein zu übernehmen. Die Doppelherrschaft entsteht – so mag es auf den ersten Blick scheinen – nicht als Resultat des Kampfes der Klassen um die Macht, sondern als Resultat des freiwilligen „Abtretens“ der Macht durch die eine Klasse an die andere. Insofern die russische „Demokratie“ einen Ausweg aus der Doppelherrschaft suchte, sah sie ihn im eigenen Rücktritt von der Macht. Ebendieses nannten wir das Paradoxon der Februarrevolution.

Eine gewisse Analogie kann man eventuell in dem Verhalten der deutschen Bourgeoisie in bezug auf die Monarchie im Jahre 1848 finden. Doch ist diese Analogie nicht vollständig. Die deutsche Bourgeoisie wollte zwar um jeden Preis auf der Grundlage einer Verständigung die Macht mit der Monarchie teilen, doch war sie nicht restlos im Besitze der Macht und wollte sie auch keinesfalls völlig der Monarchie abtreten. „Die preußische Bourgeoisie war nomineller Besitzer der Herrschaft, sie zweifelte keinen Augenblick, daß die Mächte des alten Staates ohne Hinterhalt sich ihr zu Gebote gestellt und in ebenso viele devote Ableger ihrer eigenen Allmacht verwandelt hätten“ (Marx und Engels). Die russische Demokratie von 1917, die seit dem ersten Augenblick des Umsturzes die ganze Macht innehatte, strebte nicht einfach danach, sie mit der Bourgeoisie. zu teilen, sondern dieser den Staat vollständig auszuliefern. Das könnte wohl bedeuten, daß die offizielle russische Demokratie im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts Zeit gehabt hatte, sich politisch stärker zu zersetzen als die deutsche liberale Bourgeoisie der Mitte des 19. Es ist dies auch völlig gesetzmäßig, denn es bildet die Kehrseite jenes Aufstieges, den in diesen Jahrzehnten das Proletariat erlebte, das den Platz der Handwerker Cromwells und der Sansculotten Robespierres eingenommen hat.

Betrachtet man aber die Sache tiefer, so zeigt die Doppelherrschaft der Provisorischen Regierung und des Exekutivkomitees den Charakter einer bloßen Widerspiegelung. Prätendent auf die neue Macht konnte nur das Proletariat sein. Zaghaft sich auf die Arbeiter und Soldaten stützend, waren die Versöhnler gezwungen, der doppelten Buchführung der Zaren und der Propheten Beihilfe zu leisten. Die Doppelherrschaft der Liberalen und Demokraten spiegelte nur die vorläufig unterirdische Doppelherrschaft der Bourgeoisie und des Proletariats wider. Wenn die Bolschewiki die Versöhnler von der Spitze der Sowjets verdrängen werden – was nach einigen Monaten geschieht –, dann wird die unterirdische Doppelherrschaft nach außen dringen, und dies wird der Vorabend der Oktoberrevolution sein. Bis zu diesem Augenblick wird die Revolution in der Welt politischer Widerspiegelungen leben. Sich durch die Kannegießerei der sozialistischen Intelligenz brechend, verwandelte sich die Doppelherrschaft aus einer Etappe des Klassenkampfes in eine regulative Idee. Gerade das stellte sie ins Zentrum der theoretischen Diskussion. Nichts geht verloren. Der widerspiegelnde Charakter der Februar-Doppelherrschaft erlaubte uns, jene Etappen der Geschichte besser zu verstehen, in denen die Doppelherrschaft als vollblütige Episode im Kampfe zweier Regime hervortritt. So ermöglicht das reflektierte und kraftlose Licht des Mondes, wichtige Schlußfolgerungen über das Sonnenlicht zu machen.

In der unermeßlich höheren Reife des russischen Proletariats bestand eben, verglichen mit den Stadtmassen der alten Revolutionen, die grundlegende Eigenart der Russischen Revolution, die anfangs zum Paradoxon einer halb gespenstischen Doppelherrschaft geführt und dann den Abschluß der realen Doppelherrschaft zugunsten der Bourgeoisie verhindert hat. Denn die Frage stand so: entweder erobert die Bourgeoisie tatsächlich den alten Staatsapparat und erneuert ihn für ihre eigenen Ziele, wobei die Sowjets verschwinden müssen, oder die Sowjets werden zur Grundlage eines neuen Staates, wobei sie nicht nur den alten Apparat, sondern auch die Herrschaft jener Klassen, denen er gedient, liquidieren. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre hielten den Kurs auf die erste Lösung. Die Bolschewiki auf die zweite. Die unterdrückten Klassen, denen es, nach Marats Worten, in der Vergangenheit an Wissen, Fertigkeit und Führung gefehlt hat, um das von ihnen begonnene Werk zu Ende zu bringen, waren in der Russischen Revolution des 20. Jahrhunderts mit dem einen, dem anderen und dem dritten ausgerüstet. Es siegten die Bolschewiki.

Ein Jahr nach ihrem Siege wiederholte sich die gleiche Frage, bei einem anderen Kräfteverhältnis, in Deutschland. Die Sozialdemokratie hielt den Kurs auf Errichtung der demokratischen Macht der Bourgeoisie und Liquidierung der Sowjets. Luxemburg und Liebknecht nahmen den Weg auf die Diktatur der Sowjets. Es siegten die Sozialdemokraten. Hilferding und Kautsky m Deutschland, Max Adler in Österreich schlugen vor, Demokratie und Sowjetsystem zu „kombinieren“ und die Arbeitersowjets in die Verfassung einzubeziehen. Das hätte bedeutet, den potentiellen oder offenen Bürgerkrieg in einen Bestandteil des Staatsregimes zu verwandeln. Eine kuriosere Utopie läßt sich nicht ausdenken. Zu ihrer einzigen Rechtfertigung dient in deutschen Landen vielleicht die alte Tradition: schon die Württemberger Demokraten von 1848 wollten eine Republik mit einem Herzog an der Spitze.

Widerspricht die Erscheinung der Doppelherrschaft, bisher nicht genügend bewertet, der Marx’schen Staatstheorie, die die Regierung als das Exekutivkomitee der herrschenden Klasse ansieht? Das wäre dasselbe, als wollte man sagen: widerspricht das Schwanken der Preise unter dem Einfluß von Nachfrage und Angebot der Werttheorie? Widerlegt die Selbstaufopferung des Weibchens, das sein Junges verteidigt, die Theorie vom Kampf ums Dasein? Nein, in diesen Erscheinungen finden wir nur eine komplizierte Kreuzung der gleichen Gesetze. Wenn der Staat die Organisation der Klassenherrschaft ist, die Revolution aber die Ablösung der herrschenden Klasse, so muß der Übergang der Macht von der einen Klasse zur anderen notwendigerweise widerspruchsvolle Staatszustände schaffen, vor allem in Form der Doppelherrschaft. Das Verhältnis der Klassenkräfte ist keine mathematische Größe, die sich von vornherein berechnen läßt. Wenn das alte Regime aus dem Gleichgewicht geschleudert ist, kann das neue Verhältnis der Kräfte sich nur als Resultat ihrer gegenseitigen Nachprüfung im Kampf ergeben. Das eben ist die Revolution.

Es könnte scheinen, daß diese theoretische Exkursion uns von den Ereignissen des Jahres 1917 abgelenkt hat. In Wirklichkeit führt sie uns zu ihrem innersten Kern. Gerade um das Problem der Doppelherrschaft drehte sich der dramatische Kampf der Parteien und Klassen. Nur von der theoretischen Warte herab kann man sie ganz übersehen und richtig begreifen.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003