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Der Aufstand hatte gesiegt. Aber wem übergab er die der Monarchie entrissene Macht? Hier kommen wir zum zentralen Problem des Februarumsturzes: wie und weshalb geriet die Macht in die Hände der liberalen Bourgeoisie?
Den am 23. Februar begonnenen Unruhen maßen die Dumakreise und die bürgerliche „Gesellschaft“ keine Bedeutung bei. Die liberalen Deputierten und die patriotischen Journalisten versammelten sich wie sonst in den Salons, diskutierten über Triest und Fiume und betonten immer wieder die Bedeutung der Dardanellen für Rußland. Während der Ukas über die Auflösung der Duma bereits unterschrieben war, beriet die Dumakommission noch immer dringlich die Frage der Übergabe des Ernährungswesens an die städtische Selbstverwaltung. Weniger als zwölf Stunden vor dem Aufstande der Gardebataillone hörte die „Gesellschaft Slawischer Gemeinschaft“ friedlich den Jahresbericht an. „Erst als ich aus dieser Versammlung zu Fuß heimkehrte“, erwähnt einer der Deputierten, „verblüffte mich irgendeine unheimliche Stille und Leere in den sonst so belebten Straßen.“ Eine unheimliche Leere bildete sich um die alten herrschenden Klassen und beklemmte auch schon die Herzen der morgigen Nachfolger.
Am 26. wurde der Ernst der Bewegung sowohl der Regierung wie den Liberalen klar. An diesem Tage werden zwischen Ministern und Dumamitgliedern Verhandlungen über ein Abkommen geführt, dessen Schleier die Liberalen auch später nie gelüftet haben. Protopopow gab bei seiner Vernehmung an, die Führer des Dumablocks hätten, wie zuvor, die Ernennung neuer Minister aus Personen, die das Vertrauen der Gesellschaft genießen, gefordert. „Diese Maßnahme würde das Volk vielleicht beruhigen.“ Doch der 26. brachte, wie uns bekannt, eine gewisse Stockung in der Entwicklung der Revolution, und die Regierung fühlte sich für einen kurzen Moment fester. Als Rodsjanko bei Golizyn erschien, um ihn zum Rücktritt zu bewegen, wies der Premier als Antwort auf eine auf dem Tisch liegende Mappe hin, die das fertige Dekret über die Dumaauflösung enthielt, mit der Unterschrift Nikolaus’, aber ohne Datum. Das Datum trug Golizyn ein. Wie konnte sich die Regierung im Augenblick des wachsenden Druckes der Revolution zu einem solchen Schritt entschließen? Darüber hatte sich bei der regierenden Bürokratie schon längst eine feste Konzeption herausgebildet: „Ob wir mit dem Block gehen werden oder nicht, das ist der Arbeiterbewegung gegenüber belanglos. Mit dieser Bewegung kann man mit anderen Mitteln fertigwerden, und bisher ist das Ministerium des Innern mit ihr noch immer fertiggeworden.“ So sprach Goremykin schon im August 1915. Andererseits rechnete die Bürokratie damit, daß die Duma im Falle einer Auflösung sich zu keinerlei kühnen Schritten entschließen würde. Der Innenminister, Fürst Schtscherbatow, sagte, gleichfalls schon im August 1915, als die Auflösung der unzufriedenen Duma erwogen wurde: „Die Dumamitglieder werden sich wohl kaum zu offenem Ungehorsam entschließen. Sind sie doch in ihrer übergroßen Mehrzahl Feiglinge, die um ihre Haut zittern.“ Der Fürst drückte sich nicht sehr wählerisch, aber schließlich und endlich doch treffend aus. Im Kampfe gegen die liberale Opposition fühlte die Bürokratie also hinlänglich festen Boden unter den Füßen.
Am Morgen des 27. versammelten sich die durch die anwachsenden Ereignisse beunruhigten Deputierten zur fälligen Sitzung. Die Mehrzahl erfuhr erst hier, daß die Duma aufgelöst sei. Das war um so unerwarteter gekommen, als noch am Vorabend friedliche Verhandlungen geführt worden waren. „Trotzdem“, schreibt mit Stolz Rodsjanko, „unterwarf sich die Duma dem Gesetz, immer noch hoffend, einen Ausweg aus der verwickelten Lage zu finden; sie faßte keinerlei Beschlüsse darüber, etwa, nicht auseinanderzugehen oder gewaltsam zur Sitzung zusammenzukommen.“ Die Deputierten versammelten sich zu einer Privatberatung, in der sie sich gegenseitig ihre Ohnmacht beichteten. Nicht ohne Schadenfreude erinnerte später der gemäßigte Liberale Schidlowski an den durch den linken Kadetten Nekrassow, den späteren Kampfgenossen Kerenskis, eingebrachten Antrag: „Errichtung einer militärischen Diktatur durch Übertragung der gesamten Macht auf einen populären General.“ Währenddessen unternahmen die Hauptlenker des progressiven Blocks, die bei der Privatberatung der Duma fehlten, einen praktischen Rettungsversuch; Sie machten dem nach Petrograd herbeigerufenen Großfürsten Michail den Vorschlag, die Diktatur zu übernehmen, den Ministerrat zur Demission zu „zwingen“ und vom Zaren über die direkte Leitung die „huldvolle“ Ernennung eines verantwortlichen Ministeriums zu fordern. In den Stunden, wo die ersten Garderegimenter sich erhoben, machten die Führer der liberalen Bourgeoisie den letzten Versuch, mit Hilfe einer dynastischen Diktatur den Aufstand zu unterdrücken und gleichzeitig auf Kosten der Revolution eine Verständigung mit der Monarchie zu treffen. Die „Unentschlossenheit des Großfürsten“, beklagt sich Rodsjanko, „trug dazu bei, daß der günstige Moment verpaßt wurde.“
Wie leicht die radikale Intelligenz an das, was sie ersehnte, geglaubt hat, bezeugt der parteilose Sozialist Suchanow, der zu jener Zeit im Taurischen Palais eine gewisse politische Rolle zu spielen begann. „Man teilte mir die hervorragendste politische Neuigkeit der Morgenstunden dieses unvergeßlichen Tages mit“, erzählt er in seinen umfangreichen Erinnerungen, „das Dekret über die Dumaauflösung sei veröffentlicht, und die Duma habe es mit der Weigerung, auseinanderzugehen, beantwortet und ein Provisorisches Komitee gewählt.“ Das schreibt ein Mann, der das Taurische Palais fast nicht verlassen hat und dort. die bekannten Deputierten bei den Köpfen festhielt. Gleich Rodsjanko erklärt Miljukow in seiner Geschichte der Revolution kategorisch „Es wurde dort nach einer Reihe heißer Reden beschlossen, nicht aus Petrograd abzureisen, keinesfalls aber ist der Beschluß gefaßt worden, die Reich-Duma als Institution dürfe nicht auseinandergehen, wie die entstandene Legende lautet.“ „Nicht auseinanderzugehen“ hätte bedeutet, irgendeine wenn auch verspätete Initiative zu ergreifen. „Nicht abzureisen“ bedeutete, die Hände in Unschuld zu waschen und abzuwarten, welche Richtung die Ereignisse nehmen würden. Für die Vertrauensseligkeit Suchanows gibt es allerdings mildernde Umstände. Das Gerücht, die Duma habe den revolutionären Beschluß gefaßt, sich dem Zarenukas zu widersetzen, wurde in aller Hast von den Dumajournalisten durch ihr Informationsbulletin verbreitet, der damals infolge des Streiks einzigen Publikation. Da der Aufstand im Laufe des Tages gesiegt hatte, beeilten sich die Deputierten keinesfalls, den Irrtum richtigzustellen, sondern unterstützten die Illusionen ihrer „linken“ Freunde: an die Feststellung der Wahrheit gingen sie erst in der Emigration. Eine scheinbar nebensächliche, doch äußerst bedeutsame Episode. Die revolutionäre Rolle der Duma am Tage des 27. Februar war eine vollkommene Mythe, geboren aus der politischen Leichtgläubigkeit der radikalen Intellektuellen, die die Revolution erfreut und erschreckt hatte und die den Glauben an die Fähigkeit der Massen, die Sache zu Ende zu führen, nicht besaßen und bestrebt waren, so schnell wie möglich bei der Großbourgeoisie Anschluß zu finden.
In den Memoiren der Deputierten, die der Dumamehrheit angehörten, ist glücklicherweise ein Bericht darüber erhalten geblieben, wie die Duma der Revolution begegnete. Nach der Erzählung des Fürsten Mansyrew, eines rechten Kadetten, befanden sich unter den Deputierten, die sich am 27. in großer Zahl versammelt hatten, weder Mitglieder des Präsidiums noch Parteiführer noch Häupter des progressiven Blocks: diese wußten bereits von der Dumaauflösung und vom Aufstande und zogen es vor, so lange wie möglich den Kopf nicht herauszustecken; außerdem führten sie anscheinend gerade in diesen Stunden Verhandlungen mit dem Großfürsten Michail über die Diktatur. „In der Duma herrschte allgemeine Verwirrung und Kopflosigkeit“, sagt Mansyrew. „Selbst die erregten Debatten verstummten, statt dessen vernahm man nur Seufzer und kurze Repliken, wie etwa: „Weit ist’s gekommen“, oder aber offene Angsteingeständnisse um die eigene Person.“ So berichtet ein gemäßigter Deputierter, der lauter als alle anderen geseufzt hat. Schon gegen die zweite Stunde, als die Führer gezwungen waren in der Duma zu erscheinen, brachte der Sekretär des Präsidiums die frohe, aber unbegründete Botschaft: „Die Unruhen werden bald unterdrückt sein, es sind Maßnahmen getroffen.“ Es ist möglich, daß mit den Maßnahmen die Verhandlungen über die Diktatur gemeint waren. Doch die Duma ist bedrückt und wartet auf das erlösende Wort des Führers des progressiven Blocks. „Wir können im Augenblick schon allein deshalb keine Entschließungen treffen“, erklärte Miljukow, „weil uns das Ausmaß der Unruhen ebensowenig bekannt ist wie die Tatsache, auf wessen Seite die Mehrheit der Petrograder Truppen, der Arbeiter und der öffentlichen Organisationen steht. Man muß genaue Auskünfte über all dies einziehen und erst dann die Lage besprechen, jetzt ist es verfrüht.“ Um 2 Uhr mittags am 27. Februar ist es dem Liberalismus noch immer „verfrüht“! „Auskunft einziehen“ bedeutete, sich die Hände waschen und den Ausgang des Kampfes abwarten. Aber Miljukow hatte seine Rede noch nicht beendet, die er übrigens begonnen hatte, um mit nichts zu enden, als Kerenski in höchster Erregung in den Saal hereinstürzte: Gewaltige Volks- und Soldatenmengen ziehen zum Taurischen Palais, verkündete er, sie wollen die Duma auffordern, die Macht zu übernehmen! ... Der radikale Deputierte weiß genau, was die gewaltigen Volksmassen fordern. In Wirklichkeit ist er es selbst, Kerenski, der zum erstenmal verlangt, daß die Duma, die im stillen noch immer auf eine Unterdrückung des Aufstandes hofft, die Macht übernehme. Die Mitteilung Kerenskis ruft „allgemeines Erstaunen und ratlose Blicke“ hervor. Aber noch ist er nicht fertig, als ihn ein in hellem Schrecken hereinstürmender Dumadiener unterbricht: Die vordersten Reihen der Soldaten ständen vor dem Palais, die Wache an der Einfahrt habe ihnen den Zutritt verweigert, der Chef der Wache sei schwer verwundet. Eine Minute nachher ergibt sich, die Soldaten sind bereits im Palais. Später wird man in Reden und Artikeln erzählen, die Soldaten seien gekommen, die Duma zu begrüßen und ihr den Eid abzulegen. Im Augenblick aber ist alles in tödlicher Panik. Das Wasser steht an der Kehle. Die Führer tuscheln. Man muß Zeit gewinnen. In aller Eile stellt Rodsjanko den ihm eingeflüsterten Antrag, ein Provisorisches Komitee zu wählen. Zustimmende Rufe. Aber alle möchten sich schnellstens aus dem Staube machen, ihr Sinn steht nicht nach Wahlen. Der nicht minder als die anderen erschrockene Vorsitzende schlägt vor, den Ältestenrat mit der Bildung des Komitees zu beauftragen. Wiederum zustimmende Rufe einiger noch im Saale Verbliebener: die Mehrzahl ist bereits verschwunden. Das war die erste Reaktion der vom Zaren aufgelösten Duma auf den Sieg des Aufstandes.
Inzwischen schuf die Revolution im selben Gebäude, aber in seinem weniger prunkvollen Teil, ein anderes Organ. Die revolutionären Führer brauchten es nicht zu erfinden. Die Erfahrung der Sowjets von 1905 hatte sich für immer ins Bewußtsein der Arbeiter eingeprägt. Bei jedem Aufstieg der Bewegung, sogar im Kriege, lebte fast automatisch die Idee der Sowjets auf. Und obwohl das Verständnis für die Rolle der Sowjets bei Bolschewiki und Menschewiki verschieden tief war – die Sozialrevolutionäre entbehrten überhaupt beständiger Einstellungen –, war es, als ob die Form der Organisation selbst außerhalb jeder Diskussion stünde. Die aus dem Gefängnis befreiten Menschewiki, Mitglieder des Kriegsindustrie-Komitees, trafen sich im Taurischen Palais mit Führern der Gewerkschaften und der Kooperativen des gleichen rechten Flügels, wie auch mit den menschewistischen Dumadeputierten Tschcheidse und Skobeljew, und bildeten an Ort und Stelle ein provisorisches Exekutivkomitee des Sowjets der Arbeiterdeputierten, das im Laufe des Tages hauptsächlich durch ehemalige Revolutionäre ergänzt wurde, die zwar die Verbindung mit den Massen verloren, aber doch einen „Namen“ behalten hatten. Das Exekutivkomitee, das auch Bolschewiki in seinen Bestand einbezog, rief die Arbeiter auf, unverzüglich Deputierte zu wählen. Die erste Sitzung war für den Abend im Taurischen Palais anberaumt. Sie fand tatsächlich um 9 Uhr abends statt; sie sanktionierte die Zusammensetzung des Exekutivkomitees und ergänzte dieses durch offizielle Vertreter aller sozialistischen Parteien. Doch nicht hierin lag die Bedeutung der ersten Versammlung der Vertreter des siegreichen Proletariats der Hauptstadt. In der Sitzung traten Delegierte der aufständischen Regimenter mit Begrüßungsworten auf Unter ihnen waren auch die grauen Soldaten, denen die Revolution gleichsam Kontusionen beigebracht hatte und die noch kaum die Zunge bewegen konnten. Gerade sie aber fanden Worte, die kein Tribun zu finden vermocht hätte. Das war eine der pathetischsten Szenen der Revolution, die nun ihre Kraft zu fühlen begann, die Unzählbarkeit der erwachten Massen, die Grandiosität der Aufgaben, den Stolz auf die eigenen Erfolge, den jubelnden Herzensschauer vor dem morgigen Tag, der noch herrlicher werden müsse als der heutige. Die Revolution entbehrt noch ihres Rituals, die Straße liegt noch im Rauch, die Massen wissen die neuen Lieder noch nicht, die Sitzung verläuft in Unordnung, uferlos wie ein Fluß bei Hochwasser, der Sowjet verschluckt sich am eigenen Enthusiasmus. Die Revolution ist bereits mächtig, aber noch von kindlicher Naivität.
In dieser ersten Sitzung wird beschlossen, die Garnison und die Arbeiter zu einem gemeinsamen Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten zu vereinigen. Wer schlug diesen Beschluß zuerst vor? Er wird von verschiedenen, oder richtiger gesagt, von allen Seiten gekommen sein, als Widerhall jener Verbrüderung zwischen Arbeitern und Soldaten, die an diesem Tage das Schicksal der Revolution entschieden hat. Dabei muß jedoch vermerkt werden, daß, nach den Worten Schljapnikows, die Sozialpatrioten anfänglich gegen das Hineinziehen der Armee in die Politik protestiert hatten. Vom Moment seiner Entstehung an beginnt der Sowjet in Gestalt des Exekutivkomitees als Regierungsmacht zu handeln. Er wählt eine provisorische Ernährungskommission und überträgt ihr die Sorge um die Aufständischen und um die Garnison überhaupt. Er stellt an seine Seite einen provisorischen revolutionären Stab – alles heißt in diesen Tagen provisorisch –, von dem wir bereits gesprochen haben. Um die Finanzmittel der Verfügung der Beamten der alten Regierung zu entziehen, beschließt der Sowjet, Reichsbank, Reichsschatzamt, Münze und Ausgabestelle für Staatspapiere sofort durch revolutionäre Wachen zu besetzen. Die Aufgaben und die Funktionen des Sowjets wachsen unter dem Druck der Massen ununterbrochen. Die Revolution bekommt ihr unbestreitbares Zentrum. Die Arbeiter, Soldaten und bald auch die Bauern werden sich von nun an nur noch an den Sowjet wenden – er wird in ihren Augen der Mittelpunkt aller Hoffnungen und aller Behörden, die Verkörperung der Revolution selbst sein. Doch auch Vertreter der besitzenden Klasse werden, wenn auch zähneknirschend, beim Sowjet Schutz, Weisungen und Entscheidung bei Konflikten suchen.
Jedoch schon in den ersten Stunden des Sieges, als die neue Revolutionsgewalt sich mit märchenhafter Schnelligkeit und unüberwindlicher Kraft herausbildete, blickten jene Sozialisten, die an die Spitze des Sowjets gelangt waren, besorgt um sich, auf der Suche nach dem echten „Herrn“. Sie betrachteten es als selbstverständlich, daß die Macht an die Bourgeoisie übergehen müsse. Hier beginnt die Verknüpfung des wichtigsten politischen Knotens des neuen Regimes: einer der Fäden führt in das Zimmer des Exekutivkomitees der Arbeiter und Soldaten, der andere in den Raum, wo das Zentrum der bürgerlichen Parteien sitzt.
Um 3 Uhr nachmittags, als der Sieg in der Hauptstadt schon völlig feststand, wählte der Ältestenrat aus den Parteien des progressiven Blocks unter Hinzuziehung von Tschcheidse und Kerenski das „Provisorische Komitee der Dumamitglieder“. Tschcheidse lehnte ab, Kerenski wand sich hin und her. Der Name des Komitees wies vorsorglich darauf hin, daß es sich nicht um ein offizielles Organ der Reichsduma handle, sondern um ein privates Organ zur Beratung der Dumamitglieder. Die Führer des progressiven Blocks hatten nur eine Frage zu Ende gedacht: wie sich vor Verantwortung schützen, ohne sich die Hände zu binden. Die Aufgabe des Komitees war mit sorgfältiger Zweideutigkeit formuliert worden: „Herstellung der Ordnung, und Verkehr mit Ämtern und Personen.“ Kein Wort davon, welche Ordnung die Herren herzustellen und mit welchen Ämtern sie zu verkehren gedachten. Sie streckten den Arm noch nicht offen nach dem Fell des Bären aus: wie, wenn er noch nicht ganz tot, sondern nur schwer verwundet ist? Erst am 27. Februar um 11 Uhr abends, erst als – nach dem Eingeständnis Miljukows – „der ganze Umfang der revolutionären Bewegung sichtbar wurde, entschloß sich das Provisorische Komitee, einen weiteren Schritt zu tun um die Macht, die den Händen der Regierung entfallen war, in seine Hände zu nehmen“. Unmerklich verwandelte sich das neue Organ aus einem Komitee der Dumamitglieder in ein Komitee der Duma: zur Sicherung der staatsrechtlichen Nachfolge gibt es kein besseres Mittel als die Fälschung. Aber Miljukow verschweigt die Hauptsache: die Führer des im Laufe des Tages gebildeten Exekutivkomitees hatten bereits Zeit gefunden, sich zum Provisorischen Komitee zu begeben und dieses dringendst zu ersuchen, die Macht zu übernehmen. Dieser freundschaftliche. Stoß hatte seine Wirkung. Nachträglich legte Miljukow den Entschluß des Dumakomitees dahin aus, daß die Regierung sich angeblich anschickte, zuverlässige Truppen gegen die Aufständischen zu entsenden, „und es drohte in den Straßen der Hauptstadt zu wahren Schlachten zu kommen“. In Wirklichkeit verfügte die Regierung schon über keinerlei Truppen mehr, der Umsturz war bereits vollzogen. Rodsjanko schrieb später: „Die Duma wäre“, hätte sie die Übernahme der Macht abgelehnt, „in ihrer Gesamtheit von den meuternden Truppen verhaftet und niedergemacht worden und die Herrschaft sogleich an die Bolschewiki übergegangen.“ Das ist natürlich eine sinnlose Übertreibung, ganz im Geiste des achtbaren Kammerherrn; jedoch spiegelt sie unverfälscht die Stimmung der Duma wider, die die Einhändigung der Macht als einen Akt politischer Vergewaltigung empfand.
Bei dieser Stimmung fiel ein Beschluß nicht leicht. Besonders heftig schwankte Rodsjanko, immer die andern aushorchend: „Was wird es sein – Aufruhr oder kein Aufruhr?“ Der monarchistische Deputierte Schulgin antwortete ihm, nach seiner eigenen Wiedergabe: „Es gibt keinerlei Aufruhr. Nehmen Sie als getreuer Untertan ruhig an ... wenn die Minister davongelaufen sind, muß sie doch jemand ersetzen ... Es sind zwei Auswege möglich: alles wird sich zum Guten wenden, der Kaiser wird eine neue Regierung ernennen und wir ihm die Macht zurückgeben. Wird sich’s aber nicht zum Guten wenden, dann werden, wenn wir sie nicht nehmen, andere die Macht ergreifen, jene, die bereits irgendwelche Schufte in den Fabriken gewählt haben ...“ Man braucht an den Pöbeleien des reaktionären Gentleman gegen die Arbeiter keinen Anstoß zu nehmen: die Revolution hat diesen Herren fest auf den Fuß getreten. Die Moral ist klar: siegt die Monarchie, – werden wir zu ihr stehen, siegt die Revolution, – wollen wir uns bemühen, sie zu bestehlen.
Die Beratung währte lange. Die demokratischen Führer warteten erregt auf den Beschluß. Endlich trat Miljukow aus dem Zimmer Rodsjankos heraus. Er hatte ein feierliches Aussehen. An die Sowjetdelegation herantretend, verkündete er: „Der Entschluß ist gefaßt, wir übernehmen die Macht“ ... „Ich fragte nicht, wer ist das – wir“, schreibt begeistert Suchanow, „ich fragte nichts mehr. Doch fühlte ich sozusagen mit meinem ganzen Wesen die neue Lage. Ich fühlte, wie das Schiff der Revolution, durch die Willkür der Naturgewalten in dieser Stunde von den Böen hin und her geworfen, seine Segel hochrichtete und Widerstandsfähigkeit und Gesetzmäßigkeit inmitten des furchtbaren Sturmes und Schwankens wiedergewann.“ Welch geschraubte Form für das prosaische Bekenntnis sklavischer Abhängigkeit der kleinbürgerlichen Demokratie vom kapitalistischen Liberalismus! Und welch mörderisches Verkennen der politischen Perspektive: die Übergabe der Macht an die Liberalen wird dem Staatsschiff nicht nur keine Widerstandsfähigkeit verleihen, sondern, im Gegenteil, sie wird von Stund an die Quelle der Herrschaftslosigkeit der Revolution, des größten Chaos, der Erbitterung der Massen, des Zusammenbruchs der Front und späterhin der äußersten Erbitterung des Bürgerkrieges.
Blickt man zurück auf vergangene Jahrhunderte, erscheint einem die Tatsache der Machtübernahme durch die Bourgeoisie hinlänglich gesetzmäßig: in allen früheren Revolutionen kämpften auf den Barrikaden Arbeiter, Handwerksgehilfen, zum Teil auch Studenten, Soldaten gingen zu ihnen über, die Macht aber nahm dann die solide Bourgeoisie an sich, die, unter Wahrung aller Vorsicht, den Barrikadenkampf von den Fenstern aus verfolgt hatte. Die Februarrevolution von 1917 jedoch unterscheidet sich von allen früheren Revolutionen durch einen unvergleichlich höheren sozialen Charakter und hohes politisches Niveau der revolutionären Klasse, durch das feindselige Mißtrauen der Aufständischen gegen die liberale Bourgeoisie, demzufolge im Augenblick des Sieges ein neues revolutionäres Machtorgan erstand: der Sowjet, der sich auf die bewaffnete Gewalt der Massen stützte. Unter diesen Umständen verlangt der Übergang der Macht in die Hände der politisch isolierten und unbewaffneten Bourgeoisie eine Erklärung.
Vor allem muß man das Kräfteverhältnis näher besehen, das sich als Ergebnis des Umsturzes herausgebildet hatte. Vielleicht war die Sowjetdemokratie kraft der objektiven Umstände gezwungen, zugunsten der Großbourgeoisie auf die Macht zu verzichten? Die Bourgeoisie selbst war nicht dieser Ansicht. Wir wissen bereits, daß sie von der Revolution nicht nur die Macht nicht erwartet hatte, sondern im Gegenteil in ihr eine tödliche Gefahr für die eigene soziale Lage voraussah. Die gemäßigteren Parteien haben die Revolution nicht nur nicht gewollt“, schrieb Rodsjanko, „sie haben sich vor ihr einfach gefürchtet. Insbesondere war die Partei der Volksfreiheit („Kadetten“), die auf dem linken Flügel der gemäßigten Gruppen stand und die meisten Berührungspunkte mit den revolutionären Parteien des Landes hatte, durch die heranrückende Katastrophe mehr als alle anderen beunruhigt.“ Die Erfahrung von 1905 sagte den Liberalen eindringlich genug, daß der Sieg der Arbeiter und Bauern sich für die Bourgeoisie nicht weniger gefahrvoll gestalten kann als für die Monarchie. Man sollte meinen, der Gang des Februaraufstandes hätte diese Voraussicht nur bekräftigen können. So ungeformt in vieler Hinsicht die politischen Ideen der revolutionären Massen in jenen Tagen auch sein mochten, so war doch die Trennungslinie zwischen den Werktätigen und der Bourgeoisie unversöhnlich gezogen.
Der den liberalen Kreisen nahestehende Privatdozent Stankewitsch, kein Feind, sondern ein Freund des progressiven Blocks, charakterisiert in folgenden Zügen die Stimmung der liberalen Kreise am zweiten Tage nach dem Umsturz, den zu verhindern sie nicht vermocht hatten: „Offiziell feierte und rühmte man die Revolution, schrie den Freiheitskämpfern „Hurra“ zu, schmückte sich mit roten Bändern und marschierte unter roten Fahnen ... Aber im Innern, in Gesprächen untereinander, war man entsetzt, erschüttert, fühlte man sich gekettet an ein feindliches Element, das irgendeinen unbekannten Weg ging. Unvergeßlich bleibt die Figur Rodsjankos, dieses massigen und vornehmen Herrn, als er unter Wahrung seiner erhabenen Würde, aber mit dem erstarrten Ausdruck tiefen Leidens und der Verzweiflung auf dem blassen Gesicht, in den Korridoren des Taurischen Palais durch die Haufen ausgelassener Soldaten schritt. Offiziell hieß es: „die Soldaten sind gekommen, die Duma in ihrem Kampfe gegen die Regierung zu unterstützen“, faktisch aber war die Duma seit dem ersten Tage erledigt. Der gleiche Ausdruck war auf den Gesichtern aller Mitglieder des Provisorischen Dumakomitees und jener Kreise, die sie umgaben. Man sagt, Vertreter des progressiven Blocks hätten zu Hause vor ohnmächtiger Verzweiflung hysterisch geweint.“ Dieses lebendige Zeugnis ist wertvoller als alle soziologischen Untersuchungen über das Kräfteverhältnis. Nach seinem eigenen Bericht erschauerte Rodsjanko vor ohnmächtiger Empörung beim Anblick dessen, als irgendwelche Soldaten, „unbekannt auf wessen Befehle, Verhaftungen von Würdenträgern des alten Regimes vornahmen und diese in die Duma brachten. Der Kammerherr geriet in die Rolle eines Gefängnischefs in bezug auf Menschen, mit denen er zwar gewisse Meinungsverschiedenheiten hatte, die aber für ihn immerhin Menschen seines Kreises blieben. Der ob dieser „Willkür“ niedergeschmetterte Rodsjanko lud den verhafteten Schtscheglowitow in sein Arbeitszimmer ein, die Soldaten weigerten sich entschieden, den ihnen verhaßten Würdenträger auszuliefern. „Als ich meine Autorität durchzusetzen versuchte“, erzählt Rodsjanko, „bildeten die Soldaten einen Kreis um ihren Gefangenen und zeigten mit herausfordernden frechen Mienen auf ihre Gewehre; dann wurde Schtscheglowitow ohne weiteres irgendwohin abgeführt.“ Kann man krasser die Worte Stankewitschs bestätigen, wonach die Regimenter, die angeblich zur Unterstützung der Duma gekommen waren, diese in Wirklichkeit erledigten?
Daß die Macht von der ersten Stunde an bei dem Sowjet war, darüber konnten die Dumamitglieder weniger als sonst jemand im Zweifel sein. Der Oktobristen-Deputierte Schidlowski, einer der Führer des progressiven Blocks, schreibt in seinen Erinnerungen: „Vom Sowjet wurden alle Post- und Telegraphenämter besetzt, das Radio, alle Petrograder Bahnhöfe, alle Druckereien, so daß man ohne seine Erlaubnis weder ein Telegramm abschicken, noch aus Petrograd verreisen, noch einen Aufruf drucken konnte.“ Diese unzweideutige Charakteristik des Kräfteverhältnisses muß man nur in einer Hinsicht klären: die „Eroberung“ der Post- und Telegraphenämter, der Eisenbahnen, Druckereien und so weiter durch den Sowjet bedeutet nur, daß die Arbeiter und Angestellten dieser Betriebe sich keinem, außer dem Sowjet, unterwerfen wollten. Die Klage Schidlowskis wird, wie es besser nicht möglich ist, durch eine Episode illustriert, die sich in der Hitze der Verhandlungen über die Regierung zwischen den Führern des Sowjets und der Duma abspielte. Die gemeinsame Sitzung wurde durch die dringende Mitteilung unterbrochen, Rodsjanko werde aus Pskow, wo sich nach seinen Irrfahrten auf den Eisenbahnstrecken der Zar nun befand, an die direkte Telephonleitung gerufen. Der allmächtige Dumavorsitzende erklärte, er wolle nicht allein zum Telegraphenamt fahren. „Die Herren Arbeiter- und Soldatendeputierten mögen mir einen Schutz mitgeben oder mit mir fahren, sonst wird man mich dort im Telegraphenamt verhaften.“ – „Nun ja! Ihr habt die Macht und die Gewalt“, fuhr er aufgeregt fort, „ihr könnt mich natürlich verhaften lassen ... Vielleicht werdet ihr uns alle verhaften, wir wissen es nicht!“ ... Dies geschah am 1. März, kaum 48 Stunden nachdem das Provisorische Komitee, an dessen Spitze Rodsjanko stand, die Macht „übernommen“ hatte.
Wie aber kamen unter diesen Umständen die Liberalen dennoch zur Regierung? Wer – und was – hatte sie ermächtigt, eine Regierung zu bilden als Resultat jener Revolution, die sie gefürchtet, der sie entgegengewirkt und die sie zu unterdrücken gesucht hatten, die von den ihnen feindlichen Massen vollzogen worden war, und zwar mit solcher Entschiedenheit und Kühnheit, daß der Sowjet der Arbeiter und Soldaten, der aus dem Aufstand hervorging, als natürlicher und unbestrittener Herr der Lage erschien?
Hören wir jetzt die andere Seite an, jene, die die Macht abgegeben hat. „Das Volk neigte keinesfalls zur Duma“, schreibt Suchanow über die Februartage, „es interessierte sich nicht für sie und dachte nicht daran, sie – politisch oder technisch – zum Zentrum der Bewegung zu machen.“ Dieses Geständnis ist um so beachtenswerter, als sein Autor in den nächsten Stunden alle seine Kräfte darauf verwenden wird, dem Komitee der Reichsduma die Macht auszuleiern. „Miljukow begriff vortrefflich“, sagt ferner Suchanow über die Verhandlungen vom 1. März, „daß es vollständig in der Macht des Exekutivkomitees stand, der Regierung der Großbourgeoisie die Gewalt zu übertragen oder sie ihr nicht zu übertragen.“ Kann man sich kategorischer ausdrücken? Kann eine politische Situation klarer gekennzeichnet sein? Und trotzdem erklärt Suchanow in völligem Widerspruch zur Situation und zu sich selbst: „Eine Macht, die den Zarismus ablöst, kann nur eine bürgerliche Macht sein ... Auf diese Lösung muß der Kurs gehalten werden. Andernfalls wird der Umsturz mißlingen und die Revolution zugrunde gehen.“ Die Revolution wird zugrunde gehen – ohne Rodsjanko!
Das Problem des lebendigen Verhältnisses der sozialen Kräfte wird hier durch ein vorgefaßtes Schema und eine ausgeklügelte Terminologie ersetzt: das eben ist der Kern des intellektuellen Doktrinarismus. Und wir werden später sehen, daß dieser Doktrinarismus keinesfalls platonischer Art war: er erfüllte eine vollkommen reale politische Funktion, wenn auch mit verbundenen Augen.
Wir haben nicht zufällig Suchanow zitiert. In dieser ersten Periode war der Inspirator des Exekutivkomitees nicht dessen Vorsitzender, Tschcheidse, ein ehrlicher und beschränkter Provinzler, sondern eben Suchanow, einer, der allgemein gesprochen, für die revolutionäre Führung am wenigsten geeignet war. Halb-Narodnik, Halb-Marxist, eher gewissenhafter Beobachter als Politiker, mehr Journalist als Revolutionär, mehr Räsoneur als Journalist, war er nur fähig, sich so lange an eine revolutionäre Konzeption zu halten, bis es hieß, sie in die Tat umzusetzen. Passiver Internationalist während des Krieges, entschied er am ersten Tage der Revolution, man müsse so schnell wie möglich die Macht und den Krieg der Bourgeoisie zuschieben. Theoretisch, das heißt mindestens seinem Bedürfnis, wenn nicht der Befähigung nach, eine Sache mit der anderen zu verbinden, stand er über den damaligen Mitgliedern des Exekutivkomitees. Doch seine Hauptkraft bestand in der Fähigkeit, die organischen Züge dieser bunten und trotzdem einheitlichen Sippe in die Sprache des Doktrinarismus zu übersetzen: Unglaube an die eigenen Kräfte; Angst vor der Masse und hochmütig-ehrfurchtsvolles Verhältnis zur Bourgeoisie. Lenin nannte Suchanow einen der besten Vertreter Kleinbürgertums. Das ist aber auch das Schmeichelhafteste, was man über ihn sagen kann.
Man darf nun nicht vergessen, daß es dabei vor allem um das Kleinbürgertum eines neuen kapitalistischen Typs geht: um die Handels-, Industrie- und Bankangestellten, um die Beamten des Kapitals einerseits und um die Arbeiterbürokratie andererseits, das heißt um jenen neuen Mittelstand, in dessen Namen der nicht unbekannte deutsche Sozialdemokrat Eduard Bernstein Ende des vorigen Jahrhunderts eine Revision der revolutionären Konzeption von Marx unternahm. Um die Frage zu beantworten, wie die Arbeiter- und Bauernrevolution die Macht an die Bourgeoisie abgetreten hat, muß man in die politische Kette ein Zwischenglied einführen: die kleinbürgerlichen Demokraten und Sozialisten vom Typ Suchanows, die Journalisten und Politiker des neuen Mittelstandes, die die Massen lehrten, daß die Bourgeoisie der Feind sei, sich aber selbst am meisten davor fürchteten, die Massen vom Kommando dieses Feindes zu lösen. Der Widerspruch zwischen dem Charakter der Revolution und dem Charakter der aus ihr entstandenen Regierung ist mit dem widerspruchsvollen Charakter der neuen kleinbürgerlichen Schicht zu erklären, die zwischen den revolutionären Massen und der kapitalistischen Bourgeoisie stand. Im Verlauf der weiteren Ereignisse der Revolution wird sich uns die politische Rolle der kleinbürgerlichen Demokratie des neuen Typs ganz erschließen. Vorläufig begnügen wir uns mit wenigen Worten.
Am Aufstand beteiligt sich unmittelbar die Minderheit der revolutionären Klasse, wobei die Kraft dieser Minderheit darin besteht, daß die Mehrheit sie unterstützt, mindestens mit ihr sympathisiert. Aus der aktiven und kampfbereiten Minderheit treten unter dem feindlichen Feuer unvermeidlich die revolutionärsten und aufopferungsfähigsten Elemente hervor. Es ist natürlich, daß in den Februarkämpfen die bolschewistischen Arbeiter an erster Stelle standen. Die Lage verändert sich aber mit dem Siege, und zwar in dem Augenblick, wo seine politische Festigung beginnt. Zu den Wahlen für die Organe und Institutionen der siegreichen Revolution werden aufgerufen und strömen herbei unermeßlich breitere Massen als jene, die mit der Waffe in der Hand gekämpft hatten. Das bezieht sich nicht nur auf allgemein demokratische Institutionen, wie Stadtduma und Semstwo, oder später die Konstituierende Versammlung, sondern auch auf Klassenorgane, wie die Sowjets der Arbeiterdeputierten. Die überwältigende Mehrzahl der Arbeiter, Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Parteilosen unterstützte die Bolschewiki im Augenblick des unmittelbaren Zusammenpralls mit dem Zarismus. Jedoch begriff nur eine kleine Minderheit der Arbeiter, worin sich die Bolschewiki von den anderen sozialistischen Parteien unterschieden. Gleichzeitig aber zogen alle Arbeiter eine scharfe Trennungslinie zwischen sich und der Bourgeoisie. Das entschied die politische Situation nach dem Siege. Die Arbeiter wählten Sozialisten, das heißt solche, die nicht nur gegen die Monarchie, sondern auch gegen die Bourgeoisie waren. Sie machten dabei fast keinen Unterschied zwischen den drei sozialistischen Parteien. Da aber die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre über unvergleichlich größere Intellektuellen-Kader verfügten, die ihnen von allen Seiten zuströmten und eine riesige Reserve von Agitatoren stellten, ergaben die Wahlen, sogar in Fabriken und Betrieben, ein großes Übergewicht der Menschewiki und Sozialrevolutionäre.
In der gleichen Richtung, nur mit noch unermeßlich größerer Kraft, ging der Druck der erwachten Armee. Am fünften Tage des Aufstands schloß die Petrograder Garnison sich den Arbeitern an. Nach dem Siege sollte sie berufen sein, die Sowjets zu wählen. Vertrauensvoll gaben die Soldaten ihre Stimmen jenen, die für die Revolution und gegen die monarchistischen Offiziere waren und dies laut auszusprechen vermochten: das waren Einjährig-Freiwillige, Schreiber, Feldscher, junge Kriegsoffiziere aus Intellektuellenkreisen, kleine Militärbeamte, das heißt die untere Schicht des gleichen „neuen Mittelstandes„. Seit dem März waren sie fast sämtlich in die Partei der Sozialrevolutionäre eingetreten, die durch ihre geistige Formlosigkeit der zwischenstuflichen sozialen Lage dieser Elemente und ihrer politischen Beschränktheit am besten entsprach. Die Vertretung der Garnison war folglich unvergleichlich gemäßigter und bürgerlicher als die Soldatenmasse selbst. Die aber erkannte diesen Unterschied nicht; er mußte sich erst aus der Erfahrung der nächsten Monate ergeben. Die Arbeiter wiederum wollten sich den Soldaten so eng wie möglich anschließen, um das blutig erkaufte Bündnis zu festigen und die Revolution sicherer zu bewaffnen. Da nun im Namen der Armee vorwiegend neugebackene Sozialrevolutionäre sprachen, mußte das die Autorität dieser Partei und die ihrer Verbündeten, der Menschewiki, in den Augen der Arbeiter steigern. So entstand in den Sowjets die Vorherrschaft dieser zwei versöhnlerischen Parteien. Es genügt, darauf zu verweisen, daß in der ersten Zeit sogar im Sowjet des Wyborger Bezirks die führende Rolle menschewistischen Arbeitern gehörte. Der Bolschewismus brodelte in jener Periode erst tief im Schoße der Revolution. Die offiziellen Bolschewiki aber bildeten damals sogar im Petrograder Sowjet eine verschwindende Minderheit, die sich außerdem über ihre Aufgaben nicht sehr im klaren war.
So entstand das Paradoxon der Februarrevolution: die Macht in Händen demokratischer Sozialisten. Sie hatten sie keinesfalls zufällig, durch einen blanquistischen Anschlag erobert; nein, sie war ihnen von den siegreichen Volksmassen öffentlich übertragen worden. Diese Massen verweigern der Bourgeoisie nicht nur Vertrauen und Unterstützung, sondern unterscheiden sie auch von Adel und Bürokratie. Ihre Waffen stellen sie ausschließlich den Sowjets zur Verfügung. Indessen bildet die einzige Sorge der so leicht an die Spitze der Sowjets gelangten Sozialisten die Frage: wird die politisch isolierte, den Massen verhaßte, der Revolution durch und durch kindliche Bourgeoisie bereit sein, aus unseren Händen die Macht zu übernehmen? Ihre Zustimmung muß um jeden Preis gewonnen werden; da aber die Bourgeoisie offensichtlich nicht auf ihr bürgerliches Programm verzichten kann, so müssen wir „Sozialisten“ auf unser Programm verzichten und über Monarchie, Krieg, Land und Boden schweigen damit die Bourgeoisie nur ja das Geschenk der Macht annimmt. Während die „Sozialisten“ diese Operation vornehmen, fahren sie, wie zum Hohn über sich selbst, fort, die Bourgeoisie nicht anders denn als Klassenfeind zu bezeichnen. In den Ritualformen des Gottesdienstes wird auf diese Weise ein Akt herausfordernder Gotteslästerung begangen. Der bis ans Ende geführte Klassenkampf ist ein Kampf um die Staatsmacht. Die wesentliche Eigenschaft einer Revolution besteht darin, den Klassenkampf bis zu Ende zu führen. Die Revolution ist eben der unmittelbare Kampf um die Macht. Unsere „Sozialisten“ aber sind nicht darum besorgt, die Macht dem sogenannten Klassenfeind zu entreißen, der sie nicht besitzt und sie aus eigener Kraft nicht erobern kann – sondern darum, ihm die Macht um jeden Preis auszuhändigen. Ist das etwa kein Paradoxon? Es erschien um so verblüffender, als die Erfahrung der deutschen Revolution von 1918 damals noch nicht existierte und die Menschheit noch nicht Zeuge der gewaltigen und unvergleichlich erfolgreicheren Operation der gleichen Art gewesen war, die der „neue Mittelstand“, der die deutsche Sozialdemokratie führt, vollbrachte.
Wie erklärten die Versöhnler ihr Verhalten? Das eine Argument war doktrinärer Art: da die Revolution eine bürgerliche ist, dürfen sich die Sozialisten durch die Machtergreifung nicht kompromittieren – mag die Bourgeoisie für sich selbst einstehen. Das klang sehr unversöhnlich. In Wirklichkeit maskierte das Kleinbürgertum mit seiner angeblichen Unversöhnlichkeit nur seine Kriecherei vor Reichtum, Bildung, Geltung. Das Recht der Großbourgeoisie auf die Macht betrachteten die Kleinbürger als deren Urrecht, unabhängig vom Kräfteverhältnis. Dem lag fast die gleiche instinktive Bewegung zugrunde, die einen kleinen Kaufmann oder einen Lehrer zwingt, auf dem Bahnhof oder im Theater ehrerbietig beiseite zu treten, um ... Rothschild vorzulassen. Die doktrinären Argumente dienten nur zur Kompensation des Bewußtseins eigener Minderwertigkeit. Schon nach zwei Monaten, als es sich herausstellte, daß die Bourgeoisie aus eigener Kraft die ihr abgetretene Macht keinesfalls halten würde, schoben die Versöhnler ihre „sozialistischen“ Vorurteile beiseite und traten in ein Koalitionsministerium ein. Nicht, um die Bourgeoisie von dort zu verdrängen, sondern im Gegenteil, um sie zu retten. Und nicht gegen deren Willen, sondern auf deren Antrag, der wie ein Befehl klang: die Bourgeoisie drohte den Demokraten, im Falle einer Weigerung ihnen die Macht an den Kopf zu werfen.
Das zweite Argument für die Ablehnung der Macht hatte einen praktischeren Anschein, ohne im wesentlichen viel ernster zu sein. Der uns bereits bekannte Suchanow berief sich in erster Linie auf das „Zerstäubtsein“ der russischen Demokratie: „In den Händen der Demokratie befanden sich damals keine einigermaßen festen und einflußreichen Organisationen – weder Partei-, noch Gewerkschafts-, noch Selbstverwaltungsorgane.“ Das klingt wie Hohn! Die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten erwähnt mit keinem Wort der Sozialist, der im Namen der Sowjets auftrat. Indes entstanden die Sowjets dank der Tradition von 1905 wie aus der Erde gestampft und waren sofort unvergleichlich mächtiger als alle anderen Organisationen, die später versuchten, mit ihnen zu rivalisieren (Munizipalitäten, Kooperative, teils auch Gewerkschaften). Was die Bauernschaft betrifft, eine ihrer Natur nach zersplitterte Klasse, so war sie gerade infolge des Krieges und der Revolution mehr denn je organisiert: der Krieg versammelte die Bauern in der Armee, und die Revolution verlieh der Armee einen politischen Charakter! Nicht weniger als 8 Millionen Bauern waren in Kompanien und Schwadronen vereinigt, die sofort ihre revolutionären Vertretungen geschaffen hatten und durch deren Vermittlung jeden Moment auf einen telephonischen Anruf hin auf die Beine gebracht werden konnten. Ähnelt das einem „Zerstäubtsein“?
Man könnte allerdings einwenden, daß der Demokratie im Augenblick der Entscheidung der Machtfrage die Haltung der Armee an der Front noch unbekannt gewesen sei. Wir wollen nicht die Frage berühren, ob auch der geringste Grund für die Befürchtung (oder Hoffnung) bestand, die durch den Krieg erschöpften Frontsoldaten könnten bereit sein, die Bourgeoisie zu unterstützen. Die Tatsache genügt, daß diese Frage in den nächsten zwei bis drei Tagen gelöst wurde, also in der Zeit, die die Versöhnler hinter den Kulissen mit der Vorbereitung einer bürgerlichen Regierung verbrachten. „Der Umsturz war am 3. März glücklich vollzogen“, gesteht Suchanow. Trotzdem sich die ganze Armee den Sowjets angeschlossen hatte, stießen ihre Führer die Macht mit aller Kraft von sich: sie fürchteten diese Macht um so mehr, je vollständiger sie sich in ihren Händen konzentrierte.
Aber weshalb denn? Weshalb fürchteten sich Demokraten, „Sozialisten“, die sich unmittelbar auf Menschenmassen stützten, wie sie keine Demokratie in der Geschichte gekannt hat, und zwar Massen mit bedeutender Erfahrung, diszipliniert und bewaffnet, in Sowjets organisiert, – weshalb fürchtete diese allmächtige, wie es scheinen sollte, unverwüstliche Demokratie die Macht zu übernehmen? Dieses auf den ersten Blick knifflige Rätsel ist so zu lösen, daß die Demokratie ihrer eigenen Stütze nicht vertraute, sich vor den Massen fürchtete, die Dauerhaftigkeit deren Vertrauens bezweifelte und hauptsächlich Angst vor „Anarchie“ hatte, das heißt davor, daß sie nach Übernahme der Macht zugleich mit dieser Macht ein Spielball der sogenannten entfesselten Elemente werden könnte. Mit anderen Worten, die Demokratie fühlte sich im Augenblick des revolutionären Aufstiegs nicht berufen, Führerin des Volkes zu sein, sondern nur linker Flügel der bürgerlichen Ordnung, deren zu den Massen ausgestreckter Fühler. Sozialistisch nannte sie sich und hielt sich sogar dafür, um nicht nur vor den Massen, sondern auch vor sich selbst ihre tatsächliche Rolle zu verschleiern: ohne diese Selbsttäuschung wäre sie nicht in der Lage gewesen, diese Rolle auszuführen. So löst sich das grundlegende Paradoxon der Februarrevolution.
Am Abend des 1. März kamen die Vertreter des Exekutivkomitees, Tschcheidse, Steklow, Suchanow und andere, zur Sitzung des Dumakomitees, um die Bedingungen zu besprechen für die Unterstützung der neuen Regierung durch die Sowjets. Das Programm der Demokraten ignorierte die Fragen des Krieges, der Republik, des Land und Bodens, des 8-Stunden-Tags völlig und lief nur auf eine einzige Forderung hinaus: den linken Parteien Agitationsfreiheit zu gewähren. Ein Beispiel der Selbstlosigkeit für Völker und Jahrhunderte: Sozialisten, in deren Händen die gesamte Macht war und von denen es abhing, den anderen Agitationsfreiheit zu gewähren oder nicht, traten ihre Macht an die „Klassenfeinde“ ab unter der Bedingung, daß diese ihnen Agitationsfreiheit zusicherten. Rodsjanko fürchtete sich, zum Telegraphenamt zu gehen und sprach zu Tschcheidse und Suchanow: „Ihr habt die Macht, ihr könnt uns alle verhaften.“ Tschcheidse und Suchanow antworteten ihm: „Nehmt die Macht, aber verhaftet uns nur nicht wegen Propaganda.“ Studiert man die Verhandlungen der Versöhnler mit den Liberalen und all die Episoden aus den gegenseitigen Beziehungen des linken und des rechten Flügels des Taurischen Palais in jenen Tagen, so scheint einem, als benutze eine Gruppe Provinzschauspieler auf einer gewaltigen Bühne, auf der ein historisches Volksdrama spielt, ein freies Eckchen und eine kleine Pause, um ein banales Vaudeville mit Verkleidungen zu geben.
Die Führer der Bourgeoisie waren, man muß ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen, auf derartiges nicht gefaßt gewesen. Sie hätten die Revolution wohl weniger gefürchtet, wenn sie mit einer solchen Politik ihrer Führer gerechnet hätten. Sie würden sich allerdings auch in diesem Falle verrechnet haben, doch dann gemeinsam mit jenen. Aus der Befürchtung heraus, die Bourgeoisie könnte auch unter den angebotenen Bedingungen die Macht ablehnen, stellt Suchanow das bedrohliche Ultimatum: „Die entfesselten Elemente können nur wir bändigen, niemand sonst ... Es gibt nur einen Ausweg: unsere Bedingungen annehmen.“ Mit anderen Worten: akzeptiert das Programm, das ja euer Programm ist; wir aber versprechen euch dafür, die Massen, die uns die Macht anvertraut haben, zu bändigen. Arme Bändiger der Naturgewalten!
Miljukow war erstaunt. „Er dachte nicht daran“, schreibt Suchanow, „seine Genugtuung und seine angenehme Überraschung zu verbergen.“ Als aber die Sowjetdelegierten, um ihren Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, hinzufügten, ihre Bedingungen seien „endgültig“, wurde Miljukow sentimental und machte ihnen mit dem Satz Mut: „Ja, ich hörte ihnen zu und dachte darüber nach, wie weit unsere Arbeiterbewegung seit dem Jahre 1905 vorwärtsgeschritten ist ...“ In diesem Tone eines gutmütigen Krokodils unterhielt sich die Hohenzollernsche Diplomatie in Brest-Litowsk mit den Delegierten der Ukrainer Rada, deren staatsmännischer Reife die nötige Anerkennung zollend, bevor sie sie verschluckte. Daß die Bourgeoisie die Sowjetdemokratie nicht verschluckt hat, ist weder Suchanows Verdienst noch Miljukows Schuld.
Die Bourgeoisie erhielt hinter dem Rücken des Volkes die Macht. Sie besaß in den werktätigen Klassen keine Stütze. Doch zusammen mit der Macht bekam sie aus zweiter Hand so etwas wie einen Stützpunkt. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, von der Masse emporgehoben, bändigten von sich aus der Bourgeoisie das Vertrauensmandat aus. Betrachtet man diese Operation im Querschnitt der formalen Demokratie, dann entsteht das Bild einer Zweiklassenwahl, bei der Menschewiki und Sozialrevolutionäre in der technischen Rolle eines Mittelgliedes auftreten, das heißt als Kadettenwähler. Nimmt man die Frage aber politisch, dann muß man sagen, die Versöhnler haben das Vertrauen der Massen getäuscht, indem sie an die Macht jene beriefen, gegen die sie gewählt worden waren. Und endlich vom tieferen sozialen Standpunkt aus betrachtet, stellt sich die Frage so dar: die kleinbürgerlichen Parteien, die unter den Bedingungen des Alltags außerordentlich anspruchsvoll und selbstzufrieden waren, bekamen, sobald die Revolution sie auf die Gipfel der Macht gehoben hatte, Angst vor ihrer eigenen Unzulänglichkeit und beeilten sich, den Vertretern des Kapitals das Steuer zu überlassen. In diesem Prostrationsakt offenbarte sich jäh die erschreckende Haltlosigkeit des neuen Mittelstandes und seine beschämende Abhängigkeit von der Großbourgeoisie. Im Bewußtsein oder bloß in der Vorahnung, daß sie die Macht ohnehin nicht lange zu halten imstande sein würden, sondern diese bald an rechts oder links abgeben müßten, beschlossen die Demokraten, es sei schon besser, sie heute den soliden Liberalen, als morgen den extremen Vertretern des Proletariats abzugeben. Auch in dieser Beleuchtung hört die Rolle der Versöhnler, trotz ihrer sozialen Bedingtheit, nicht auf, eine den Massen gegenüber treubrüchige zu sein.
Nachdem sie ihr Vertrauen den Sozialisten geschenkt hatten, sahen sich die Arbeiter und Soldaten, unerwartet für sie selbst, politisch expropriiert. Sie begriffen es nicht, waren beunruhigt, wußten aber nicht gleich einen Ausweg. Von ihren eigenen Beauftragten wurden sie durch Argumente betäubt, auf die sie zwar keine Antwort bereit hatten, die aber all ihren Gefühlen und Absichten widersprachen: die revolutionären Tendenzen der Massen fielen schon im Augenblick des Februarumsturzes nicht zusammen mit den versöhnlerischen Tendenzen der kleinbürgerlichen Parteien. Die Proletarier und Bauern gaben ihre Stimmen den Menschewiki und den Sozialrevolutionären nicht als Versöhnlern, sondern als Feinden des Zaren, des Gutsbesitzers und des Kapitalisten. Doch indem sie sie wählten, schufen sie eine Scheidewand zwischen sich und ihren Zielen. Sie konnten jetzt nicht mehr vorrücken, ohne auf die von ihnen selbst errichtete Scheidewand zu stoßen und ohne diese zuvor niederzureißen. Das war das erstaunliche qui pro quo, das in den Klassenbeziehungen enthalten war, wie sie durch die Februarrevolution aufgedeckt wurden.
Dem Hauptparadoxon gesellte sich sogleich eine Ergänzung hinzu. Die Liberalen erklärten sich nur unter der Bedingung bereit, die Macht aus den Händen der Sozialisten zu übernehmen, daß sich die Monarchie bereit erklären würde, die Macht aus ihren Händen entgegenzunehmen.
Während Gutschkow mit dem uns bereits bekannten Monarchisten Schulgin zur Rettung der Dynastie nach Pskow reiste, wurde das Problem der konstitutionellen Monarchie Mittelpunkt der Verhandlungen der zwei Komitees des Taurischen Palais. Miljukow bemühte sich, die Demokraten, die ihm die Macht auf der flachen Hand darbrachten, zu überzeugen, die Romanows könnten jetzt keine Gefahr mehr sein, Nikolaus müsse natürlich abgesetzt werden, dagegen aber könnte der Zarewitsch Alexej unter der Regentschaft Michails das Wohl des Landes sichern: „Der eine ein krankes Kind, der andere ein ganz dummer Mensch.“ Fügen wir noch die Charakteristik bei, die der liberale Monarchist Schidlowski von dem Kandidaten für den Zarenthron gab: „Michail Alexandrowitsch entzog sich auf jede Weise jeglicher Einmischung in die Staatsgeschäfte und widmete sich restlos dem Pferdesport.“ Eine seltsame Empfehlung, wollte man sie vor den Massen wiederholen. Nach der Flucht Ludwigs XVI. nach Varennes proklamierte Danton im Jakobinerklub, daß ein Mann, der schwachsinnig, nicht mehr König sein könne. Die russischen Liberalen dagegen glaubten, ein schwachsinniger Monarch sei die beste Zierde des konstitutionellen Regimes. Das war allerdings ein ungezwungenes Argument, berechnet auf die Psychologie der linken Einfaltspinsel, doch auch für diese zu plump. Den breiten Kreisen der liberalen Bürger wurde suggeriert, Michail sei „Anglomane“, ohne genau anzugeben, ob die Rede um Pferderennen oder um Parlamentarismus ging. Hauptsache bleibt, man hat ein „gewohntes Machtsymbol“, sonst könnte das Volk sich einbilden, die Zeit der Herrschaftslosigkeit sei gekommen.
Die Demokraten hörten zu, staunten höflich und versuchten zu überreden ... die Republik zu proklamieren? Nein, nur die Frage nicht vorwegzunehmen. Punkt 3 der Bedingungen des Exekutivkomitees lautete: „Die Provisorische Regierung darf keinerlei Schritte unternehmen, die die zukünftige Regierungsform im voraus festlegen.“ Miljukow machte aus der Frage der Monarchie ein Ultimatum. Die Demokraten waren verzweifelt. Da aber kamen die Massen zu Hilfe. Auf den Meetings im Taurischen Palais wollte niemand, weder die Arbeiter noch die Soldaten, einen Zaren, und es gab kein Mittel, ihnen diesen aufzuzwingen. Trotzdem versuchte Miljukow gegen den Strom zu schwimmen und über die Köpfe der linken Verbündeten hinweg Thron und Dynastie zu retten. In seiner Geschichte der Revolution verzeichnet er zurückhaltend selbst, daß gegen Abend des 2. März die durch seine Mitteilung von der Regentschaft Michails hervorgerufene Aufregung „sich bedeutend steigerte“. Viel farbiger schildert Rodsjanko den Effekt, den die monarchistischen Manöver der Liberalen bei den Massen auslösten. Kaum aus Pskow mit dem Verzichtsakt Nikolaus’ zugunsten Michails zurückgekehrt, begab sich Gutschkow auf Verlangen der Arbeiter vom Bahnhof in die Eisenbahnwerkstätten, schilderte das Vorgefallene, las den Verzichtsakt vor und schloß mit den Worten: „Es lebe Kaiser Michail!“ Das Resultat war ein völlig unerwartetes. Der Redner wurde, nach Rodsjankos Bericht, von den Arbeitern unverzüglich verhaftet, angeblich sogar unter Androhung der Erschießung. „Mit großer Mühe gelang es, ihn mit Hilfe der Wachkompanie des nächsten Regiments zu befreien.“ Wie stets, übertreibt Rodsjanko in manchen Punkten, doch die Darstellung ist im wesentlichen richtig. Das Land hatte die Monarchie so radikal erbrochen, daß sie dem Volk nicht mehr durch die Kehle gehen wollte. Die revolutionären Massen ließen den Gedanken an einen neuen Zaren nicht mehr aufkommen!
Angesichts dieser Konjunktur rückten die Mitglieder des Provisorischen Komitees eines nach dem andern von Michail ab, nicht endgültig, sondern „bis zur konstituierenden Versammlung“: da werde man schon sehen. Nur Miljukow und Gutschkow verteidigten die Monarchie bis zuletzt und machten weiterhin ihre Beteiligung am Kabinett davon abhängig. Was tun? Die Demokraten meinten, man könne ohne Miljukow keine bürgerliche Regierung bilden und ohne bürgerliche Regierung die Revolution retten. Es folgten endlose Wortwechsel und Unterredungen. In der Vormittagssitzung des 3. März obsiegte im Provisorischen Komitee fast durchgehend die Überzeugung, es sei notwendig, „den Großfürsten zur Abdankung zu bewegen“ – er wurde mithin schon als Zar betrachtet! Der linke Kadett Nekrassow hatte bereits den Text der Abdankung fertig. Da aber Miljukow sich hartnäckig widersetzte, fand man nach neuem leidenschaftlichen Streit schließlich eine Lösung: „Beide Parteien bringen dem Großfürsten ihre motivierten Ansichten vor und überlassen, ohne in weitere Diskussionen einzugehen, dem Großfürsten die Entscheidung.“ Auf diese Weise wurde der „ganz dumme Mensch“, dem sein durch den Aufstand gestürzter älterer Bruder, in Widerspruch selbst zu den dynastischen Statuten, den Thron unterzuschieben versucht hatte, zum Schiedsrichter über die Frage der Staatsform des revolutionären Landes. So unglaublich das scheinen mag, dieser Wettstreitprozeß um das Schicksal des Staates hat stattgefunden. Um den Großfürsten zu bewegen, sich des Thrones halber von den Ställen loszureißen, versicherte ihm Miljukow, es bestehe durchaus die Möglichkeit, außerhalb Petrograds eine Militärmacht zu sammeln zur Verteidigung seiner Rechte. Mit anderen Worten, kaum die Macht aus den Händen der Sozialisten erhalten, trat Miljukow mit dem Plan eines monarchistischen Staatsstreiches hervor. Doch nach Beendigung der Für- und Widerreden, deren es nicht wenige gab, erbat sich der Großfürst Bedenkzeit. Michail lud Rodsjanko in ein Nebenzimmer ein und stellte ihm unvermittelt die Frage: können die neuen Herrscher ihm nur die Krone oder auch den Kopf garantieren? Der unvergleichliche Kammerherr antwortete, er könne dem Monarchen nur versprechen, wenn nötig, mit ihm zusammen zu sterben. Dazu verstand sich der Prätendent keinesfalls. Als er nach Umarmungen mit Rodsjanko zu den ihn erwartenden Deputierten hinaustrat, erklärte Michail Romanow „ziemlich fest“, er verzichte auf das ihm angebotene hohe, aber gefahrvolle Amt. Da sprang Kerenski, der bei diesen Verhandlungen das Gewissen der Demokratie verkörperte, begeistert vom Stuhl auf mit den Worten: „Hoheit, Sie sind ein edler Mann!“ und schwor, er werde dies von nun an überall verkünden. „Das Pathos Kerenskis“, kommentierte Miljukow trocken, „harmonierte schlecht mit der Prosa des getroffenen Entschlusses.“ Das läßt sich nicht bestreiten. Für Pathos bot der Text dieses Zwischenspiels allerdings keinen Raum. Der oben angestellte Vergleich mit einer Posse im Winkel einer antiken Arena muß durch den Hinweis ergänzt werden, daß die Bühne durch einen Wandschirm in zwei Teile geteilt war: in dem einen bettelten die Revolutionäre die Liberalen an, die Revolution zu retten, in dem anderen flehten die Liberalen die Monarchie an, den Liberalismus zu retten.
Die Vertreter des Exekutivkomitees waren aufrichtig darüber erstaunt, daß ein so aufgeklärter und weitsichtiger Mann wie Miljukow sich irgendeiner Monarchie wegen widerspenstig zeigte und sogar bereit war, auf die Macht zu verzichten, wenn man ihm nicht einen Romanow dazu gäbe. Miljukows Monarchismus war jedoch weder doktrinärer noch romantischer Art; im Gegenteil, er ergab sich aus der nackten Berechnung der erschrockenen Besitzenden. In ihrer Nacktheit bestand eben ihre hoffnungslose Schwäche. Der Geschichtsschreiber Miljukow konnte sich allerdings darauf berufen, daß der Führer der französischen revolutionären Bourgeoisie, Mirabeau, seinerzeit ebenfalls bestrebt war, die Revolution mit dem König auszusöhnen. Der Kern war auch dort Angst der Besitzenden um den Besitz: es war vorsichtiger, ihn durch die Monarchie zu decken, so wie die Monarchie sich mit der Kirche deckte.
Doch besaß die Tradition der königlichen Macht m Frankreich im Jahre 1789 noch die Anerkennung des ganzen Volkes, abgesehen davon, daß Europa ringsum noch monarchistisch war. Sich an den König haltend, stand die französische Bourgeoisie auf dem gleichen Boden mit dem Volke, mindestens in dem Sinne, daß sie dessen Vorurteile gegen diese ausnutzte. Ganz anders war die Lage im Jahre 1917 in Rußland. Abgesehen von den Katastrophen und Havarien des monarchistischen Regimes in verschiedenen Ländern, war schon im Jahre 1905 die russische Monarchie selbst in nichtwiedergutzumachender Weise angeschlagen worden. Nach dem 9. Januar verfluchte der Pope Gapon den Zaren und dessen „Schlangenbrut“. Der Sowjet der Arbeiterdeputierten des Jahres 1905 stand offen auf republikanischem Boden. Die monarchistischen Gefühle der Bauernschaft, auf die der Zarismus lange Zeit gebaut hatte und mit denen die Bourgeoisie ihren Monarchismus deckte, erwiesen sich einfach als nicht existierend. Die kriegerische Konterrevolution, die später den Kopf erheben wird, sagt sich bereits seit Kornilow, wenn auch heuchlerisch, dafür um so demonstrativer, von der Zarenmacht los: so wenig monarchistische Wurzeln waren im Volke geblieben. Doch die gleiche Revolution von 1905, die den Monarchismus derart tödlich trat untergrub auch für immer die schwankenden republikanischen Tendenzen der „fortgeschrittenen“ Bourgeoisie. Einander widersprechend, ergänzten sich diese zwei Prozesse. Von den ersten Stunden der Februarrevolution an ihren Untergang fühlend, griff die Bourgeoisie nach einem Strohhalm. Sie brauchte die Monarchie nicht deshalb, weil diese der Glaube war, den sie mit dem Volke gemein hatte; im Gegenteil, die Bourgeoisie hatte dem Glauben des Volkes nichts mehr entgegenzuhalten vermocht als das gekrönte Phantom. Die „gebildeten“ Klassen Rußlands haben die Arena der Revolution nicht als Verkünder eines rationellen Staates betreten, sondern. als Verteidiger mittelalterlicher Institutionen. Da sie weder im Volke noch in sich selbst eine Stütze hatten, suchten sie sie oben, über sich. Archimedes wollte die Erde umwälzen, wenn man ihm einen Stützpunkt gäbe. Miljukow dagegen suchte einen Stützpunkt, um das Stückchen gutsherrlicher Erde vor einer Umwälzung zu bewahren. Er fühlte sich dabei den verschrumpftesten zaristischen Generalen und den Hierarchen der rechtgläubigen Kirche naher als den zahmen Demokraten, die um nichts so besorgt waren wie um das Wohlwollen der Liberalen, Ohnmächtig, die Revolution niederzuringen, entschloß sich Miljukow fest, sie zu überlisten. Er war vieles zu schlucken bereit: bürgerliche Freiheiten für die Soldaten, demokratische Munizipalitäten, die Konstituierende Versammlung, aber alles nur unter der einen Bedingung: daß man ihm den archimedischen Punkt in Form der Monarchie belasse. Er beabsichtigte, die Monarchie allmählich, Schritt für Schritt, zu der Achse zu machen, um die sich die Generalität, die aufgefrischte Bürokratie, die Fürsten der Kirche, die Besitzenden, alle mit der Revolution Unzufriedenen gruppieren könnten. Ein anderer Führer der Kadettenpartei, Nabokow, erklärte später, welcher Hauptvorteil durch die Thronannahme Michails erreicht worden wäre: „Die fatale Frage der Einberufung der Konstituierenden Versammlung während des Krieges wäre beseitigt gewesen.“ Diese Worte muß man sich merken: der Kampf um die Fristen der Konstituierenden Versammlung nahm in der Zeit zwischen dem Februar und dem Oktober einen großen Platz ein, wobei die Kadetten ihre Absicht, die Einberufung der Volksvertretung hinauszuziehen, kategorisch leugneten, in Wirklichkeit jedoch beharrlich und hartnäckig eine Verschleppungspolitik verfolgten. Aber sie mußten sich dabei auf sich selbst stützen: die monarchische Deckung war ihnen letzten Endes nicht zuteil geworden. Nach der Desertion Michails konnte sich Miljukow auch an einem Strohhalm nicht mehr festhalten.
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Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003