MIA > Deutsch > Marxisten > Trotzki
Nach Literatur und Revolution, Berlin 1968, S. 272–287, s. auch den russischen Text.Text.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Das Schicksal des Herrn Mereschkowski ist in hohem Maße bemerkenswert. Er prophezeit schon lange: in künstlerischer Prosa und in Versen, in theologischen Aufsätzen und kritischen Feuilletons, er prophezeit hartnäckig. Aber er wurde nicht beachtet, auch mit Hartnäckigkeit, mit einer Hartnäckigkeit, die ihm hätte erstaunlich vorkommen müssen, gerade weil sie allzu natürlich war. Man wurde erst in den allerletzten Jahren vor der Revolution auf ihn aufmerksam, als das ganze russische Leben von der Oberfläche bis auf den Grund mit einem großen Knüppel so umgerührt wurde, dass Hunderte bisher unentdeckt gebliebene Dinge zutage traten, dass Tausende von Fragen auftauchten, die es noch gestern gar nicht gegeben hatte, dass zum Rätsel wurde, was völlig klar erschienen war, – und hier erst fand das „neue religiöse Bewusstsein“ des Herrn Mereschkowski einen Widerhall oder erweckte zumindest das Interesse gewisser Kreise: es verhieß einigen in der Gewitterschwüle vergehenden feinsinnigen Petersburger Seelen einen Ausweg. Aber das Gewitter entlud sich, die Ereignisse überrollten nicht nur die mystischen Häupter, auch die Prophezeiungen verstummten oder wurden erstickt. Der Mystizismus war vorübergehend wie weggefegt. Und erst, als die Welle der Ereignisse zurückflutete, in vielen Seelen irgendein nervös-lüsternes Bedürfnis zurücklassend, in kürzester Frist ihre Denkweise zu erneuern, wurde man auf Mereschkowski wieder aufmerksam – aber dieses Mal in wesentlich größerem Umfange als vorher. In dieser Zeit der allseitigen Liquidation trat Mereschkowski aus der Enge der Zirkel heraus, verweltlichte sich und begann, selbst vom Altar der Zeitung Rjetsch aus zu prophezeien, was, nebenbei gesagt, nicht möglich gewesen wäre, wenn sich die Herren J. Hessen und Miljukow nicht gesagt hätten, dass diese Prophezeiungen genau zur rechten Zeit kämen. Doch siehe da, schon ändern sich die Zeichen aufs Neue: die Nachfrage nach Predigten zur Rettung der Seele ist bedrohlich gesunken, die Spalte der Prophezeiungen aus der Rjetsch ist verschwunden, der nüchterne Teufel der Politik wird wieder Herr der Lage. Im Hinblick darauf muss man anerkennen, dass Herr Mereschkowski keinen günstigeren Zeitpunkt finden konnte, das Fazit zu ziehen, indem er seine gesammelten Werke herausgibt, und man kann nur befürchten, dass sich die Ausgabe verzögert und die weiteren Bände zu spät erscheinen ...
Über die Prophezeiungen Mereschkowskis haben wir nicht in konventionellem, nicht in übertragenem und schon gar nicht in ironischem Sinne gesprochen. Mereschkowski ist nicht ein Mystiker in jener dehnbar-verschwommenen Auslegung, in der man dieses Wort in der Literatur der letzten Jahre zu verwenden pflegte, in der man von der Mystik der geschlechtlichen Liebe spricht, von der mystischen Persönlichkeit des Staates und sogar, wie es scheint, von der Mystik der Zeilenhonorare. Nein, wie Tschechow sich über ihn in einem Briefe äußerte, „glaubt Mereschkowski ‚unerschütterlich‘, glaubt lehrerhaft“. Er nimmt an – und das ist sein Ausgangspunkt – dass „das Leben ohne Gott und der Tod ohne Auferstehung nicht nur jeden Menschen, sondern die ganze Menschheit zu einer verwesenden Masse“ mache. Seine Religion nennt er apokalyptisch. Er erwartet die mahnende Verheißung, die endgültig Fleisch und Seele, das alte und das neue Testament aussöhnen wird, über das historische Christentum ruft er zu der Religion der Dreifaltigkeit auf. „Gerade das Dogma von der Dreifaltigkeit verbindet mit einem unzerreißbaren Band das historische Christentum mit dem apokalyptischen Christentum.“ – „Jede der drei göttlichen Hypostasen“, erklärt er, „ist die Vereinigung der beiden restlichen, so dass man die ganze Vollkommenheit der Dreifaltigkeit durch die symbolische Zahl 333 ausdrücken kann. Die im Teufelsspiegel wiederholte Zahl 333 ergibt verdoppelt 666“. Wie zweifelhaft diese mathematische Kombination an und für sich auch sein mag (wir würden ganz entschieden nicht dazu raten, sie in die Schulbücher für arithmetische Aufgaben einzuführen), so bezeugt sie doch beredt genug, dass Mereschkowski „lehrerhaft glaubt, unerschütterlich glaubt“. Ohne uns weiter in das Gebiet der neuen apokalyptischen Dogmatik zu vertiefen, auf dem wir aus mangelnder Erfahrung riskieren, eine starke Verwirrung anzurichten, beschränken wir uns nur noch auf ein ausdrucksvolles Beispiel „Ihnen scheint es“ – wendet sich Mereschkowski in einem im Tone der Briefe des Apostel Paulus verfassten „offenen Brief“ an Berdjajew – „dass für mich das Problem des Teufels nicht gelöst sei. Sie irren: für mich ist dieses Problem endgültig gelöst“.
„Das Problem des Teufels“ – was ist allein schon die Kombination dieser beiden Wörter wert! Vor dem feierlichen Ernst des Denkers, der das Problem des Teufels endgültig gelöst hat, hält die Ironie nicht stand. Und so ist Mereschkowski immer. Humor ist eine Eigenschaft, die ihm absolut fremd ist. Alle ‚Probleme‘ seines Glaubens – die Unsterblichkeit des Teufels wie auch die Zahlen 333 und 666 – wirft er mit konzentriertem Ernst auf. Am helllichten Tage und lauthals mit Donnerstimme hat er einst Berdjajew als Mitpropheten eingeladen und damit diesen koketten philosophischen Flaneur wahrscheinlich nicht wenig erschreckt. Ohne sich von den Misserfolgen umwerfen zu lassen, schreitet Mereschkowski im Chaos unserer nicht apokalyptischen Zeit wie „ein Gewisser in Schwarz“ dahin ... – wie ein Gewisser im schwarzen Gehrock.
Denn Herr Mereschkowski trägt keinen Priesterrock, sondern einen Gehrock, und zwar nach bestem französischem Schnitt, als Beweis dafür, dass ein Mann von Welt vor uns steht, der keinesfalls gewillt ist, auf die Segnungen dieser Welt zu verzichten. In Erwartung der neuen Verheißung nimmt er nicht nur Fastenspeisen zu sich, sondern auch zur Fastenzeit verbotene, letztere sogar mit Vorliebe.
Seine Mystik ist nicht ungeduldig, nicht ungestüm. Er fühlt sich gar nicht wie in einem Feldzelt, sondern im Gegenteil, er hat die Tendenz zur Sesshaftigkeit, er will sich sehr gründlich hier auf der Erde umsehen. Er sieht sogar „die große Unwahrhaftigkeit oder, genauer gesagt, die große Unzulänglichkeit“, im Selbstgefühl der ersten Jahrhunderte des Christentums mit dessen ungestüm-ungeduldiger Erwartung des Endes. Man kann ja auch nicht jahrhundertelang in Todesahnung leben. Seitdem die ersten Jünger glaubten, dass das „Ende nahe sei“, sind tausend Jahre vergangen – und es können immer noch weitere vergehen. Und in der Langsamkeit des welthistorischen Prozesses, die von der ersten Erscheinung zur zweiten führt, liegt nach Mereschkowski „etwas Wünschenswertes“. Die Wahrheit über die Ewigkeit darf freilich die Wahrheit über die Zeit nicht verdrängen, und die Sehnsucht nach Ewigkeit darf uns nicht daran hindern, den Komfort zu genießen. Darin besteht eben das ganze Wesen des „neuen religiösen Bewusstseins“.
Herr A. Blok hat uns unberufenen den Vorwurf gemacht, wir verstünden den Mereschkowski nicht, wir sähen nicht, wie seine Seele in Teile gerissen wird: er erfleht Gottes Hagelschlag und ist zugleich in die Kultur verliebt. Er liebt sie nicht mit berechnend-prosaischer Liebe, sondern wie ein Künstler, wie Don Quichotte.
Dass Mereschkowski mit der Kultur fest verbunden ist, stimmt. Aber warum denn wie Don Quichotte? Die Liebe Don Quichottes ist nicht nur fanatisch, sondern auch fantastisch und in ihrer Fantastik hoffnungslos: das ist Liebe zu dem, was die Geschichte verurteilt hat, ein Kampf für etwas, was nicht mehr zu retten ist. Aber welche Gefahr droht jenem in Jahrhunderten angesammelten Reichtum, in den Mereschkowski „verliebt“ ist? Es gibt ein aktives und leidenschaftliches und zugleich keineswegs don-quichottisches Verhältnis zur Kultur: bei den sozial entrechteten, bei den aufgewachten Massen, denen nur noch bevorsteht, sich eine Bahn zur Kultur zu brechen. Aber auch diese Liebe ist Mereschkowski nicht gegeben: er braucht sein Recht auf Kultur weder zu beweisen noch zu verwirklichen – er braucht sie nur mit der ruhigen und befriedigten Liebe eines Besitzers zu lieben.
Griechische Klassiker, Kirchenväter, französische Erotiker benutzt er ebenso natürlich wie die Taschenuhr oder ein Taschentuch. Die Kultur, vom Zimmerkomfort bis zu den höchsten ästhetischen Werken, ist kein Schatz, den er zu verlieren fürchtet, und kein Ideal, das er zu erreichen sucht, sondern das ihm gegebene Milieu. Das Milieu aber (nach Mereschkowski „die Mitte“) ist eine Fläche, ist das Kleinbürgertum, das befriedigte Kleinbürgertum – ist Gemeinheit. Wo soll das veredelte kultivierte Dahinvegetieren Rettung finden vor dem Abgleiten in die Gemeinheit? Und eben hier kommt die Mystik zu Hilfe. In ihr findet Mereschkowski eine super kultivierte Sanktion der Kultur, eine Garantie dafür, dass er an der Kultur saugend schon eine Tat von höchster Bedeutung vollbringt und dass er vor allen Dingen nicht einfach faulendes, wenn auch zivilisiertes Menschenfleisch ist. Kultur und Ewigkeit sind die beider Grundpfeiler Mereschkowskis. Die Ewigkeit ist die aller günstigste Stundung von moralischen Wechseln, die von der Kultur präsentiert werden. Dadurch, dass die Ewigkeit einen selbst mit den kulturellen Widersprüchen aussöhnt, garantiert die Ewigkeit über alles andere hinaus eine in höchstem Grade verführerische Fortsetzung jenseits der Grenzen der Kultur.
Mereschkowski hat sich einfach als früher kultivierter Individualist erwiesen, als ein verfrühter europäischer Egoist in einem historischen Milieu, das einem solchen Typ feindselig gesinnt war, denn hier atmete alles noch kollektive Gefühle und Stimmungen. Im Kampf um seine Selbsterhaltung schirmte Mereschkowski sich von allen ab und errichtete aus sich heraus seinen eigenen Tempel. Ich und die Kultur, ich und die Ewigkeit – das ist sein zentrales, sein einziges Thema. Unter den Mystikern der russischen Intelligenz, in ihrer Mehrzahl neuester Formation, nimmt Mereschkowski als Urmystiker eine Sonderstellung ein. Staube, Berdjajew, Bulgakow und die anderen Materialisten wurden zu Halbmystikern und Mystikern in dem Maße, wie sich ihre politischen Sympathien von links nach rechts verschoben. Mereschkowski dagegen verschob seine Sympathien im Kampf um die Erhaltung seines Mystizismus von rechts nach links. Von der Heiligung der Autokratie kam er zum christlich-anarchischen Ideal einer theokratischen Gewaltlosigkeit nicht etwa, weil er die Wahrheit der menschlichen Beziehungen gesucht hätte, sondern ausschließlich unter der Einwirkung des Bedürfnisses, seine persönliche Selbstbestätigung nach allen Seiten abzusichern, sich „hier“ wie „dort“ so vollkommen einzurichten, dass er sich um nichts mehr zu kümmern brauchte. Die revolutionäre Epoche führte zu einem Riss in seiner individualistischen Schale und zeigte, dass es auf der Welt nicht nur das „ich“ und die Kultur gibt, sondern noch einen dritten Faktor: die Masse – und Mereschkowski gewährte der Masse Zutritt in seine inneren Gemächer, allerdings kaum viel weiter als ein wenig über die Schwelle und auch nicht der realen Volksmasse, sondern einer von ihm für seinen Hausgebrauch erfundenen, der „allerapokalyptischsten der Welt“. Die ideale christliche Gemeinschaft erweist sich lediglich als das gewendete tausendjährige apokalyptische Reich der Heiligen auf der Erde, das praktisch zu nichts verpflichtet. Es ist fast unmöglich, selbst nur den ersten realen Ansatzpunkt für die theokratische Aktion zu finden, klagt Mereschkowski selbst melancholisch, und trotzdem unterwirft er sein irdisches Ideal keinerlei Überprüfung, denn bei ihm handelt es sich im Grunde genommen gar nicht darum, diese ungerechte Welt zu ändern, sondern nur darum, sie mystisch zu erklären. Lohnt es sich denn, sich wegen der Unmöglichkeit einer gesellschaftlichen Aktion zu beunruhigen, wenn das „Problem des Teufels“ endgültig gelöst ist!
Im Gegensatz zu Iwan Karamasow, der zwar noch gewillt war, Gott anzuerkennen, aber die von ihm geschaffene Welt mit den unschuldigen Opfern und mit den zu Tode gemarterten Kindlein nicht akzeptierte und ehrerbietig, das heißt eigentlich vermessen, seinen Mitgliedsausweis zurückgab, war Herr Mereschkowski immer dazu bereit, die Welt sowohl mit Pobjedonoszew wie auch mit der Anarchie anzuerkennen, allerdings unter der einen Bedingung: dass diese Welt mystisch eingesalzen wird, auf dass sie nicht faule und nicht stinke.
So blieb dieser frühe europäische Egoist unter den
russischen Verhältnissen eine landfremde Figur in einem
korrekten schwarzen Gehrock. „In Russland hat man mich nicht
geliebt und mich beschimpft“, klagt Mereschkowski, „im
Ausland liebte und lobte man mich: aber hier wie dort hat man mein
ich nicht verstanden“. In dieser berechtigten Klage
liegt ein kleiner selbstbetrügerischer Trost. Es stimmt, dass
man Mereschkowski im Ausland lobte, das heißt manchmal gelobt
hat, aber es stimmt überhaupt nicht, dass man ihn dort liebte.
Die Europäer, eigentlich nur die Romanen, schätzten den
Autor des Leonardo als einen mit Europa oder wenigstens mit
der äußeren Hülle seiner Kultur gut vertrauten
Schriftsteller, als einen gebildeten Europäer unter den
Barbaren; aber dass er von irgendwelcher Bedeutsamkeit für das
Ideenleben des Westens gewesen wäre, davon kann gar keine Rede
sein. In der Heimat aber, die vor innerer Spannung bebte, hat man ihn
gerade deshalb nicht geliebt und nicht gelobt, weil man bei all
seinen Metamorphosen immer wieder ein und denselben beobachtenden
Mystiker erkannte, einen abseits stehenden Menschen, einen
selbstgefälligen Fremdling. Vor seiner Einsamkeit suchte
Mereschkowski an verschiedenen Stellen Zuflucht, aber stets ohne
Erfolg. Bei den Hierarchen, mit denen er viel Umgang pflegte, fand er
offizielle Selbstzufriedenheit und eine ganz und gar nicht mystische
Bürokratie: „ereifern sie sich nicht und klügeln sie
nicht müßig herum“, sagte man ihm, „sondern
stellen sie sich an den Platz, den wir ihnen anweisen. Bei uns ist
alles vorgesehen“. Auf Seiten der Liberalen stieß er
lediglich auf skeptisches Wohlwollen: „Uns brauchen sie nicht
zu retten, wir werden uns schon selbst irgendwie retten, aber
versuchen sie es doch einmal bei den Massen: dort werden wir sie
gegen die Linken unterstützen“ ... Bei den Linken
schließlich, das heißt bei den Intelligenzlern (tiefer
blickte Mereschkowski nie), fand er echte religiöse
Glaubenseiferer und Märtyrer, aber – o weh! –
Märtyrer im Namen der Menschheit, Eiferer ohne Gott. Da
Mereschkowski allen fremd bleibt, baut er nicht auf die gegenseitigen
Bindungen der Menschen und besteht in keiner Weise auf seinen
gesellschaftlichen Folgerungen. Hier ist er bis zum Äußersten
gefügig, nachgiebig und konventionell. Erst segnete er die
Staatlichkeit Pobjedonoszews, dann segnete er „das bleiche
Ross“ ... Er erklärte die Bourgeoisie zur Tochter des
Teufels, richtete sich aber in den Feuilletonspalten der Zeitung
Rjetsch großartig ein. Er brandmarkte den Staat als
teuflische Verführung und verband sich mit Staube, dem Künder
der Göttlichkeit des Staatsgedankens Als er Berdjajew zum
Weggenossen aufrief, fragte er ihn nicht nach seinen Anschauungen
über die zukünftigen geschichtlichen Schicksale der
Menschheit, sondern lediglich, ob er, Berdjajew, daran glaube, .dass
der unter Pontius Pilatus gekreuzigte Mensch Jesus nicht nur Mensch,
sondern auch Gott war. – „Das ist das einzige“,
sagte Mereschkowski selbst, „was wir für immer erworben
haben und was wir niemals verlieren können“. In diesem
Bekenntnis erschließt sich Mereschkowski vollkommen. Zwischen
der Kultur als Fundament und der Mystik als Kuppel, dort, wo sich die
Wahrheit über die Errettung der Gesellschaft befinden sollte,
herrscht bei ihm gähnende Leere, die zu füllen er nie und
nimmer die Kraft hat. Ja, er bemerkt sie nicht einmal, denn seiner
ganzen Natur nach ist er nicht ein Mensch der Gesellschaft, sondern
ein verschlossener Egoist.
Aber steht die Mystik Mereschkowskis denn schon außer Zweifel? Jenes einzige, das „endgültig erworben“ wurde (neben dem kulturellen Fundament, das erst gar nicht in Zweifel gezogen wird), die apokalyptische Kuppel über dem Haupte, sie ist doch wohl echt, aus gehämmertem Gold der Mystik und ohne Legierung?
Wo soll denn der kultivierte Egoist des zwanzigsten Jahrhunderts im modernsten Gehrock eine echte Mystik hernehmen? Könnte er sie überhaupt fassen? Und braucht er sie denn? ... Er wäre ja gar kein kultureller Rahmabschöpfer im sublimsten Sinne dieses Wortes, wenn er nicht wüsste, dass man der Mystik nicht den Finger in den Mund stecken darf, denn sie ist intolerant und gefräßig wie Pharaos magere Kuh. Sie ist imstande, die ganze Kultur restlos mit allen ihren bequemen, lieben und herrlichen Errungenschaften zu verschlingen. Sie treibt doch jedermann aus der Welt ins Mönchtum, in die Askese – das ist ihr natürliches Streben. Unsterblichkeit muss man daher in vernünftigen Dosen einnehmen, sonst könnte die Welt nach einem Ausdruck Rosanows ranzig werden. Die Wahrheit über die Ewigkeit und die Wahrheit über die Zeit müsste man mehr als alles andere im Gleichgewicht halten ... Die Ewigkeit kommt, wenn es an der Zeit ist, bis dahin aber wollen wir ihr tausend Jahre (einen einzigen Augenblick!) und nochmal tausend Jahre entreißen – sie wird davon nicht kleiner und für unser irdisches Dasein reicht es bei weitem.
Hat denn hierbei die Ewigkeit, so wage ich sie zu fragen, einen hohen Preis, wenn man sie in Augenblicke einwechselt? Das ist doch haargenau dieselbe Hundert-Rubel-Nachtigall, die der Kaufmann im Gasthaus braten ließ und von der er, als sie gebraten war, eine Groschenportion abzuschneiden befahl.
Führt denn unser Mystiker die Ewigkeit voll und ganz in sein persönliches Alltagsleben ein, lässt er denn von ihr seinen Lebensrhythmus bestimmen? Ganz und gar nicht. Er wechselt sie im Kramladen der Geschichte bedenkenlos in das Kleingeld der Zeit ein. Und dann konsumiert er die gleiche Zeit wie wir Sündigen und spielt sich uns gegenüber damit groß auf, dass er sich doch nur eine kleine Portion von der Ewigkeit abgeschnitten und von dieser selben Ewigkeit einen unerschöpflichen Teil als Reserve beiseite gelegt habe.
Mereschkowski hat ein Lieblingsbild: „vermeintliche Spiegeltiefe, wirkliche Fläche“. Wie er vom russischen Atheismus spricht, so charakterisiert er auch den Teufel. Ob er in Bezug auf den Atheismus recht hat, wollen wir nicht untersuchen, und wie genau er den Teufel malt, ist für uns schwer zu entscheiden. Aber es kommt uns so vor, als könnte er mit diesen Worten am besten sich selbst charakterisieren, denn sein ganzes neues religiöses Bewusstsein liegt in einer Ebene, hat kein Fleisch und Blut, stellt nur äußere Konturen dar, die Projektion von irgend etwas, eine nackte Formel, einen Schatten fremden Glaubens, nur Widerspiegelung unergründlicher Tiefen ... Glaubt er denn überhaupt? Wenn er es sagt, dann glaubt er auch. Aber er hat es nicht nötig, andere mit seinem Glauben anzustecken. Er sieht immer beunruhigt aus, vermag aber niemanden zu beunruhigen. Er ist an titanischen Antithesen furchtbar reich, aber sie erregen nicht, dringen nicht ins Bewusstsein ein, und man behält sie nicht im Gedächtnis. Er hat immer einen eindringlichen Tonfall, dringt aber nicht durch. Ihm fehlt nicht viel: echte Leidenschaft. Seiner Seele fehlen Flügel Er ist Egoist. Er ist der kälteste, berechnendste und symmetrischste Mensch, der jeden seiner Schritte misst, wägt und beobachtet. Irdische Berechnungen stellt er zweifellos wesentlich besser an als apokalyptische. Seiner Natur nach ist er kein Mystiker, aber auch kein Realist: er ist – die Nüchternheit selbst.
Zur gleichen Zeit aber – und dafür bürgt sein ganzes Schicksal – lebt in ihm eine unausrottbare und unüberwindliche Sucht nach Mystizismus, nach geheimnisvollem Aufschwung, nach Elan, nach Leidenschaft. Bis ins Mark ist er von seiner eigenen Nüchternheit entsetzt – und sein ganzer Mystizismus ist eine beharrliche, keine Ruhe kennende Überwindung seiner selbst.
Der Kampf gegen die eigene Nüchternheit im Namen der „Abgründe“, ob des christlichen, ob des heidnischen, ist gleichgültig – denn beide sind gleichermaßen unzulänglich – ist der Hauptwiderspruch, der sich durch das Werk Mereschkowskis zieht. Und vor diesem subjektiven Widerspruch treten in seinem Bewusstsein die objektiven Widersprüche zurück und schrumpfen bis zur Unkenntlichkeit zusammen: der Widerspruch zwischen dem Realismus und der Mystik, zwischen dem wissenschaftlichen Gesetz und dem Dogma, zwischen der seelischen Eigenordnung und dem gesellschaftlichen Aufbau, zwischen der Menschheit, die sich unterwerfen lässt, und der Menschheit, die sich alles unterwirft. Alle diese durch die historische Entwicklung erzeugten Widersprüche sind ihm in seiner inneren moralischen Gespanntheit fremd. Sie liefern ihm nur das Material für literarische Antithesen. Er beutet sie parasitär-oberflächlich im Kampf gegen seine eigene Nüchternheit aus und denkt sie damit zu versöhnen. Unfähig, der Leidenschaft großer historischer Prinzipien teilhaftig zu werden, die den Sohn gegen den Vater, den Bruder gegen den Bruder sich erheben lassen, gibt er seine moralische Impotenz, in der alles entpersönlicht wird, als Synthese aus. Daher jene vermeintliche Kühnheit, mit der er extreme Schlussfolgerungen in beiden Richtungen zieht. Das neue religiöse Bewusstsein adoptiert „alle Überlieferungen, alle Dogmen, alle Sakramente, alle Offenbarungen“ und zugleich die gesamte Kultur und deren Quintessenz, die Wissenschaft. Er übernimmt Überlieferungen, die den Schweregesetzen und dem Gesetz der Undurchdringlichkeit widersprechen und die ganze euklidische Lehre auf den Kopf stellen, zur gleichen Zeit aber alle vergangenen und zukünftigen Errungenschaften des Menschen, die auf den Gesetzen eben dieser euklidischen Lehre beruhen. Aber wie übernimmt er sie? Verwandelt er sie zu einer höheren Synthese? (Wo ist sie, wo wird sie angedeutet?) Oder versöhnt er sich einfach mit dem unausgetragenen Gegensatz, indem er ihn zu einem feigen Kompromiss entwickelt?
Der alte Karamasow sagt: „ich aber bin bereit an die Hölle zu glauben, nur muss sie ohne Decke sein ... Nun, wenn keine Decke da ist, dann können folglich keine Haken sein. Und wenn keine Haken da sind, ist ohnehin alles hinfällig“. Womit und wie gedenkt Mereschkowski dieses Allerwelts-Voltairianertum, diesen Reflex der rationalistischen Formen unseres gegenwärtigen Lebens zu überwinden? Mit „Flegeln“ einschüchtern. Das ist recht wenig: wenn schon Haken nicht mehr schrecken – dann tut es ein Wort erst recht nicht. Und dabei ist dieses doch nur der erste Schlag. Der zweite, weitaus schwerere, kommt von der Naturwissenschaft her. Was kann Herr Mereschkowski auf diesem Gebiet eigentlich bieten? Wie und wodurch will er mit den Naturwissenschaften ins Reine kommen?
Die dritte, schon ganz und gar seine Kräfte übersteigende Prüfung geht von der historischen, evolutionären oder dialektischen Methode aus, die das eigentliche Wesen der modernen Denkweise ausmacht. Ob auf der Erde, ob unter der Erde, alles betrachtet sie als Prozess der Entstehung, Entwicklung und des Vergehens. Schritt um Schritt reinigt sie die jungfräulichen Räume, verdrängt aus ihnen die mythologischen Gestalten und entfaltet das wahre Bild der Entwicklung – vom Atom zur Amöbe und von der Amöbe zu Herrn Mereschkowski. Indem sie nachweist, auf welcher Stufe der biologischen Entwicklung, unter welchen Voraussetzungen und in welche Form der Glaube an Wunder entstand und welche Wandlungen er durchmachte, unterwirft sie das „Wunder“ in seinen psychologischen Wurzeln den Naturgesetzen und vernichtet es damit.
Wenn Mereschkowski damit Recht hat, dass die ersten Christen die Prüfung nicht bestanden hätten, wenn sie in ein Lehrbuch der Kirchengeschichte hineingesehen hätten, so ist die Frage gestattet: wie ist denn das Verhältnis des Herrn Mereschkowski selbst zur wissenschaftlichen Geschichte der primitiven Religionen? Hat er selbst sich dieser Prüfung ernsthaft unterzogen? Der Darwinismus, der Marxismus – ist er mit ihm klar gekommen? Geradezu überflüssig, solche Fragen zu stellen. In den Arbeiten Mereschkowskis spürt man auch nicht den leisesten Hauch einer historischen Methode Seine subjektivsten und modernsten Bedürfnisse versucht er, mit der sturen Hartnäckigkeit eines verknöcherten Schriftgelehrten aus den alten, ihrer historischen Wurzeln beraubten Texten zu erklären. In der Weltgeschichte erblickt er nicht den gesetzmäßigen Entwicklungsprozess des kollektiven Menschen, der sich von der Kette seiner zoologischen Vorfahren losgerissen hat und sich planmäßig die Erde unterwirft, sondern ein buntes, sich bewegendes Panorama, in dem der mächtige Zufall von Zeit zu Zeit durch direkte Einmischung unirdischer Kräfte in Zaum gehalten wird. Aber wo bleibt hier die Wissenschaft? Und wo ist hier die Aussöhnung der Kultur mit der Mystik! Hierbei wird doch faktisch die Seele der Kultur ausgeschaltet: die wissenschaftliche Methode der Welterkenntnis. Aber die Kultur minus der sie beseelenden wissenschaftlichen Ideen ist nur Komfort. Es ist nicht die Eiche, sondern nur die Eichel. Dass ein Egoist, und besonders ein nüchterner, die goldenen Eicheln modernsten Komforts mit den Eichen alter Überlieferungen .in höchster Einheit miteinander versöhnen, kann, ist gar kein Wunder. Aber lohnt es denn, deswegen einen Gemüsegarten „des neuen religiösen Bewusstseins“ anzulegen?
Wenn Aljoscha Karamasow, der intimste Patron des Herrn Mereschkowski, ehrerbietig über die Buchweizenfladen beim Leichenschmaus äußert: „altehrwürdig, ewig und darum gut“, dann spüren sie, so sehr Dostojewski sich hinter seinem armen und unpersönlichen Aljoscha verbergen mag, dass ihm, Dostojewski, die Fladen des Leichenschmauses im Halse stecken bleiben würden, weil der Autor der Karamasows die wirklichen Tiefen und die wahren Widersprüche sieht. Herr Mereschkowski aber verpflichtet sich, während er eine neue Epoche des menschlichen Geistes eröffnet, den ganzen Fladen des Rituals auf das Gewissenhafteste zu verzehren, und denkt, dass er durch diese Großtat Erde und Himmel versöhnen könnte ...
Am Ende aber ergibt sich Folgendes: obwohl Mereschkowski genau weiß, dass das tausendjährige Reich der Heiligen erst ganz zum Schluss, erst vor der Zerstörung der kosmischen Welt kommen wird; obwohl er das Problem des Teufels, und zwar endgültig, gelöst hat; obwohl er sogar verspricht, mit der Leichenschmaus-Fladen (wenn er sich schließlich nicht doch noch als Kloß erweisen sollte!) fertig zu werden, so hat er damit nicht nur die objektiven Gegensätze zwischen Realismus und Mystizismus nicht ausgesöhnt, sondern auch sein inneres Gleichgewicht in keiner Weise gefunden. „Besser Hanswurst sein“ – gesteht er selbst – „als moderner Prophet“. Und ist es nicht fatal, dass er dabei ausgerechnet an den Hanswurst denkt?
Jener Teufel, der wegen eines Diplomatenabends bei einer Petersburger Dame sich entsprechend verkleidet hat: Frack, weiße Krawatte, Handschuhe – und in dieser Aufmachung durch die Sternenräume jagte, in denen eine Temperatur von minus hundertfünfzig Grad herrschte, so dass er ein furchtbares Rheuma erwischen und dieses mit Hoff‘s Malzextrakt kurieren musste (wer sich verkörpert, muss auch die Folgen auf sich nehmen!) – dieser rheumatische Teufel Iwan Karamasows bestimmt ja voll und ganz das Niveau – das man rundheraus närrisch nennen kann – auf dem Mereschkowski seine vermeintliche Synthese sucht. Dem Geist öffnen sich: die Ewigkeit und der Äther der Sternenräume – nichts Unzugängliches! – und für die vorübergehende leibliche Verkörperung: der Malzextrakt der materiellen Kultur ... Und völlig unbegründet erweist sich unsere ursprüngliche Annahme, dass die Ironie angeblich tot umfällt angesichts eines kultivierten Europäers, der des Teufels exakte Formel herausgefunden hat. So ist es wirklich nicht! Wie fremd Mereschkowski die Heinesche Urgewalt des frechen Witzes auch sein mag – der die Grenzen zwischen der Hölle und dem Malzextrakt ebenfalls verwischt, nur vom anderen Ende her – um so empfindlicher ist er gerade auf dieser ungeschützter Seite, um so mehr fürchtet er das voltairesche Gift, um so mehr Angst hat er, ungeachtet all seiner zur schau getragenen Kühnheit, vor der Lächerlichkeit seiner Mission
Nehmen sie als Beispiel eine unheilschwangere Prophezeiung des Herrn Mereschkowski, der nichts mehr und nichts weniger als den Untergang der Stadt Petersburg an der Newa im Feuilleton der Zeitung Rjetsch vorausgesagt hat: „Petersburg wird wüst und leer sein“. Was ist das? Ein Spiel des Verstandes? – Aber wer wird denn so ... spielen? Eine Verhöhnung? Wessen denn? – Ein mystischer Aberglaube? – Und dies bei einem Pariser Gehrock? „Ich habe wahrscheinlich Fieber“, erläutert Mereschkowski, „wundern sie sich nicht, dass meine Worte Fieberfantasien gleichen“. Das bedeutet, dass er seine Weissagung ernst nimmt, weil er sich zur Milderung auf sein Fieber beruft. Aber gestatten sie: eins, zwei, drei, vier ... vierundzwanzig Zitate! Machen sie sich die Mühe, es nachzuprüfen: im pythischen Feuilleton zwei Dutzend Zitate: aus „Petersburgs alte Zeiten“, aus Lermontow, aus Dostojewski natürlich, aus einem Fabrikarbeiterlied, aus Radischtschew, natürlich noch einmal aus Dostojewski, aus Antiochus Kantemir, aus Iwan Aksakow, selbstverständlich aus der Apokalypse usw. ... Wer prophezeit denn auf diese Art, so wage ich zu fragen, besonders halb im Fieber? Man fantasiert zwei Zeilen, nimmt dann ein Buch vom Regal, schreibt ein Zitat ab, und dann kommt wieder eigenes. Dann fünf Zeilen Prophezeiung, wieder ein Buch heruntergenommen, ein Verslein abgeschrieben und wieder in die Arme des prophetischen Fiebers. Und so ist es bei Mereschkowski immer: man geht wie auf Schotter und riskiert jede Minute, auf irgend etwas Spitzes zu treten und, was das Schlimmste ist, man verliert bald jede Hoffnung, dass dieser zermürbende Weg überhaupt irgendwohin führt.
Was stellt denn diese unglückselige Zitatomanie Mereschkowskis dar, die seine Aufsätze zu einem unmöglichen Sammelsurium aus willkürlichen Bruchstücken von Gedichten und Prosa, vermischt mit eigenen halben Gedanken und halben Andeutungen, die ebenfalls zusammenhanglosen Zitaten gleichen?
Zweifellos ist ein Zitat zuweilen sowohl nützlich als auch unentbehrlich. Es kann überzeugen oder bezeugen. Es kann unterhaltend sein oder der Ausschmückung dienen. Es kann sogar die Bescheidenheit des Autors erkennen lassen, wenn er, seine Darstellung unterbrechend, beiseite tritt und das Wort einem anderen, einem Größeren überlässt.
Mereschkowskis Zitate sind keine Beweise, weil er überhaupt nichts beweist, und sie dienen auch nicht der Ausschmückung, weil es schwer ist, sich eine Manier vorzustellen, die für den literarischen Geschmack beleidigender wäre. Es ist auch keine Bescheidenheit, denn Mereschkowski zitiert wahllos, große und kleine, und fast immer mit einer empörenden Missachtung des Autors, indem er oft zwei, drei Worte, eine Zeile nur wegen des Gleichklangs herausgreift. Erst verblüfft einen diese Manier durch ihre maßlose Geschmacklosigkeit und, wenn es erlaubt ist, im Hinblick auf unseren so überaus europäischen Schriftsteller so etwas zu sagen, sie verblüffen gerade wegen ihrer Kulturlosigkeit. Ein ungeheuerlicher Mangel an Maß und die Sucht nach übertriebenen Effekten kennzeichnen den Kulturparvenu, der sich zu prunkvoll kleidet, um comme il faut zu sein, der in der Literatur zu provozierend „brilliert“, um einen vollendeten ästhetischen Eindruck hervorzurufen. Zuweilen erinnert diese wahllose Gier nach Wortflitter schon völlig an einen wilden, der sich mit einer Straußenfeder ziert, sich einen Ring durch die Nase zieht und mit einer Bierflaschenscherbe schmückt. Aber bei Mereschkowski, diesem äußerst kultivierten und aufgeklärten Schriftsteller, muss diese Vergewaltigung des Geschmackes doch irgendwelche eigenen, tieferen Ursachen haben. Und die hat sie auch.
Wenn man nicht befürchten müsste, allzu grob verstanden zu werden, könnt man sagen, dass in dieser literarischen Manier das schlechte Gewissen zutage tritt: „mystische“ Ohnmacht, die die Skepsis und Ironie nicht überwinden kann, schöpferische Impotenz, die mehr als alles andere Klarheit und Einfachheit fürchtet. Wo es an Ideenkraft fehlt, kommt literarische Arglist zu Hilfe. Und das Zitat ist ihr Werkzeug. Die Kühnheit, mit der es Mereschkowski unternimmt, uns Kindern des 20. Jahrhunderts seine apokalyptischen Prophetien zu präsentieren, ist nur Fassade; hinter ihr aber versteckt sich die geheime Angst vor der eigenen Nüchternheit. Wer von Leidenschaft erfasst ist, fürchtet sich nicht, lächerlich zu wirken. Er prophezeit, ohne mit dem Fieber zu kokettieren, und kündet den Weltuntergang, ohne sich hinter Zitate zu verbergen. Die geistige Feigheit Mereschkowskis ist unvergleichlich tiefer und inhaltsvoller als seine phraseologische Kühnheit, und das in einem Grade, dass seine gespielte Kühnheit zum Laufburschen seiner Feigheit wird.
Das psychologische Versteckspiel vor sich selbst kann man auch weiterhin verfolgen, wenn man von den Zitaten zu deren Verfassern übergeht. Mereschkowski hat immer „Weggenossen“: Dostojewski, Tolstoi, Gogol, Lermontow, Herzen und viele andere. Am meisten fürchtet er, Auge in Auge mit sich selbst allein zu sein. Entgegen Mereschkowskis eigener Definition sind seine Weggenossen keineswegs „ewig“ – denn sonst müsste er ständig im Gedränge gehen. Es wird richtiger sein, zu sagen, dass Mereschkowski selbst ein „Weggenosse“ war. Er schließt sich bald dem einen, bald dem anderen an, er begleitet sie wie ein ergebener und treuer, wie ein verliebter Schüler, der ihre Worte aufschnappt und ihre Gebärden wiederholt. Aber das ist nur äußerlich. In Wirklichkeit geschieht mit den imaginären „Weggenossen“ genau dasselbe wie mit den Zitaten, die ebenfalls zu drei Vierteln imaginär sind: sie dienen nur als Deckung, und Mereschkowski verwendet sie, wie im Kriege einen Gefallenen, als Schutz vor feindlichen Kugeln. Wenn er nicht ein so eingefleischter Egoist wäre, hätte er sich nie erlaubt, seine Lehrer derart unverschämt zu behandeln, solche entstellenden psychologischen Vivisektionen an ihnen vorzunehmen. Die Großen der alten und der neuen Welt sind bei ihm immer nur Advokaten zur besonderen Verwendung: Advokaten Gottes oder Advokaten des Teufels. Mit jener kalten Symmetrie, die ihn auszeichnet, teilt er sie in zwei Glieder auf und beauftragt sie, das zu formulieren, was er in eigenem Namen und mit eigenen Worten nicht formulieren kann.
Wir wagen daher zu denken, dass die einzige wirkliche böse Macht, die Herrn Mereschkowski in Versuchung führt, jener Teufel oder, genauer gesagt, irgendein Teufelchen 14. Klasse war, das die Zitate verwaltet. Ach, diese verräterischen Zitate! Sie locken Herrn Mereschkowski mit ihrer fertigen Eleganz an, versprechen ihm, alle Risse in seinem „neuen Bewusstsein“ zu verkleistern und seine Gedanken in erhabenster und vorteilhaftester Weise darzustellen. Und dann, wenn die Sache erledigt ist und die Zitate wie verdorrte Blätter auf einen Haufen zusammengekehrt sind, steckt oben in diesem Haufen ein Teufelchen seine Zunge heraus und sagt: „was ist denn das: sie maßen sich an, Prophet zu sein, und verfügen nicht über eigene Worte!“
Zuletzt aktualiziert am 27. November 2023