Leo Trotzki

 

Jewno Asef

(8./21. Mai 1911)


Aus: Kijewskaja Mysl, Nr. 126, 8./21. Mai 1911.
Nachgedruckt in Sotschinenija, Band 8, Moskau-Leningrad 1926.
Übersetzung nach dem russischen Text von Sozialistische Kritiker.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In Paris erschienen vor kurzem die „Schlussfolgerungen der juristische Untersuchungskommission in der Sache Asef“ in Form einer Broschüre mit 108 Seite. Die juristische Untersuchungskommission unter Vorsitz von A. Bach hielt 73 Sitzungen ab, befragte 31 Personen. Das Untersuchungsmaterial nimmt mehr als 1300 Seite in folio ein. Die gedruckten „Schlussfolgerungen“ stellen eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten gewonnenen Ergebnisse und grundlegenden Schlussfolgerungen aus ihnen dar.

Mit lebendigstem Interesse las ich diese Broschüre. Seit dem Januar des Jahres 1909, als Jewno Filipowitsch Asef, das Mitglied der Kampforganisation und des Zentralkomitees der Partei der Sozialrevoluti>onäre, als professionellen Provokateur entlarvt wurde, erwuchs ringsum um diese Figur eine umfangreiche internationale Literatur. Sie stand hauptsächlich unter dem Zeichen der Sensation. und klar: wirklich zu ungeheuer-sensationell war das Faktum selbst, zu sehr regte es wirklich die Vorstellungskraft an. In der Seele beinahe jedes Menschen, besonders aber in der Seele des Philisters, lebt so ein – wie kann man es ausdrücken? – romantischer Eingeweidewurm, welcher im Getümmel des Alltäglichen stilsteht, aber, wenn er durch eine Sensation geweckt wird, neue und immer neue Nahrung, immer mehr Außerordentliches verlangt. Dies führt dann auch zu Neugier, welche an einem Löffel saugt. In unserer gnadenlosen Zeitungszeit erreicht jedes Ereignis den Leser in einer unzähligen Menge von Widerspiegelungen, die sich immer mehr und mehr vom Historischen entfernen. Wenn ihr neue Nahrung fehlt, ernährt sich die Sensation von Widerspiegelungen der Widerspiegelung – zweiten, dritten ... n + ersten Grades. Schließlich, wenn die vorgesehene Zeit vergangen ist, die von der psycho-physiologischen Natur des Eingeweidewurms der Romantik bestimmt ist, füttert die Sensation einen Nachgeschmack, und das Ereignis, das sie hervorgerufen hat, wird unter einem Hügel von Zeitungspapier beerdigt.

Die von der Sensation gereizte gesellschaftliche Psyche verlangt nicht nur immer mehr außerordentliche Varianten, sondern nimmt sogar auch mit gewisser Kränkung solche Erklärungen auf, welche das Ereignis in realistische Grenzen führen. Sie will allgemein in solchen Fällen keine Erklärungen, sie verlangt das Rätselhafte, Problematische. Der machtvollste Terrorist, der zum Departement der Polizei gehört; der bevollmächtigtste Agent, der Morde am Minister für innere Angelegenheiten und am Großfürst organisiert – ist das etwa nicht eine in ihrem inneren Widersprüchen titanische Figur, die aus dem Rahmen des Menschlichen und nur Menschlichem weit herausragt? Die am meisten nüchtern-intelligenten Leute waren mit einer gewissen psychologischen Wollust ratlos vor der Problematik des „größten Provokateurs“. Bei ihnen mengte sich zu diesen Gefühlen sogar ein gewisser Farbton von Nationalstolz. „Asef, darf man sagen, hat es Europa durchaus gezeigt“. In der internationalen Öffentlichkeit der europäischen Cafés sahen viele Russen wirklich aus wie Leute, die ihren Namenstag feiern.

Es gab auch Protestierende, und sogar viele. Einer meiner Kumpel, ein Mensch von galliger Natur und nicht einmal ein Universitätsabsolvent, geiferte aus Anlass des Kults des Asefschen Dämonismus außerordentlich.

„Asef kenne ich nicht“, – sagte er, – „bislang hörte ich auch niemals von ihm, aber ich erlaube mir zu denken und erdreiste mich sogar, diesen Gedanken laut auszusprechen, dass er keine dämonische Eigenschaft haben kann, weil er nach seiner Natur der vollkommenste Holzklotz sein muss. Um 17 Jahre lang ein diabolisches Spiel zu spielen, zu lügen ohne überprüft zu werden, zu täuschen, ohne erwischt zu werden, muss man entweder ein Genie von sieben Spannen in der Stirn sein, oder umgekehrt ein Mensch mit zum Extrem vereinfachter Mechanik von Kopf und Herz, einfach ein Dummkopf, welcher sein Spiel grob, geradlinig, dreist, nicht an fremde Psychologie angepasst, nicht sich in Details verzettelnd spielt und gerade deshalb als Sieger erscheint. Aber man wird einverstanden sein, dass es unvergleichlich natürlicher ist, davon auszugehen, dass Asef ein Schwachkopf, als dass er ein Genius ist. Erstens, deshalb, weil man Schwachköpfen in der Natur unvergleichlich häufiger begegnet, aber, zweitens und hauptsächlich deshalb, weil Genies die Gewohnheit haben, für ihre Kräfte Anwendung außerhalb der Wände der Geheimpolizei zu finden“.

Diese paradoxe Hypothese, die mir vom ersten Anfang an sehr verlockend schien, erhielt in meinen Augen einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit nach ihrem Vergleich mit einer lehrreichen Anekdote, die Herr Struve à propos Asef erzählte. Die Anekdote gehörte jener beinahe vorsintflutlichen Epoche an, als der rote radikale Struve die marxistische Zeitschrift Natschalo redigierte und noch der Absicht sehr fern stand, simpel den Geizhals (selbstverständlich, in einem höchst nichtsemitischen Sinne [1]) zu klopfen. Damals war unser zukünftiger konservativer Nationalliberaler noch selbst ein leckerer Happen für das Polizeidepartement, welches auch Gurowitsch als „Mitarbeiter“ zu sich beorderte. Der ungebildete Spitzel erwies sich als Mitherausgeber der achtbaren Zeitschrift, übrigens, nebenbei gesagt, ohne für die Verlagskasse einen Groschen zu zahlen, obgleich man meinen sollte, dass er seinen Beitrag, den er schuldig war, vollständig aus der Staatskasse erhielt, worüber man beim damaligen Finanzminister Herrn Witte Auskunft verlangen könnte, der sich jetzt mit Enthüllungen beschäftigt. Für seinen Fehlgriff rechtfertigt sich Herr Struve damit, dass Gurowitsch wirklich sehr dumm war, so dass es keinem vernünftigen Menschen auch nur habe in den Kopf kommen können, dass das Polizeidepartement für das Einfangen hochgebildeter Literaten einen solch abgefeimten Narren gebrauchen könnte. Mit der ganzen Ernsthaftigkeit eines unverbesserlichen Doktrinärs rieb Herr Struve sogar diese Gurowitschsche Torheit dem Departement ein wenig unter die Nase: „Schämen Sie sich“, sagte er – „sie nennen sich Staatseinrichtung, aber sie konnten keinen schlauen Menschen bereitstellen!“. Aber gehen sie los: bei seiner ganzen Torheit spielte Gurowitsch die aufgeklärten Besserwisser aus, rühmte sich als ihr Kumpan, zeichnete mit seinem Namen eine linke Zeitschrift, ja, steckte sich noch einen ganzen Verlagsbeitrag in die Tasche, so dass er auch seinen Arbeitgeber für etwas wirklich abdeckte. Folglich erwies sich ein Narr für diese Mission als ganz und gar nicht schlecht. Und Herr Struve sollte als Ideologe eines konservativen Staatswesens Narren umso weniger unterschätzen oder gar erniedrigen ...

„Segne, Herr, die menschliche Torheit.
Sie ist mutig. Du wirst sie nicht erschrecken
mit lauten Worten. Sie hält einen Berg
für Hügel. Und so geschickt-blöde
legt sie Körnchen auf den Weg, dass der Besserwisser
kopfüber abwärts fliegt ...“

Verstand und Zartgefühl sind nicht immer ein Vorteil. Falls Asef in der Gesellschaft von Leuten mit intellektuellen, scharfsinnigen und treffenden Ansichten, in welchen er sich bewegte, feine psychologische Spitzen geklöppelt hätte, wäre er unausbleiblich auf jedem Schritt aufgeflogen und bezichtigt worden. Unter der Maske eines Ideenmenschen, der auf gleichem Fuß mit anderen steht, würde die taxierte Physiognomie eines Spitzels unbedingt hervorschauen, genau wie ein schmutziger Fußlappen aus einem durchlöcherten Lackschuh. Aber es ist eine andere Sache, weil Asef ganz und gar nicht ein solches Spiel versuchte, sondern offen seine physische und geistige Visage trug. Er veranlasste, sich an ihn zu gewöhnen – nicht kraft eines durchdachten und nach Plan erbauten Verhaltens, sondern einzig durch den automatischen Druck seiner blödsinnigen Unfähigkeit sich zu ändern. Seine Kumpane sahen auf ihn und sagten sich (sollten sich sagen): „Wirklich dieses Subjekt: der reinste Flegel – und dennoch zeugen seine Handlungen für ihn“. Nicht alle würde sich natürlich entscheiden, ihn einen Flegel zu nennen, nicht einmal nur zu sich selbst, aber alle sollten ungefähr so fühlen. Und das rettete ihn. Er erwarb ein für allemal das Recht ein Missklang in ihrem Milieu zu sein und offen sein Asefsches Wesen mit sich zu tragen.

In den Materialien der „Schlussfolgerungen“ gibt es verstreute Hinweise darauf, dass Asef als Mensch beschränkt, stumpf und ungebildet „aussah“. Fast alle klagen über den ersten Eindruck, den er erzeugte. Einer der befragten Personen resümiert den „ersten Eindruck“ so: „Wenn du auf den Menschen siehst, wirst du keinen Groschen für ihn geben, aber in der Tat sind die Menschen so“. „Er murmelt kaum“ – antwortete über Asef Gotz, der diesen sehr geschätzt hatte. Die „juristische Untersuchungskommission“, die sehr gewissenhaft in der Auswahl des Materials, aber überaus halbherzig in allen ihren Schlussfolgerungen ist, hält die Meinung von Asef als einer geistige Nichtigkeit für „extrem“. Sie weist dabei auf die Aussage eines Zeugen über eine Rede hin, die Asef mit „aufgeregter Stimme“ im Jahre 1901 in einem Moskauer marxistischen Zirkel zur Verteidigung der Ideen Michailowskis und besonders dessen „Kampfes für die Individualität“ hielt. Aber man weiß wenig, was für Reden dort für und gegen Michailowski gehalten wurden – im Jahre 1901! Aber wirklich zeigt das Faktum, dass man als intellektuelles Formular Asefs nach sorgfältigen Ermittlungen bloß eine „aufgeregte“ Rede vorweisen kann, die zehn Jahre vorher gehalten wurde, besser als alles andere, dass dessen geistiges Schaffen keine sprudelnde Quelle war. Konnte es jedoch anders sein? Das Subjekt, das ganz gewohnt war, sowohl das Haupt von Plehwe als auch das Haupt von Gerschuni in Silberrubel umzurechnen, das mit Brownings und Dynamit genau wie mit provenzalischen Butter spekulierte, war absolut unfähig, irgendwelche ernsthaften Interessen an Fragen der Sozialisierung, der Kooperation und des Kampfes für die Individualität zu imitieren. Er war deshalb auf allen Parteiberatungen schweigsam, „murmelte“ manchmal „ein wenig“ – und weder durch Ideen noch durch Reden imponierte er seinen Genossen. Umgekehrt verbarg er ganz und gar nicht seine geschäftsmäßige Verachtung für alle Arten von Verstand, riskierte es sogar, das auf jede Art und Weise zur Schau zu stellen. und das stellte ihn bei den Ideologen, Theoretikern und Literaten der Partei als eine Art Plus dar, als die Beziehung eines wahrhaft militärischen Menschen zu zivilen Beschäftigungen kennzeichnend. Aber falls er danach vor dem Hintergrund dieser fest etablierten Beziehung zu sich irgendwelche „theoretischen“ Erwägungen fallen ließ, wenn auch völlig spottbillige, welche von jenen, die man auf der Straße vorzeigen darf – dann wechselten alle die Blicke untereinander mit jenem ironisch-achtungsvollen Blick, mit dem Ostap über seinen Vater Taras [Bulba] glaubte: er gab nur vor, ein Narr zu sein, aber er hatte die höchste lateinische Weisheit mit Löffeln gefressen.

Aber wenn die „Schlussfolgerungen“ ohne große Zuversicht über den geistig-theoretischen Wert Asefs sprechen, welcher in gewissem Grade dessen Einfluss hätten erklären können, dann beharrt die Untersuchungskommission umso energischer auf Asef als auf einem genialen Heuchler. Seine Rolle als echter Parteimensch spielte Asef gewissermaßen „mit Vollkommenheit“, als ob er seinen Plan mit beeindruckender Kunst ausführte: er hob sich nicht heraus, stellte sich nicht nach vorne und zwang sich nicht auf. Dennoch bekräftigen die Daten der Kommission selbst eine solche Charakteristik durchaus nicht. Es zeigt sich, dass „manchmal“ Asef durchbrach und die für ihn typische Natur von Härte und Gefühllosigkeit bekundete. So berührten z. B. Berichte über das Entsetzen der Foltern und Gefängnisfolterungen ihn überhaupt nicht, was einfach einen sonderbaren Eindruck auf dessen Freunde hervorrufen musste. Aber indem er mit seiner dumpfen Unbeweglichkeit auf alle drückte, nötigte er sie, ihn so zu nehmen, wie er sich gab: „Die Seltsamkeit seines Charakters“ wurde nach den Worten der „Schlussfolgerungen“, mit einem „Mangel an seelischem Zartgefühl und jener Festigkeit, welche in gewissen Grenzen die Pflicht eines Menschen ist, der Verantwortung für die Kampforganisation trägt“ erklärt. Folglich beunruhigten ungeachtet dessen die Härte und Gefühllosigkeit und andere herausstechende „Seltsamkeiten des Charakters“ und sie brachten ein Bedürfnis nach Erklärung hervor? Aber wo war in einem solchen Falle die „Vollkommenheit des Spiels“?

Die Materialien der Kommission bekräftigen auch überhaupt nicht ihre Behauptung, wonach Asef sich nicht heraushob und nicht aufzwang, indem er seinen „Plan“ einhielt. In der Tat hob sich Asef nur in der allerersten Periode nicht heraus, als er wie auch jeder Spion schüchtern und verloren war. Außerdem konnte er nirgendwo besonders herausragen, weil die Partei der Sozialrevolutionäre noch nicht bestand, und Asef sich mit einzelnen Personen und Gruppen befassen musste. Aber in dem Maße, in dem er anfing, irgendwo einen Braten zu riechen, hob sich Asef bereits in jener Zeit heraus ... und obendrein sehr plump. In der Schweiz stellte er sich im Jahre 1893 als „extremer Terrorist“ zur Schau. Als Burzew, von niemandem unterstützt, in den neunziger Jahren von London aus eine Agitation für die Wiederaufnahme des Terrors begann, grüßte ihn der damals noch wenig bekannt Asef mit einem Brief und bot ihn seine Dienste an. Folglich stellte er sich auch zur Schau und zwang sich auf. Viel später, bereits nach der „Angelegenheit Plehwe“, als sich Asef nicht nur an der Spitze der Kampforganisation, sondern auch an der Spitze der ganzen Partei befand, zumindest organisatorisch, begann er mit einer solchen despotischen Frechheit eines Spitzels, der sich viel einbildete, zu handeln, dass er bei einigen seiner Genossen ernsthafte Bedenken hervorrief, ob es bei dem großen Konspirateur nicht mit dem Verstand abwärts ginge. Folglich grub er sich auch ein und verlor jedes Maß.

Aber er ließ sich nicht erwischen! – hier liegt das Rätsel aller Rätsel. Mit Erstaunen verwiesen sie darauf – und das Erstaunen ging buchstäblich durch alle Zeitungen der Welt –, dass Asef sich nicht einmal verriet ... nicht einmal im Fieberwahn seiner Träume. Sind das nicht übermenschliche Selbstbeherrschung, dämonische Kräfte? Aber erstens: wer stenografierte die Asefschen Träume und wer unterzog sie danach der juristischen Untersuchungsanalyse? Zweitens: können etwa nicht in dieser Beziehung untreue Ehefrauen mit dem Teufel der Provokation wetteifern, von welchen gleichfalls nicht festgestellt ist, dass sie im Schlaf betrogenen Ehemännern vertrauensselige Geständnisse machen?

Aber wie auch immer die Sache mit den Asefschen Träumen stand, Fakt bleibt das Faktum: im Verlauf einer Reihe von Jahren seiner Provokateurs-„Arbeit“ ließ Asef sich nicht erwischen, und dies allein muss offensichtlich bereits als bester Nachweis für dessen aus der Reihe herausragende Ausdauer dienen. Wie ist jedoch das sakramentale „ließ sich nicht erwischen“ zu verstehen? Bedeutet das: er machte keine Fehler, zumindest keine groben? Oder aber muss man das einfach in dem Sinn verstehen, dass auch die allergröbsten Fehlgriffe unter jenen Bedingungen, die ringsum Asef geschaffen wurden, unfähig waren, diesen zugrunde zu richten? Hier ist die Wurzel der ganzen Frage. Und wenn man sich dem Rätsel von dieser Seite nähert, dass springt sofort ein wahrlich beeindruckender Umstand ins Auge: beinahe im gesamten Verlauf der Karriere Asefs folgten ihm Gerüchte und direkte Anschuldigungen von Provokation auf den Fersen. Schon in Darmstadt, wo Asef Student war, sprach einer der Professoren im privaten Gespräch die Worte über ihn: „dieser Spion“. [2]

im Jahre 1903 erhebt irgendein Student gegen Asef die Anschuldigung der Provokation. Im August des Jahres 1903 erhält ein angesehener Sozialrevolutionär einen anonymen Brief (geschrieben, wie nun bekannt ist, von Menschikow [3] – nicht von jenem, der in der Nowoje Wremja dient, sondern von jenem, der im Polizeidepartement diente) mit sehr bestimmten und überzeugenden Hinweisen auf einen „Ingenieur Asiew“ als einen Provokateur. Asef, welcher mit dem Brief bekannt gemacht wurde, erschreckte sich bis zur Hysterie: er riss sich das Hemd auf, bekam einen Schluckauf und weinte. Aber als er sich vergewissert hatte, dass seine Chance nicht erschüttert war, geriet er „in eine scherzhafte Stimmung“. Zu Anfang des Jahres 1906 erhielt die Partei Aussagen gegen Asef von Seiten von Agenten der Saratower Geheimpolizei. Im Herbst des Jahres 1906 – derartige Aussagen von Seiten eines Ochrana-Tschinowniks einer südlichen Stadt. Im Herbst des Jahres 1907 kam der so genannte Brief aus Saratow mit vollkommen bestimmten Aussagen faktischen Charakters, die leicht einer Nachprüfung unterzogen werden konnten, auf die Bühne; jedoch wurde sie wie auch alle vorhergehenden einer Nachprüfung nicht unterzogen. Schließlich, als bereits nach alledem Burzew im Jahre 1908 seine Entlarvungskampagne beginnt, begegnet er verzweifeltem Widerstand von Seiten der leitenden Sphären der Partei. Darüber hinaus: als bereits bekannt war, dass Lopuchin den Verdacht Burzews völlig bestätigte und dieser letztere beabsichtigte, Asef in einem gedruckten Blättchen als Provokateur zu outen, gab ein Mitglied des Zentralkomitees Burzew die Korrekturfahnen des Abdrucks dieses Blättchens mit den Worten zurück: „Asef und die Partei – das ist ein dasselbe ... handeln Sie, wie Sie wollen“.

Wegen aller dieser Fakten muss man fragen: welche Bedeutung konnten diese oder jene mittelbaren Fehlgriffe Asefs im Vergleich mit diesen direkten Anschuldigungen haben? Wenn sie nicht den im höchsten Grad überzeugenden dienstlichen Meldungen der Ochrana mit Darstellungen der Umstände der Angelegenheiten glaubten, wenn sie so von ihm eingenommen waren, dass sie den Daten von Menschikow, Bakai und Lopuchin nicht vertrauten, konnten sie fähig sein, die Risse im Verhalten von Asef selbst, dessen plumpe Gesten und sogar dessen grobe Fehler zu bemerken?

Es ist klar, dass sich das Geheimnis des Asefschen Erfolges nicht in teuflischem Geschick und nicht in dessen persönlichem Charme verbarg: wir wissen bereits, dass das Äußere bei ihm abstoßend ist, der erste Eindruck immer unangenehm, manchmal abscheulich ist, er frei von Interessen an Ideen ist, er ein wenig murmelt. Er ist ohne Zartgefühl, grausam, grob in seinen Gefühlen und in ihrem äußeren Ausdruck, zuerst hat er einen Schluckauf aus Angst, aber beruhigt geht er in eine „scherzhafte Stimmung“ über ...

Das Geheimnis der Asefiade liegt außerhalb von Asef selbst; es liegt in der Hypnose, welche dessen Parteifreunden erlaubte, die Finger in das Geschwür der Provokation zu legen und – dieses Geschwür zu leugnen; in der kollektiven Hypnose, welche nicht von Asef geschaffen wurde, sondern vom Terror als System. Denn die Bedeutung, welche an den Spitzen der Partei dem Terror verliehen wurde, bewirkte, nach den Worten der „Schlussfolgerungen“ – „auf der einen Seite den Aufbau einer vollkommen abgesonderten, über der Partei stehenden Kampforganisation, die eine unterwürfige Waffe in den Händen Asefs wurde; auf der anderen – die Schaffung einer Atmosphäre der Anbetung und des grenzenlosen Vertrauens rings um Personen, die erfolgreich Terror praktizierten, gerade rings um Asef“ ...

Bereits Gerschuni umgab seine Position in den Augen seiner Partei mit einer halbmystischen Aureole. Asef erbte von Gerschuni dessen Aureole zusammen mit dem Posten des Leiters der Kampforganisation. Dass Asef, welcher einige Jahre vorher Burzew seine Dienste für terroristische Aufträge anbot, nun Gerschuni ausfindig machte, das ist einfach. Aber einfach ist auch das, dass Gerschuni Asef annahm. Zuallererst war die Auswahl in jenen Zeiten noch überaus klein. Die terroristische Strömung war schwach. Die revolutionären Hauptkräfte standen im gegnerischen, marxistischen Lager. Und ein Mensch, welcher weder prinzipielle Zweifel noch politische Schwankungen kannte, welcher bereit für alles war, war ein wahrhafter Schatz für einen Romantiker des Terrorismus, wie es Gerschuni war. Wie konnte ungeachtet dessen der Idealist Gerschuni einer solchen Figur wie Asef sittlich vertrauen? Aber das ist die alte Frage über die Beziehung des Romantikers zum Schuft. Der Schuft imponiert immer dem Romantiker. Der Romantiker verliebt sich in den kleinlichen und faden Praktizismus des Schufts, stattet diesen mit verschiedenen Eigenschaften aus seinem eigenen übermäßigen Vorrat aus. Deshalb ist er auch Romantiker, weil er für sich eine Umgebung aus eingebildeten Umständen und eingebildeten Leuten schafft – nach seinem eigenen Bild und Vorbild.

Die juristische Untersuchungskommission entdeckt die offenbare Bestrebung, dem „subjektiven Faktor“ einen möglichst breiten Spielraum auf Kosten der objektiven Umstände zu geben. Insbesondere wiederholt sie beharrlich, dass die Isolation und Abgeschlossenheit der Kampforganisation das Resultat einer bewusst durchdachten und geschickt durchgeführten Politik Asefs gewesen seien. Jedoch von derselben Kommission hörten wir vorher, dass die Isolation der Kampforganisation aus dem Charakter der ultrakonspirativen und zirkelmäßig abgeschlossenen Praxis des Terrorismus entflossen. Und das kann man nicht besser bekräftigen als durch die Untersuchungsmaterialien. Die organisatorische Position Asefs bereitete Gerschuni nicht nur vor, sondern schuf sie auch völlig. Gerschuni, der Begründer der Kampforganisation, in welcher er selbst nach den Worten der „Schlussfolgerungen“ Diktator war, verband sie mit dem Zentralkomitee durch eine rein persönliche Verbindung und verwandelte sie dadurch in eine über der Partei stehende Institution; aber danach erwarb Gerschuni durch die ganze Autorität der KO, welche er in sich verkörperte, auch im ZK entscheidenden Einfluss. Als der Mechanismus geschaffen war, wurde Gerschuni entfernt – ihn ersetzte Asef, welchen Gerschuni als Nachfolger vorsah. Indem er eine von der Partei isolierte und sich über die Partei erhebende Position einnahm, war Asef gewissermaßen in einem befestigten Unterstand: alle übrigen Mitglieder der Partei konnten ihn nicht angreifen. In der Schaffung dieser Position finden wir nicht eine persönliche „Schöpfung“ Asefs: er nahm einfach das, was ihm das System gab.

Das Vertrauen zu Asef als zum „großen Praktiker“ wuchs. Aber das Haupt-, wenn nicht das einzige praktische Talent von ihm bestand darin, dass er nicht in die Hände der politischen Polizei fiel. Dieser Vorteil gehörte nicht zu seiner Persönlichkeit, sondern zu seinem Beruf; aber er wurde seinem Geschick, seiner Findigkeit und Ausdauer in Rechnung gestellt. Nach Meinung der „Kämpfer“ kannte Asef „so etwas wie Angst nicht“. Von daher ihre Verehrung für Asef, welcher in ihren Augen das Ideal des „Kämpfers“ verkörperte, wie in den Augen der übrigen Partei die Kampforganisation insgesamt. Danach ging alles beinahe automatisch. Wer mit dem Beistand Asefs einen Anschlag unternahm, kommt ums Leben – gleichfalls mit dem Beistand Asef; aber der Abglanz des Vollbrachten bleibt bei Asef als dem unerreichbaren Organisator und Führer. Im Ausland, in den leitenden Ideenkreisen der Partei, erschien Asef, nach der Schilderung der Kommission, „wie ein Meteor, zeigte sich umgeben von einer Aureole von Heldentaten, in deren Details sehr wenige eingeweiht waren“.

Jene, welche sich gegen ihn stellten oder unabhängig von ihm arbeiteten, lieferte er aus; das war eine natürliche, beinahe reflexhafte Geste der Selbstverteidigung; aber als Resultat – stieg die Asefsche Autorität in beiden Lagern. Nach zu vielen Auslieferungen führte er – vielleicht sogar mit Kenntnis seiner nächsten Partner von rechts – ein paar terroristische Akte aus, welche seine Position im Angesicht seiner Partner von links festigen sollten. Dies machte seine Hände erneut für die Erledigung seiner Polizeiverbindlichkeiten frei. Er verriet, aber hinter seinem Rücken arbeiteten seine Vorgesetzten, richteten alle ihre Bemühungen darauf, ihren „Mitarbeiter“ zu erhalten und hinter ihm die Spuren zu verwischen. Und der Spion stieg mit beinahe fataler Kraft nach oben.

Das Gesagte muss nicht in dem Sinn verstanden werden, dass Jewno Asef mit keiner Seite seiner Persönlichkeit in jenes Spiel unpersönlicher politischer Kräfte eintrat, welche diesen zur historischen Figur machten. Es gab etwas in ihm, das diesen aus der Reihe der Judasse heraushob, die nicht weniger gemein, aber noch nichtiger sind. Mehr Selbstvertrauen, mehr Stumpfsinn, größere List, ein höherer gesellschaftlicher Rang (ein im Ausland diplomierter Ingenieur), alles das war bei Asef erforderlich, damit die Zähne der terroristischen und Polizeizahnräder in dieser menschlichen Figur hängen blieben und ihn auf eine solche Höhe des Entsetzens und der Blamage erhoben. Aber die Lösung dieses beeindruckenden Schicksals liegt nicht in der Figur selbst, sondern im Bau der Zahnräder und in ihrer Verbindung. Das Erschütternde sitzt in der Asefiade, nicht in Asef. Der „größte Provokateur“ hatte in sich nichts Dämonisches, – er war und blieb ein Schurke tout court.

* * *

Anmerkungen

1. Das russische Wort „жид“ (schid) ist sowohl eine abfällige Bezeichnung für Jüd*innen – die normale Bezeichnung ist „евре́й“, „Hebräer“ – als auch für „Geizhals“.

2. Im russischen Text auf deutsch mit russischer Übersetzung in Klammern – d. Übers.

3. über Menschikow s. in diesem Band die Artikel „Literatur eines enttäuschten Stipendiaten“ und „Harting und Menschikow“. – Red. [der Sotschinenija]


Zuletzt aktualiziert am 29. November 2023