Leo Trotzki

 

Die Auflösung naht

(16./29. April 1911)


Aus: Wiener Prawda, Nr. 20, 16./29. April 1911.
Nach Sotschinenija, Band 4, Moskau-Leningrad 1926
Übersetzung des russischen Textes von Sozialistische Klassiker.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


I. Der revolutionäre Stoß

Ein Unglück kommt wirklich selten allein. Zunächst starb gewissermaßen Tolstoi sehr ruhelos. Später starb Jegor Sasonow noch ruheloser. Später fügten die Studenten der Legende der „Beruhigung“ nicht wieder gutzumachenden Schaden zu, danach kündigte der Staatsrat den Gehorsam auf, danach trat die Staatsduma für den Rat ein, Gutschkow trat aus Protest zurück, aber obgleich Stolypin sich noch an der Macht hielt, wird für die Festigkeit von dessen Lage nun niemand einen Fünfer geben. Woher kommt das alles? Hier muss man sich zuallererst einen überaus bedeutenden Umstand klarmachen – nämlich: der unmittelbare Stoß, der das ganze Gebäude aus dem Zustand des Gleichgewichts stieß, waren die Studentenunruhen. Gauner und Dummköpfe schreiben von Tag zu Tag in der Regierungs- und Oktobristenpresse, dass der Universitätsstreik nicht glückte. in Wirklichkeit erreichten er solche Resultate, mit welchen im Voraus niemand planen konnte, welche auch jetzt der riesigen Mehrheit ihrer Teilnehmer noch nicht klar sind. Der Studentenstreik kompromittierte in überraschendem Grade die Regierung, untergrub den Ruf von deren Unbesiegbarkeit, riss deren Heiligenschein herab, zerstörte deren Autorität. Und diese Kräfte sind ein revolutionäres Faktum, sodass sogar die Liberalen, die alles gemacht hatten, was in ihrer Kraft stand, um den Streik zu untergraben, unter ihrem Einfluss großen Mut fassten und im Ernst in der Duma und in ihrer Presse begannen aufgebracht zu sein. Die Studentenschaft ist selbstverständlich eine zu schwache Abteilung, um das Regime des 3. Juni niederzuwerfen; aber Mut und Energie ihrer Erhebung erwiesen sich als ausreichend, um den Stolypinschen Ruf zu untergraben, der von den erschreckten besitzenden Klassen, von Oktobristen-Liebedienerei und Kadetten-Selbstverachtung gewoben wurde. Jedoch ist der liberale Kretinismus so tief, dass auch jetzt die Kadetten- und sogar die „links“-demokratische Presse, die ihre Spalten mit ausführlichen Bestimmungen der politischen Rolle jedes alten Narren aus dem Staatsrat füllten, überhaupt nicht verstehen konnten, dass die Rolle der sich erhebenden Studentenschaft beim Zusammenbruch der Stolypiniade Tausende Male beträchtlicher war als die Listen irgendeines Witte oder Durnowo hinter den Kulissen. So erwies sich das Studentenhandgemenge mit den Stolypinschen Feldwebeln, ungeachtet der bescheidenen Kräfte der Studentenschaft selbst, als prächtige Demonstration der Macht revolutionärer Aktionsmethoden.
 

II. Sie wussten, worauf sie abzielten

Aber wenn die Studentenbewegung die Rolle eines revolutionären Stoßes spielte, dann liegen die grundlegenden Ursachen der Stolypinsch-oktobristischen Krisen selbstverständlich viel tiefer, im Fundament des Gebäudes des 3. Juni selbst.

Die Oktobristen klagen jetzt, dass die Regierung um sie einen Bogen machte. Aber das ist Unsinn. Wer konnte denn in der Tat auch nur für eine Minute annehmen, dass die adlige Bürokratie, die die Volksrevolution im Blut ertränkte und zwei Dumas unterdrückte, als Resultat zustimmen würde, ihren Platz an „liberal“-konservative Vertreter des Kapitals, an den Moskauer Börsianer Gutschkow abzutreten?

Niemand betrog die Oktobristen, sie wussten, worauf sie abzielten. „Bauern und Arbeiter sind als politische Alliierte für der Bourgeoisie nicht vorhanden“. „Für die Bourgeoisie sind der einzige Alliierte – die Grundbesitzer“. So drückte mehrmals Golos Moskwy, das Organ Gutschkows, den grundlegenden Gedanken des Oktobrismus aus. Dies bedeutete selbstverständlich nicht, dass Kapitalisten und Adel ein und dieselben Interessen hätten – bei weitem nicht. Aber das bedeutete, dass alle tiefen Widersprüche ihrer Interessen verblassen und gehemmt werden, wenn auf der Bühne die sozialen Bewegungen der Volksmassen auftreten. Die kapitalistische Bourgeoisie konzentriert in den Mauern ihrer Fabriken und Betriebe Millionen Arbeiter und stieß mit ihnen von Angesicht zu Angesicht im Jahre 1905 zusammen und sie stellte mit geschlossenen Augen den ganzen Staatsapparat der auf die adlige Bürokratie gestützten alten monarchistischen Macht zur Verfügung. Indem sie sich mit den Grundbesitzern als dem „einzigen Alliierten“ vereinigten, schworen die kapitalistischen Klassen somit glatt dem Plan der Sanierung des inneren Marktes auf dem Weg der Zuteilung von Boden an die Muschiks ab: denn wann hätte der Adel freiwillig seinen Boden aus den Pfoten gelassen? Indem sie den Staatsumsturz vom 3. Juni 1907 als rettenden Akt segnete, d. h. sich unterwürfig vor dem Wiederaufbau der Selbstherrschaft beugte, die im Oktober des Jahres 1905 zerbrochen war, schwor die kapitalistische Bourgeoisie somit bewusst den Budgetrechten des Parlaments – aber das bedeutet auch einer ernsthaften Umgestaltung des Zarenbudgets, das völlig von adligem Parasitismus und bürokratischem Raub durchdrungen war – ab. Mit einem Wort: der Block des 3. Juni, der bei Licht des hellen Tages geschlossen wurde, bedeutete vom allerersten Anfang an die Herrschaft des Gutsbesitzers über den „Kaufmannssohn“, des Tschinowniks über den Gutsbesitzer und den Kaufmann, des Staatsrats über die Duma, des Kabinetts über die beiden „gesetzgebenden Kammern“, der Hofkamarilla über das Kabinett. Niemand betrog Gutschkow, er wusste, worauf er abzielte. Und man darf mit voller Gewissheit sagen, dass, wenn die Oktobristen um die Erfahrung der letzten vier Jahre weiser erneut zur Epoche des 3. Juni 1907 zurückkehren würden, sie alle ihre Schritte von Anfang bis Ende wiederholen würden.
 

III. Die Staatsmaschine des 3. Juni

Der Block des 3. Juni wurde durch einen fünffachen Knoten zusammengehalten. Erstens: Um abschließend die Oktobristenpartei zu zähmen, die die Börse mit dem weniger asiatischen Teil der Grundbesitzer vereinigt, beorderte Stolypin eine ganze Wolke von Tschinowniks und Hof-Marodeuren, welche auch der Partei ihren hoffnungslos-lakaienhaften Charakter verliehen. Zweitens: Die in ihrem Kapitalisten-Grundbesitzer-Kern kraftlose, durch ihre zusätzlichen Tschinownikabteilungen höchst erschöpfte Oktobristenpartei wurde in direkte Abhängigkeit vom rechten Gutsbesitzer- und Hooligan-Polizei-Flügel der Duma gebracht, ohne welchen sie in allen ihren „Reformen“ keinen Schritt machen konnte. Drittens: Über die Duma wurde, damit sie weder davongetragen noch vergraben werde, der Staatsrat gestellt, der in seiner Mehrheit aus Tschinowniks aus verabschiedeten Minister und Satrapen, die die Zähne eingebüßt hatten, nach spezieller Auswahl des Zaren bestand. Viertens: Jede Gesetzgebungsentscheidung, auf welche sich die Duma mit dem Rat einigte, bedurfte, damit sie Gesetz werde, noch der Befürwortung des Zaren, der von einem Konvoi von Hofonkeln eingekreist war und in engsten Beziehungen zum Rat des vereinten Adels stand. Und, schließlich, fünftens: Über allem sonstigen wurde in das Grundgesetz der sogenannte Artikel 87 eingebaut, welcher zur Zeit von Parlamentsferien dem Zarenkabinett die Möglichkeit gibt, Gesetze auf eigene Art zu erlassen.

Und dieser ungeheuren Gesetzgebungsmaschine fiel es zu, nach der Revolution das Land mit seinen schauderhaften sozialen und nationalen Geißeln, mit seinen in Jahrhunderten angehäuften Lasten und Rechtlosigkeiten zu „heilen“!
 

IV. Imperialismus und Nationalismus

Der Versuch der Verbündeten, aus dem Teufelskreis der Innenpolitik auf die große Bahn der äußeren Räuberei herauszukommen, dem russischen Kapital den Zutritt auf die Balkan- und asiatischen Märkte gewaltsam zu eröffnen, die Volksaufmerksamkeit von der inneren Unordnung durch äußere Erfolge abzulenken – diese kraftlosen Schaubudenversuche des von den Kadetten unterstützten Stolypinschen Blocks führte zu einer Reihe blamabler diplomatischer Niederlagen. Es erwies sich, dass man nicht Einfluss in der internationalen Arena haben kann, wenn das höchste Offizierstum aus ungebildeten und blutgierigen Henkern besteht, wenn der „wahre“ Soldat unaufgeklärt, aber der bewusste Soldat unzufrieden ist, wenn das Kriegsbudget, beginnend mit Panzerschiffen und endend mit Soldatenrationen, von Intendanten und allgemein von Schurken geplündert wird, mit einem Wort, wenn die Armee am Ende desorganisiert ist, aber die Regierung einen ununterbrochenen Kampf mit dem eigenen Volk führt. Die Leute des 3. Juni mussten eine neue Wendung vollführen: von imperialistischen Misserfolgen – zu inneren „Reformen“ ... umgekehrt. Die laute Großmacht-Scharlatanerie wurde durch kleinen, boshaften, aber nicht weniger scharlatanesken Nationalismus teilweise ausgetauscht, teilweise auch ergänzt. Wenn das Bündnis der Großbourgeoisie mit Adel und Bürokratie die Möglichkeit der Freisetzung des inneren Marktes ausschließt; wenn auf Basis eines abgemagerten und geknechteten inneren Marktes eine kräftige Armee und siegreiche imperialistische Politik unmöglich sind – dann bleibt noch zu versuchen, den inneren Markt für „eingeborene“ Eigentümer zu monopolisieren, nach Möglichkeiten die polnischen und jüdischen Kapitalisten vom gesamtnationalen Kuchen zu entfernen, die echt-russischen Adligen und Industriellen auf Rechnung der „Tschuchonzen“ [Finnen und Esten] besser zu ernähren. Der Feldzug in Finnland, der Entwurf der Abtrennung des Wyborger Gouvernements und Chelmer Landes, der Entwurf der städtischen Selbstverwaltung in Polen und, schließlich, der Entwurf der Semstwos in den westlichen Gouvernements erwuchsen aus dem nationalistischen Kurs, löteten Stolypin eng mit den Duma-Nationalisten zusammen, bei welchen sich die Oktobristen immer mehr in den linken Anhang verwandelten.

Die Festigkeit seiner Zähne probierte der Nationalismus zuerst an Finnland aus, aber die kleine Zedernuss erwies sich als sehr hart. Eine Niederlage der Finnländer lehnten sie nicht ab, aber mit einem Sturm beschlossen sie zu warten und bevorzugten zunächst durch Ermattung zu handeln. Die Bemühung der nationalen Politik richtete sich nach der Linie des geringsten Widerstands: gegen Juden und Polen. Und hier kam auch der Entwurf der westlichen Semstwos an die Reihe, um welchen sich eine große Rauferei verwickelte: sie erkannten ihre Leute nicht, ein Kain bäumte sich gegen den anderen Kain auf und als Resultat hatten alle, sowohl Sieger als auch Besiegte, zerknitterte Seiten.

Was ist der Kern dieses großen Gesetzgebungsaktes über die westlichen Semstwos? In kurzen Worten ist er dies: Das Semstwowahlrecht wird in eine Verhöhnung der Bauernschaft und städtischen Massen verwandelt; vollkommen über Bord werden die Juden geworfen; aber der Grundadel, für welchen diese Abrechnung produziert wird, wird auf zwei Ställe (Kurien) geteilt: einen engen Stall – für polnische Pans – und einen geräumigen Stall – für Fronherren rechtgläubigen Bekenntnisses. Unter dem Anschein eines Semstwos wird die Diktatur der wilden Gutsbesitzer in der Wirtschaft der sechs westlichen Gouvernements eingeführt.

Strippenzieher bei dieser Reform waren die Nationalisten, unter welchen den Hauptplatz die russifizierenden Parasiten aus den westlichen Gouvernements und des Königreichs Polen einnehmen. Aber auch die Oktobristen schlugen ihre Gesichter nicht in den Dreck. Und jetzt wurde dieser gemeinste Gesetzentwurf, der die Duma durchlaufen hatte, überraschend im Staatsrat zu Fall gebracht. Aber aus welcher Ursache rebellierten die „Wirklichen Geheimräte“?
 

V. „Parlaments-“ Krisen und Stolypin

Die scharfsinnigsten Konservativen erschreckten sich einfach über die nationalistische Zügellosigkeit der Stolypinschen Arbeit. „So darf man es nicht“ – beschlossen sie – „man muss behutsamer handeln, ansonsten werden sich die Volksmassen und „ausländischen“ besitzenden Klassen wieder gegen einen stellen!“ Der aus eingefleischten Bürokraten wie Durnowo und Witte bestehende andere Teil bäumte sich aus Motiven anderer Ordnung auf: im Wesentlichen spucken sie völlig auf Semstwos, auf Polen und auf das ganze teure Vaterland, en gros und en detail, aber sie saßen während fünf Jahren der Stolypinschen Wirtschaft im Staatsrat, es ist ihnen sehr danach, sich zu strecken, die Macht in ihre Hände zu nehmen, aber dafür müssen sie so oder so Stolypin stürzen. Der behutsame Konservativismus verband sich im Staatsrat mit bürokratischen Intrigen – und brachte das Stolypinsche Semstwo zu Fall.

Die Nationalisten fingen zu heulen an, erschrocken um das--> Schicksal des Semstwo-Kuchens in den westlichen Gouvernements. Auch die Oktobristen erhoben sich auf die Hinterbeine. Sie brauchen natürlich die obere Kammer; so unverschämt-reaktionär die Duma sein mag, doch auch für sie kann es Grenzen geben, vor welchen sie stehen bleibt, weil sie dessen ungeachtet gewählt ist – und sie brauchen den bürokratischen Rat, welcher in gewissen Fällen ihre Arbeit bremsen würde und ihnen die Möglichkeit geben würde, die Volksempörung von sich auf eine verantwortungslose „obere Kammer“ abzulenken. Aber die Duma will, dass der Staatsrat ihm nur mit seiner Zustimmung hinter den Kulissen Opposition macht, so dass eine eigene Art Arbeitsteilung erscheine; in einem Departement werden Knoten geknüpft, aber im anderen aufgebunden. Aber mehr als alle entrüstete sich Stolypin. Die Augen füllten sich beim Günstling mit Blut: dafür hat man, zum Teufel, diese alten Kappen in die gesetzgebende Kammer gesperrt, damit sie ihm widersprechen, dem Erlöser des Eigentums und des Throns! Und Stolypin beschloss: Artikel 87 erlaubt der Regierung gesetzgebende Sondermaßnahmen in der Zeit der Abwesenheit der Kammer. Was ist daraus geworden? Zuerst muss die Kammer abwesend sein, aber danach – ist unsere Hand Herrscher. Am 12. März wurden die Gesetzgeber für drei Tage auf die Weide geschickt und Stolypin setzte im Namen seines Monarchen die westlichen Semstwos unter dem gefälschten Etikett des Artikels 87 durch. Die Maßnahme war offensichtlich und offen betrügerisch, ja auch die Betrügerei selbst war dreist, aber ungeschickt, war Nosdrew-Schule. In Vollendung des Stolypinschen Sieges flogen zwei der ihm feindseligsten Bürokraten aus dem Staatsrat. Aber der Rat ergab sich nicht. Die Konservativen des Zentrums, die Scharfsinnigeren und Behutsameren, gerieten abschließend in Grauen über die Kriegs-Feld-Abrechnung mit den „höchsten Kammern“ und verbanden sich mit der linken Gruppe, die aus den Eunuchen des Semstwo-Professoren-Liberalismus bestand; an diesen Block schlossen sich die Intriganten der äußersten Rechten an, welche morgen auf dem Platz Stolypins dieselbe Natur des Kamarinskatanzes der Staatsleute bekunden werden – und der Rat nahm einen Antrag wegen Verletzung des Grundgesetzes an.

Zur Verwunderung Stolypins bäumte sich gegen ihn auch die Staatsduma auf. Der Günstling hatte sich so gewöhnt, mit ihren Parlaments-Prachtkerlen keine Umstände zu machen, dass er gar nicht bemerkte, wie er, als er gegen den Rat zum Schlag ausholte, auch der Duma in die Physiognomie schlug. Die Nationalisten nahmen selbstverständlich mit unterwürfiger Verbeugung aus den Stolypinschen Händen das Semstwo wie einen Pelz von der herrschaftlichen Schulter an. Aber die Oktobristen murrten. „Die Verletzung des Grundgesetzes durch das Haupt der Regierung“ – erklärte ihre Redner Lerche, – „ist eine vollkommen außerordentliche Erscheinung“. Natürlich ist das eine hilflos-widersinnige Lüge. Die einzig feste und beständige Linie in der ganzen Stolypinschen Arbeit war gerade die Verletzung des Grundgesetzes. Am 9. November 1906 wurde zur Verhöhnung des Grundgesetzes ein Gesetz über die Veruntreuung von Gemeindeland verabschiedet. Auf dem Wege eines offenen Staatsumsturzes vollzog Stolypin den 3. Juni 1907 nach vorhergehender Verabredung mit Gutschkows Verband, die Oktobristen verwandelten sich in die leitende Partei der Duma. Indem sie dem Staatsumsturz ihren ganzen Einfluss verdankten, halfen sie Stolypin, am 14. März 1910 den Staatsumsturz in Finnlands zu vollbringen. Eine ganze Reihe weniger bedeutsamer Maßnahmen wurden von Stolypin in der Art ganz derselben Nosdrew-Gesetzlichkeit vollzogen. Schließlich, wie viele Tausende Seelen schickte in diesen fünf Jahren der blutige Günstling vermittels seiner Schnellfeuer-Schlächtereien, dieser organisierten Verhöhnung von Gerichten und Gesetzen, in die andere Welt. Und die Oktobristen protestierten nicht einmal, stützten ihn umgekehrt. Außerdem, wie sollten sie ihn nicht stützen; sollten sie sich wirklich bei der Niederhaltung des Volkes, das aus jahrhundertelangem Winterschlaf aufgewacht war, um solche Kleinigkeiten wie Grundgesetze und geschriebene Statuten kümmern?

Aber eine andere Sache ist es jetzt, wo der Konflikt nicht jenseits der Grenzen von Famillienmissverständnissen unter den Siegern selbst erscheint. Wie verdrießlich auch die Gegenwehr des Rats gegen den nationalen Kurs ist, darf man doch nicht mit dem Rat mit Husaren-Maßnahmen abrechnen, weil der Rat notwendig ist, er mehr als einmal noch als Bollwerk gegen den Ansturm der Demokratie verwendbar sein wird. Und man darf die Gesetzgeber nicht für drei Tag wegschicken, um sich zu erholen, während die Kanzleischreiber Gesetze machen – wozu sonst wurde der konstitutionelle Gemüsegarten abgezäunt? – so urteilten die Oktobristen und akzeptierten den Antrag über die Verletzung der Grundgesetze durch die Regierung.

Zur Antwort auf den Antrag des Staatsrats berief Stolypin sich auf verschiedene gelehrte deutsche und französische Bücher über Staatsrecht – das erschien dumm und sah Stolypin ähnlich wie ein Wächter, der komplizierte Worte startet. Aber Stolypin hätte viel mehr kurz und überzeugend ohne jede gelehrte Grimasse antworten können. „Wer bin ich?“ – hätte er seinem unzufriedenen Alliierten sagen können – „Ich, der ehemalige Gouverneur von Saratow, ein Secutor [schwerbewaffneter Gladiator] ohne politischen Ideen, aber verwegen und mit Spürsinn, suchte vom ersten Anfang an tastend Wege, führte Verhandlungen sowohl mit Kadetten als auch mit Pogromhelden, die Pogromhelden nutzte ich aus, aber hinsichtlich Kadett überzeugte ich mich von ihrer völligen politischen Ohnmacht, aber vor allem eröffnete ich jenes Geheimnis, dass die einzige Bestrebung der besitzenden Klassen, unter welcher politischen Maske sie auch agierten, ist, ihr Eigentum vor der Revolution zu verteidigen. Und damals warf ich verschiedene Bedingungen beiseite und sagte Ihnen geradewegs: „Mein Programm ist Schutz Ihres Landes und Ihrer Gewinne!“ und Sie antworteten mir im Chor: „Aber unser Programm ist Stolypin“. Und seit jenen Zeiten hängte, würgte ich, gab Gesetze, mit voller Zuversicht, dass die Handlungen keine Gesetze verletzen können, weil in mir selbst sich für Sie sowohl das Gesetz als auch die Propheten verkörpern!“

Durch solche Antworten hätte sich Stolypin selbstverständlich von der Verantwortung im Angesicht des Volkes nicht befreit, aber er hätte die Last der Verbrechen der Konterrevolution zwischen allen ihren Alliierten, Hehlern und Nachgiebigen richtig verteilt. Er machte dies nicht, aber die Sozialdemokratie wird das machen. Und wenn die Stunde der Auszahlung hereinbricht, wird das Volk allen von ihnen erweisen, was ihnen zusteht.
 

VI. Nun sind wir an der Reihe!

So endete das neue Kapitel in der Geschichte der dritten Duma; nach dem Bankrott der Oktobristen-Reformismus, nach den skandalösen Fehlschlägen der imperialistischen Politik – der grausame Zusammenbruch des nationalistischen Kurses. Noch bevor die Politik des erneuerten Ansturms auf die Fremdstämmigen zu einem praktischen Resultat irgendeiner Art führte, erschreckte sie in ihren provokativen Übermaßen sogar die würdigen Konservativen des Staatsrats und verwirrte die Reihen der verbündeten Sieger vollkommen. Die allgemeine Rauferei unter den Regierenden entblößte alle Widersprüche und zerstörte alle Illusionen. Fortan wird Stolypin wie auch dessen möglicher Vertreter bloß auf dem Weg einer von jeden „Ideologie“ gesäuberten bürokratischen Selbstmacht regieren können – und nur ein Industrieaufschwung, der die Unzufriedenheit der kapitalistischen Klassen mäßigt und zeitweilig die Widersprüche zwischen Bourgeoisie und Adel schwächt, kann noch auf eine gewisse Zeit die Existenz dieses entlarvten Regimes verlängern, in dem ein wackerer Türsteher mit engeländischem [1] Gehrock als Staatsgenie galt, aber die Partei der politischen Grobheit sich als Bollwerk von Kultur und Fortschritt darstellte. Die Aktien gehen jetzt nach oben und die Börse nimmt eine versöhnliche Haltung ein, sie braucht Ruhe, was auch immer es kosten mag. Bereits deswegen wäre es bedeutungslos, nun irgendeine Art entschlossener Schritte von Seiten der Oktobristen zu erwarten. Ob sie unter diesen Bedingungen noch eine gewisse Zeit Stolypin halten werden oder er aber morgen seinen Posten einem anderen Erlöser abtritt – das wird selbstverständlich kein Sterndeuter vorhersagen. Außerdem ist das schließlich auch gleichgültig für die Arbeiterklasse, wie es gleichgültig für die sozialdemokratische Fraktion ist, wer jetzt den Vorsitz in der jämmerlichen und fassungslosen Duma führt: Gutschkow oder Rodsjanko.

Jene günstige Frist, welche die Geschichte den Leuten des 3. Juni gibt, bevor eine neue Industriekrise ihnen durch die Hand des Proletariats einen verhängnisvollen Schlag versetzen wird, verwenden wir dazu, um in das Bewusstsein der Arbeitermassen klare und einfache sozialdemokratische Schlussfolgerungen aus den verwickelten Konflikten und Intrigen im Innersten des konterrevolutionären Staatswesens zu bringen.

  1. Die Oktobristen klagen über die Gesetzgebungs-Obstruktion des Staatsrats. Aber es gibt ein sehr radikales Mittel, diese Obstruktion zu erledigen: man muss den Staatsrat zerstören. Nieder mit der oberen Kammer! Das Volk benötigt keine würdige Vormundschaft über seiner Vertretung.
     
  2. Aber dafür benötigt das Volk, dass die untere Kammer ein exakter und voller Ausdruck von dessen Interessen sei. Aber das ist bloß dann möglich, wenn das Parlament von allen erwachsenen Staatsbürgern ohne Unterschied des Geschlechts auf Basis allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts gewählt wird.
     
  3. Falls die Deputierten mit dem Stempel des 3. Juni dadurch gekränkt sind, dass das Kabinett sich hoch zu Ross auf das Parlament setzt und es mit der Geißel des Artikel 87 in die Physiognomie peitscht, dann gibt es auch gegen das ein sicheres Mittel: ein vom Parlament ernanntes Kabinett muss ihm in allen seinen Handlungen verantwortlich sein.
     
  4. Hinter dem Rücken des Kabinetts – klagen Oktobristen und Kadetten – konzentrieren sich einflussreiche Hofzirkel von Tuschlern und Informanten, und sie führen unermüdlich Intrigen gegen das Parlament und dessen Rechte. Aber auch gegen diese furchtbare liberale Vogelscheuche, gegen die Kamarilla, gibt es ein einfaches und zuverlässiges Rezept: das republikаnische System! So wie der Zar das Zentrum von Getuschel, Intrigen und Machinationen, der Mittelpunkt jeder Übeltat gegen das Volk ist, so ist für die Ausmerzung der Kamarilla notwendig, die Zarenmacht und ihren materiellen Rückhalt zu zerstören – die stehende Armee.

Der Liberalismus verhöhnte mehr einmal kraftlos unsere revolutionären Losungen, nannte sie Utopie, – er wird sie selbstverständlich auch jetzt nicht annehmen. Aber das Leben führte erneut vor, dass sich gerade die Kadettenhoffnung auf friedliche und schmerzlose Entwicklung unter dem Schatten der Verfassung, deren Existenz Miljukow mit einem heiligen Eid bekräftigte, als jämmerlichste und abgeschmackteste Utopie erwies. Nicht den Kadetten öffnet der Zusammenbruch der Oktobristen und der Stolypiniade die Bahn, sondern uns, der Partei der Revolution. Und kein Zweifel: Das Proletariat wird den Ruf der Geschichte vernehmen und wird seine Sache machen!

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Anmerkung

1. Im russischen Text steht das altertümliche „аглицкий“ (aglizkij) statt „английский“ (anglijskij).


Zuletzt aktualiziert am 27. November 2023