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Nach Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 149–180.
In der Duma müssen wir eine Gruppe von sozialdemokratischen Abgeordneten haben, die fähig sind, nicht nur die Partei ehrenvoll in den politischen Debatten zu vertreten, sondern auch im Zentrum jeder Volksbewegung zu stehen, welche sich im Umkreis der Duma entwickeln und sich die Duma unterordnen wird. Speziell hierfür hat die Frage, ob wir 10, 15 oder 30 Abgeordnete in die Duma schicken werden, keine gesonderte Bedeutung. Auf die Mehrheit hoffen wir selbstverständlich nicht. Jeder Abgeordnete wird als einzelner für uns nur insoweit Wert besitzen, als er die Aufmerksamkeit seiner Wähler auf sich als den Vertreter einer klar definierten Partei zieht und diese Wähler damit um die Sozialdemokratie organisiert. Das wird jedoch lediglich dann zu erreichen sein, wenn der jeweilige Kandidat unserer Partei im Endergebnis eines scharfen politischen Konkurrenzkampfes mit allen anderen Parteien akzeptiert werden wird. Jedes allgemeine Übereinkommen, das einer Wahlagitation zuvorkommt und sie an eine Einheitsplattform bindet, entwertet von vornherein einen etwaigen günstigen Wahlausgang für uns Sozialdemokraten. Ich behaupte ganz offen, dass es unserer Partei ganz unwürdig ist, soviel Aufmerksamkeit und Passion auf ein so drittrangiges Problem wie das eines Übereinkommens mit den Kadetten zu verschwenden. Ob es Abkommen geben wird oder nicht, ob an vielen Orten oder an wenigen, ob im ersten oder im zweiten Stadium der Wahl – jetzt müssen wir all unsere Energie darauf konzentrieren, günstige Bedingungen für solch mögliche Übereinkommen und ganz allgemein für den Erfolg der gesamten Wahlkampagne zu schaffen. Derartige Bedingungen jedoch kann man nur mit einer freien, durch nichts gebundenen politischen Agitation erreichen.
Vertritt man den Standpunkt eines Übereinkommens auf der Grundlage einer gemeinsamen Plattform und einer vorab bestimmten Verteilung von Rollen und Plätzen, dann muss man Frau Kuskowa zur Führerin wählen; bei ihr sind die Noten, sie wird uns anweisen, wie wir sitzen müssen. Als richtige Realistin geht Frau Kuskowa nicht von dem realen Parteikampf aus, der verschiedene Interessen und Ansichten zum Ausdruck bringt, sondern von ihrem persönlichen (und gerade deshalb für alle Parteien verbindlichen) Begriff der Duma und ihrer notwendigen Beschaffenheit: der Duma als eines politischen Mikrokosmos. Deshalb müsse sich die bürgerliche Opposition von Anfang an darum kümmern, dass die sozialistische Demokratie vertreten sei, und diese wiederum dafür sorgen, dass die bürgerliche Demokratie repräsentiert werde. Nach dem Plan der Frau Kuskowa muss die Vertretung der einflussreichen Parteien, die immer und überall das Ergebnis von politischem Wettbewerb und Wahlkonkurrenz ist, in der Duma durch ein vorausgehendes gültiges Übereinkommen der Parteien entschieden werden, ein Übereinkommen auf der Grundlage einer so gearteten Auffassung von den Dumaufgaben, wie sie – die Frau Kuskowa besitzt.
Dieser vortreffliche politische Realismus, dem noch der Geruch der Intellektuellen-Schreibstube anhaftet, hat im Towarischtsch eine ganze Reihe von Parteigängern gefunden. Herr Chischnjakow nahm es auf sich, die Partei im Namen des parteilosen Wählers zu warnen. Er schreibt:
„Keine Partei stellt uns allein und für sich zufrieden, denn allein kann sie nicht alle Schichten und alle aktiven progressiven Kräfte repräsentieren. Keinesfalls darf die Taktik, die von irgendeiner Partei in einem bestimmten Moment aufgestellt worden ist, für das Verhältnis zu den von ihr präsentierten Kandidaten ausschlaggebend sein. Denn die Taktik der Zukunft ist allein Sache der Zukunft (!). Sie muss von den Vertretern aller Taktiken in der Duma so entschieden werden, wie sie vom Land bestimmt wird. Nur ein Übereinkommen zwischen den Parteien – wobei jede der Parteien annähernd eine den Sympathien, die sie genießt, entsprechende Anzahl von Sitzen erhalten haben müsste – gibt eine richtige Lösung der Frage.“
Hier sieht man, wie heute die politischen Realisten urteilen (die allerdings eine fatale Ähnlichkeit mit politischen Gymnasiasten aus bestenfalls der vierten Klasse besitzen). Es stellt sich heraus, dass die Wahl der Abgeordneten „keinesfalls“ von Fragen der Taktik bestimmt werden dürfe, weil „die Taktik der Zukunft allein Sache der Zukunft“ sei. Selbst Prutkow hätte das Problem nicht tiefgründiger ausgelotet. Weiterhin stellt sich heraus, dass die Taktik in der Duma so durch die Exponenten aller Taktiken entschieden werden solle, wie das Land es bestimme. Wie allerdings in der Duma die notwendigen Vertreter „aller Taktiken“ vorhanden sein sollen, wenn doch die Wahl „keinesfalls“ durch Überlegungen der Taktik bestimmt sein darf, das zeigt uns der Verfasser nicht. Und dann folgt bei ihm das schon längst als reaktionär erkannte Geschwätz, dass nur der parteilose Wähler, der „frei ist von einem Parteistandpunkt, d. h. einem speziellen und ausschließlichen Standpunkt, in der Lage ist, eine Sache vom Standpunkt der allgemeinen Interessen zu betrachten“. Die Parteilosigkeit des Normalbürgers, d. h. seine politische Rückständigkeit, Ungeformtheit, Unbildung und Passivität, wird zu seiner besonderen Tugend erhoben. Der Position einer Partei wird ganz im Geiste der seligen 80er Jahre ein „Standpunkt der allgemeinen Interessen“ gegenübergestellt. Wenn Sie einen solchen Standpunkt besitzen, dann sind Sie verpflichtet, ihn zur Grundlage Ihres Programms zu machen und auf der Basis dieses Programms eine neue Partei zu errichten. Und wenn Sie das nicht tun, dann bedeutet das nur, dass Ihr Standpunkt bezüglich der „allgemeinen Interessen“ kein faules Ei wert ist.
Nichtsdestoweniger haben wir jetzt keineswegs die Absicht, all den politischen Realisten, den Gymnasiasten und Gymnasiastinnen vorgerückten Alters die Verbindung zwischen Parteizugehörigkeit und allgemeinen Interessen zu erläutern. Es genügt die Feststellung, dass die Mühe, die Herr Chischnjakow darauf verwendet, sich im Namen des parteilosen Wählers zu äußern, völlig für die Katz ist. Dieser parteilose Wähler nämlich zeichnet sich keineswegs durch jenes aparte Wesen aus, mit dem ihn der Publizist des „Towarischtsch“ aus eigenem Überfluss versieht. Der Normalbürger ist einmal parteilos, weil er hoffnungslos passiv ist, zum anderen, weil er noch nicht so weit gekommen ist, seine Sympathien auf bestimmte Parteien festzulegen. Ihm dabei zu helfen, ihm die Möglichkeit zu geben, seinen Eifer für die „allgemeinen Interessen“ in die Sprache des Programms zu überführen und in politisches Handeln zu transformieren – das ist die Aufgabe der Parteien. Eine Blockbildung zwischen ihnen würde die politische Selbstbestimmung des Normalbürgers ohne Zweifel erschweren; die freie Konkurrenz dagegen wird seine Wahl erleichtern. Diesen rückständigen Wähler mit irgendeiner geheimnisvollen überparteilichen Qualität auszustatten, die auf die höher stehenden Interessen des Landes gerichtet wäre, das bringen nur die Doktrinäre der Parteilosigkeit fertig, jene kläglichen Kreaturen aus der Intelligenz, die in jeder Ritze zwischen den Parteien hausen.
Die Politik der Doktrinäre des Towarischtsch ist eine Politik der Diagonale. Am realen Leben sind die lebendigen gesellschaftlichen Kräfte beteiligt, von denen die politischen Parteien ausgehen. Die Rolle der Parteien ist durch ein Kräfteverhältnis bestimmt. Die allgemeine politische Entwicklung folgt der Diagonale, d. h. der Resultante des Kräfteparallelogramms, dessen Seiten die wirkenden Kräfte bilden. Diese Diagonale ist nichts Selbständiges, sie ist lediglich das abgeleitete Resultat der Grundlinien. Jeder bewusste Proletarier weiß als Teil eines gewaltigen Ganzen sehr genau, dass man allerhöchste Energie entwickeln und auf seine eigenen Klasseninteressen konzentrieren muss, will man die Resultante in die eigene Richtung lenken. Dieses Gesetz ist allen sozialen Elementen mit mehr oder minder ausgebildeter Klassenphysiognomie in irgendeiner Weise bewusst. Der von der Praxis unter den Massen abgelöste Intellektuelle aber kommt leicht, vor allem, wenn es sich um einen mit literarisch-politischen Spekulationen vertrauten Publizisten handelt, auf die Idee, es sei vorteilhafter, die Resultante nicht im freien Spiel der realen Kräfte auszubalancieren, sondern sie im Voraus theoretisch festzulegen und beide Seiten aufzurufen, sich ohne Kampf auf sie einzuspielen; es sei klar, dass das einen großen Gewinn an Kräften zur Folge haben werde. Diese Herren, Rationalisten von Kopf bis Fuß, mögen den Klassenkampf „anerkennen“, soviel es ihnen beliebt, er bleibt desungeachtet für sie ein Gegenstand der reinen metaphysischen Spekulation; in der Praxis ist es ihr unveränderliches Bestreben, ihn zu paralysieren und durch „ökonomischere“ Entwicklungsmethoden zu ersetzen.
Für uns Sozialdemokraten ist jede Eroberung, die wir als Ergebnis eines politischen Kampfes der Massen machen, unermesslich wertvoller als eine Errungenschaft, die mittels hinter den Kulissen geschlossener Übereinkünfte erreicht wurde; im ersten Falle nämlich wird etwas Unvergängliches in die Schatzkammer des Bewusstseins der Massen eingebracht, während es sich im zweiten Fall um einen praktischen Gewinn handelt, der ebenso leicht verloren geht, wie er erlangt wurde. Die Wahlen sind für uns nicht einfach eine Jagd nach einem Preis in Form von Abgeordnetensitzen, sondern ein Kampf auf breiter Front, Agitation, Enthüllung, Konfrontation, Mobilisierung der Massen um die sozialistische Fahne. Und dazu benötigen wir vor allem völlig freie Hand.
Herr Bogutscharski, noch ein Doktrinär der Parteilosigkeit, ist sehr beunruhigt ob des Bestrebens politischer Parteien, im Wahlkampf ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Dieser Politiker des „Gewesenen“ schreibt:
„jede Partei will ihre Jungfräulichkeit bewahren; dabei vergisst sie jedoch ganz, dass Jungfräulichkeit neben all ihren hoch zu schätzenden Eigenschaften auch einen großen Mangel hat: Sie ist immer unfruchtbar.“
Uns ist zwar keineswegs klar, was Herr Bogutscharski unter Jungfräulichkeit in der Politik versteht; völlig klar jedoch ist für uns, dass das Verhalten, zu dem ehemalige Marxisten und verabschiedete Oswoboschdenie-Leute die Sozialdemokratie unermüdlich zu überreden suchen (wir bitten um Entschuldigung und benutzen – mit Erlaubnis von Herrn Bogutscharski – seine Metapher noch weiter), das Adulterium (in russischer Übersetzung: der Ehebruch) in Permanenz ist. Und diese „Praxis“ ist bekanntermaßen auch nicht sehr fruchtbar. Nachdem nun schon einmal von „Unfruchtbarkeit“ die Rede ist, erlaube ich mir, Herrn Bogutscharski zu fragen: Was kann unfruchtbarer sein als ein politischer Klugscheißer aus dem Kreis der vaterländischen parteilosen Revisionisten, die in der Tat niemand mehr der Jungfräulichkeit verdächtigt?>
Zuletzt aktualiziert am 4. Dezember 2024