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Nach Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 212–252.
Natürlich kann man, wie folgt, argumentieren: Die russischen Revisionisten traten doch in die bürgerliche Opposition gerade mit dem Ziel ein, für die Schaffung der notwendigen Bedingungen zur Entwicklung der sozialdemokratischen Partei zu kämpfen. Auf diese Weise brachten sie der Sache des Proletariats ein schweres Opfer: Im Name des Sozialismus sagten sie sich vorübergehend von ihm los, beschnitten sogar ihren Demokratismus und zwangen sich, die muffige Luft des Semstwo-Liberalismus zu atmen. Brachte das Wachstum der bürgerlichen Demokratie, für das die Revisionisten arbeiteten, der Partei des Proletariats etwa nicht unmittelbare Vorteile?
Im großen und Ganzen ist ein solches Urteil völlig richtig. Die Entwicklung der bürgerlichen Demokratie gereicht dem Proletariat ohne Zweifel zum Vorteil – jedoch nur insoweit, als sie sich auf Kosten der Unwissenheit, Zurückgebliebenheit oder Passivität dieser oder jener Gruppen und Klassen vollzieht, nicht aber auf Kosten der sozialistischen Demokratie. Die letztere muss, wenn sie beharrlich um die Erweiterung ihres Einflusses kämpft, in ihrem persönlichen Interesse die progressive Bewegung der bürgerlichen Demokratie unterstützen und sie zugleich in den Rücken „stoßen“, nicht jedoch in die Brust. Wenn sich meine Unterstützung der Demokratie darin ausdrückt, dass ich, wenn auch „widerstrebend“, die in ihrer Formierung begriffene Partei des Proletariats verlasse und in eine in Formierung begriffene bürgerliche Partei eintrete und andere mit mir ziehe, dann schade ich dadurch der Sache des Sozialismus ganz unmittelbar, obgleich meine weitere politische Tätigkeit, die in ihrem Wesen bürgerlich bleibt, indirekt die Entwicklung der Sozialdemokratie fördern kann. Um der Partei des Proletariats jedoch einen solchen Dienst zu erweisen, muss man keineswegs „kritischer Sozialist“ sein – es reicht völlig, ein Miljukow oder Roditschew zu sein. Letztlich unterstützen doch auch das Wachstum der Technik und die Entwicklung des Prozesses der Warenzirkulation im Lande die Sache der Sozialdemokratie, woraus keineswegs folgt, dass wir nach dem alten Ratschlag, der Narodniki Fabriken aufstellen oder Läden eröffnen müssten. Weiterhin kann man mit vollem Recht bestätigen, dass die Bildung jeder Organisation in den amorphen Volksmassen unabhängig von der subjektiven Absicht ihrer Initiatoren, in der Endaufrechnung, der Revolution und dem Sozialismus zugute kommt. Man braucht diesen Gedanken nur auszusprechen, um sofort die Erinnerung an die Subatowschtschina und die Ereignisse um Gapon zu wecken. „Ist der Lauf der Geschichte einmal festgelegt“, zitieren wir die vortrefflichen Worte von Rodbertus, „hilft ihr alles: Wahrheit und Verrücktheit, Gerechtigkeit und Willkür, Segen und Fluch.“
Was immer die Absichten der Revisionisten bei ihrem Umzug in den „Bund der Befreiung“ auch gewesen sein mögen, sie mussten wissen, dass der objektive Sinn politischer Tätigkeit von ihrer Methode bestimmt wird, nicht jedoch von ihrem subjektiven Ziel. Die Methode äußert sich in Handlungen und Taten, die objektive Existenz erhalten, und es besteht keine Möglichkeit, aus der Realität das herauszunehmen, was gerade in sie eingebracht wurde, hätte man auch selbst auf sein Ziel verzichtet. Herr Struve verfasste das erste Manifest der sozialdemokratischen Partei, in dem er unter anderem von der immanenten Niedertracht des russischen Liberalismus gesprochen hat; und so sehr er jetzt unsere Partei verleumdet und ihre Existenz negiert, das von ihm verfasste Manifest ist untilgbarer Bestandteil ihrer Entwicklung geworden. Die Methode ist alles. Sie ordnet sich letztlich unser Bewusstsein unter, wenn dieses in Widerspruch zu ihr gerät, und unterschiebt uns gegen unseren Willen ein neues Ziel. Ein Sozialist, der um des Sozialismus willen liberale Arbeit leistet, wird sich für gewöhnlich zuletzt selbst in einen Liberalen verwandeln. In Lassalles polit-philosophischem Drama Franz von Sickingen finden sich folgende Zeilen:
„Das Ziel nicht zeige – zeige auch den Weg, – |
Aus diesen vier Zeilen lässt sich eine ganze Philosophie sozialdemokratischer Taktik entwickeln, die immer prinzipiell revolutionär und dabei äußerst realistisch ist. Das Ziel zu seinem subjektiven Eigentum zu machen und dann der individuellen Scharfsichtigkeit von Fall zu Fall die Wahl der Handlungsmethode zu überlassen, heißt auf der Grenzlinie zwischen zwei einladenden Wegen balancieren, von denen einer zum Blanquismus, der andere zum Reformismus führt, der die Gegensätze diplomatisch behandelt. Zwischen dem alten Blanquismus, der den Schwerpunkt revolutionärer Politik auf die Initiative und Entschlossenheit konspirativer Sozialisten legte, und dem zeitgenössischen Opportunismus, der den Schwerpunkt in den Bereich realistischer Geschäfte mit den Agenten der Macht oder den Vertretern bürgerlicher Interessen verlegt, besteht engste innere Verwandtschaft. Beide – der Blanquismus wie der Reformismus – können auf den Namen der Masse schwören, soviel sie wollen: Für beide befindet sich das Wesen der Politik, ihre Quintessenz, ihre Poesie, ihre Ästhetik außerhalb der Masse. Bei dem einen Initiative – beim anderen Takt, hier Verschwörung – dort Übereinkommen: Hier wie dort sind immer große Kulissen notwendig, die die „Führer“ von der Masse abschirmen. Und hier wie dort existiert kein Verständnis dafür, dass sozialistische Politik die Masse in der Aktion ist. Tritt man aus der Masse heraus, um abseits etwas für ihre Wohlfahrt zu tun, so ist der Grund dieses Heraustretens ganz gleichgültig: ob man heraustritt, um eine Bombe auf die Kutsche Plehwes zu schleudern oder um unter Ausnutzung des Effekts dieser Bombe um den Semstwo-Kongress in Moskau herum zu scharwenzeln. Sozialistische Taktik kann weder Bomben noch den Semstwo-Kongress ignorieren; sie kalkuliert das eine wie das andere ein, jedoch nicht außerhalb des Proletariats, sondern aus seiner Mitte. Das schlummernde Klassenbewusstsein der Masse aufwecken, organisatorische Kerne in ihren chaotischen Lebenskreis einführen, Arbeiter als Führer in jeder Fabrik, in jedem Handwerksbetrieb, heranziehen, die uneinheitlichen Teile des großen Ganzen vereinheitlichen – falls möglich, durch eine materielle Organisation, und falls da nicht möglich ist, durch die, wenn auch nicht-materiellen, Fäden der Klassensolidarität –, das ist die wirkliche sozialistische Sache, das ist die Arbeit, die unsere Partei unter den grauenhaften Bedingungen autokratischer Tyrannei ehrenhaft durchgeführt hat und durchführt und die ich im Vorwort zu meinem Buch „eine große Sache“ genannt habe. Die geistig armen Klugschwätzer und die von ihrer persönlichen Unbedeutendheit vergifteten Skeptizisten fletschen bei meinen Worten die Zähne. Aber hinter ihren höhnisch gebleckten Zähnen schimmert allein ihr skrofulöses Philisterseelchen, und nichts Größeres. Und nichts Größeres!
Wir sind immer der Meinung gewesen, dass jedes kleinste Körnchen, das es uns in die Vorratskammer des sozialistischen Bewusstseins einzubringen gelingt, unendlich wichtiger ist – nicht nur als die größte Dynamitbüchse, sondern auch als eine große Semstwo-Buß- und Betprozession von Moskau nach Zarskoje Selo, wichtiger nicht nur für unser sozialrevolutionäres Endziel, sondern auch für die nächsten Aufgaben der politischen Befreiung.
Die Behauptung, außerhalb des Proletariats sei kein Raum für politische Tätigkeit, oder die Negierung der Tatsache, dass die Semstwo-Opposition und auch der „Bund der Befreiung“ als Vorläufer der konstitutionell-demokratischen Partei eine bestimmte Rolle im Befreiungskampf gespielt haben, wäre naiver politischer Nihilismus. Weil das jedoch gerade so ist, musste die sozialistische Taktik diese ihr äußerliche Arbeit einkalkulieren; dazu aber durften die Sozialisten nicht aus dem Proletariat herausgehen, sondern mussten in seiner Mitte bleiben. Wer die „russischen Marxisten“ zur Tätigkeit im Kreise der liberalen Opposition aufrief, versuchte ein Verbrechen gegenüber dem Proletariat. Der „ungestüme“ Kampf der Iskra, deren Namen unsere Revisionisten nicht anders als mit Schaum vor dem Mund artikulieren, war in erster Linie darauf gerichtet, den besten Teil der Intelligenz geistig auf die Sache des Proletariats zu verpflichten; und wenn die Tendenzen des Credo relativ wenig Erfolg hatten, so ist unsere Partei dafür in entscheidendem Maße der glänzenden Kampagne von Iskra und Sarja verpflichtet.
„Was geschah“, so fragt mich Herr Prokopowitsch, „was geschah mit den sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen, die sich unter dem Einfluss von Anhängern des Rabotscheje Djelo in der voriskristischen Periode gebildet hatten? – Sie wurden zerstört!“ klirrt die überführende Stimme.
Kain, wo ist dein Bruder Abel? Du hast ihn getötet. Von dieser Tat der Sozialdemokratie spricht Frau Kuskowa mit tiefer Tragik in der Stimme: „Eine schwarze Seite im Buch der Geschichte“ oder „eine düstere Seite im Buch der Geschichte“.
Der erhabene Ton dieser Überführung ist äußerst effektvoll und ruft einen fast erschütternden Eindruck hervor; nichtsdestoweniger hat diese Überführung sehr wenig Inhalt. Die Iskristen hätten sozialdemokratische Arbeiterorganisationen zerstört: Wie zerstörten sie sie? Mit welchen Mitteln? Gelang es hier doch nicht einmal der Polizei die Organisationen zu zerstören, obgleich sie weit mehr Mittel und Kräfte besitzt! Wieso gelang das dann den Iskristen? Und auf welche Weise können Organisationen, die den Bedürfnissen der Arbeiterbewegung entsprechen, von einem kleinen Haufen närrischer Intellektueller (denn als solche erscheinen die Iskristen in Ihrer Darstellung) zerstört werden? Wo dann überhaupt die Garantien für eine weitere Entwicklung der Partei suchen, wenn zu jedem beliebigen Zeitpunkt von außerhalb Dutzende von Maniaken kommen können und von den Arbeiterorganisationen kein Stein auf dem anderen bleibt?
Offensichtlich muss ich Ihnen, verehrter Herr, erklären, dass die Arbeiterorganisationen, von denen Sie sprechen, nicht durch irgend jemand zerstört wurden, sondern sich im Wachstumsprozess der Partei und mit der Veränderung ihrer Aufgaben geradezu erst frei gemacht haben. Die alten Gruppen standen ihrem Typus nach syndikalistischen Verbänden wesentlich näher als politischen. Deshalb erwiesen sie sich als völlig unbrauchbar, als die Notwendigkeiten politischer Agitation mit elementarer Kraft an sie herantraten; diese Arbeiterorganisationen wären ohnehin in ihre Bestandteile zerfallen, auch wenn die Iskristen keinerlei höllische Maßnahmen gegen sie ergriffen hätten.
Die Iskra selbst war Ausdruck der politischen Bedürfnisse der Bewegung. Die Losungen, die sie aufstellte, waren die geistige Flagge neuer organisatorischer Ansätze, hinter der sich die fähigsten Elemente aus den alten Gruppen sammelten. Wie niedrig wir den von der Iskra in die Realität der Partei eingebrachten Beitrag auch einschätzten – ihr Sieg war in jedem Falle und ohne jeden Zweifel das Ergebnis der Überlegenheit der von ihr vertretenen Ideen. Die neuen Bedürfnisse schufen wie immer eine Fraktion, die alten Tendenzen trachteten wie immer, sich zu konservieren. Es siegte natürlich die fortschrittliche Tendenz, und wie immer gab es im Fraktionskampf viele überflüssige Reibungen. Aber drei oder vier Jahre danach ein Klagelied anzustimmen, dass die iskristischen Barbaren eine im Formierungsprozess begriffene Partei zerstört und Arbeiterorganisationen ihren Vorurteilen zum Opfer gebracht hätten, heißt der grandiosen Primitivität des eigenen Denkens Ausdruck verleihen.
Die Periode der Iskra lässt die Herren Revisionisten, wie schon oben gezeigt, nicht mehr ruhig schlafen; sie stellen sie dar, wie strenggläubige Chronisten einen Einfall heidnischer Barbaren beschrieben: Sie kamen, zerschlugen und verbrannten alles, schändeten Frauen und Mädchen und erschlugen die Säuglinge. [G]
Das alles gehört jetzt, wie Herr Prokopowitsch schreibt, der Vergangenheit an:
„Jetzt beispielsweise führt einer der sehr geehrten Begründer der russischen Sozialdemokratie eine breite Agitation zugunsten der Einberufung eines Arbeiterkongresses im Unterschied zu einem Parteikongress. Was ist das, wenn nicht die Liquidierung der Periode der Iskra?“
Herr Prokopowitsch spricht so nicht von der Liquidierung der negativen Seiten der „Periode der Iskra“ – eine von den „Iskristen“ selbst schon längst angegangene Arbeit –, sondern von der Liquidierung der gesamten Partei als eines aus der Epoche des mongolischen oder vielmehr iskristischen Jochs stammenden Missverständnisses. Dabei führt Herr Prokopowitsch P. B. Axelrod als Bundesgenossen an. Ich erlaube mir, einige Zeilen aus dem persönlichen Brief des Genossen Axelrod anzuführen, den ich vor dem polemischen Artikel Herrn Prokopowitschs erhielt [H], der jedoch die parteifeindliche Unverfrorenheit des letzteren hinreichend charakterisiert. Genosse Axelrod schreibt:
„Von einem ‚Appell an das Proletariat über die Köpfe der sozialdemokratischen Intelligenz hinweg‘ zu sprechen – in diesem gegebenen Fall – ist unsinnig und absurd; überhaupt liegt der Schwerpunkt für mich in der vorbereitenden propagandistischen, agitatorischen und organisatorischen Arbeit. Ich tue alles, was in meinen Kräften steht, um den Beginn der Agitation für den Kongress bis zu dem Augenblick zu verschieben, wo auf der einen Seite die kollektive Meinung der Partei genügend klar bestimmt sein wird, und wo sich andererseits mittels literarischer Debatten und Diskussionen in den Parteizirkeln und Parteiversammlungen, mittels Referaten etc. ein Stamm von Schulungsleitern, Agitatoren und Organisatoren herausbildet, die in der Lage sind, im Namen und im Auftrag der Partei die Initiative zur Vorbereitung der Einberufung des Arbeiterkongresses auf sich zu nehmen.“
Wie Sie sehen, ist das von einer alternativen Gegenüberstellung „Partei -Klasse“ sehr weit entfernt!
Da Herr Prokopowitsch sich mit Hochachtung auf P. B. Axelrod beruft, dessen Ansichten auch für mich immer in besonderer Weise maßgebend waren und sind, haben wir offensichtlich eine „Instanz“ gefunden, deren Meinung beide Parteien zu berücksichtigen bereit sind. Ich werde deshalb die Antwort des Genossen Axelrod zu einer Fragestellung anführen, die weder Herrn Prokopowitsch noch Frau Kuskowa unberührt lassen kann. Axelrod schreibt in seiner soeben erschienenen Broschüre:
„Als der Enthusiasmus für den engstirnigen Ökonomismus in der Partei auf dem Höhepunkt stand, verwies ich auf dessen antisozialdemokratische Tendenz, die letztlich die politische Hegemonie und die Vormundschaft der demokratischen Bourgeoisie über das Proletariat vorbereite. Sehr rasch jedoch bestätigten die Autoren des bekannten Credo (hört, hört, ihr Herren Autoren des Notizblocks!) meine Befürchtungen, indem sie das, was ich als objektive Tendenz charakterisiert hatte, zum angestrebten Ziel deklarierten.“ [I]
Ich hoffe, dass diese Worte keinerlei Kommentar erfordern.
G. d. h. die „kritischen“ Sozialisten.
H. als Antwort auf meinen im vorliegenden Sammelband abgedruckten Brief.
I. P. B. Axelrod, Dwe taktiki (Zwei Taktiken), SPb 1907.
Zuletzt aktualiziert am 14. November 2024