< Leo Trotzki: Zur Verteidigung der Partei (6. Die Sensationen der Frau Kurdjukowa „dans l’etranger“)

 

Leo Trotzki

Zur Verteidigung der Partei

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6. Die Sensationen der Frau Kurdjukowa
„dans l’etranger“


Nach Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 212–252.


„Die Lehren der Gegenwart stimmen in erstaunlicher Weise mit dem überein, was wir vor 6–8 Jahren gesagt haben ... Nicht wir sind es, die den Sozialdemokraten die Leviten lesen, die Realität erteilt ihnen unbarmherzig Lektionen. Wir registrieren nur diese Lektionen und freuen uns der Siege der Realität über ein lebloses Dogma.“

Ich bereue beinahe, dass ich diese Arbeit in Angriff genommen habe. Sie zwingt mich, im Müll kleinlicher Ideen ohne System herum zu wühlen, die die – richtigen oder unrichtigen, ohne Zweifel jedoch ernsthaft kritischen – Gedanken aus dem Umkreis unserer eigenen Partei zu bekritteln suchen. Intensive Parteipolemik ist eine Form des Klassenkampfs – und keineswegs die unbedeutendste. Im Augenblick ist unsere Partei der täglichen Presse beraubt, die Hieb mit Hieb und manchmal mit zwei oder drei Hieben beantwortete. Die liberale Presse indessen kritisiert unsere Partei tagaus, tagein; ihre Kritik ist ohne System und Methode, gekennzeichnet von einer Art Zeitungs-Wilddieberei, flüchtigen Anspielungen, abfälligen Floskeln und hinterhältigen Unterstellungen, die mitunter so korrekt in der Form wie empörend unrichtig in der Sache sind. Ich bereue fast, dass ich mich an diese Arbeit gemacht habe.

Sie zu unterlassen war jedoch unmöglich. Eine Partei kann nicht von der Gewissheit leben, dass falsche Beschuldigungen und tiefsinnig versteckte Unterstellungen, die in sich allerdings keinerlei Tiefsinn besitzen, auf lange Sicht unvermeidlich ihren Kredit verlieren, dass „alles vergeht und nur das Recht bleibt“. Ja, zu guter Letzt wird sich das unvermeidlich erfüllen. Die Spinnweben und der Kehricht der liberalen und „revisionistischen“ Unterstellungen, Belehrungen, Anspielungen und Kommentare jedoch dürfen sich jetzt, in dieser Minute, im Bewusstsein der sozialen Elemente, die wir bei uns behalten und die wir noch erobern wollen, nicht festsetzen. Und das ist nicht alles. Die prinzipienlose Kritik der liberalen Presse, die nicht die notwendige Abfuhr erhält, verzögert nicht nur das äußere Wachstum der Partei, sondern hemmt auch ihre innere Entwicklung. Die Selbstkritik hatte in unserer Partei immer einen enormen Stellenwert und diente als unentbehrliches Instrument ihrer Entwicklung. Bevor jetzt aber irgendein kritischer Gedanke ruhige Einschätzung erfährt, kann die bürgerliche Presse ihn – in Ermangelung einer sozialistischen Presse – durch Sympathieerweisung oder durch missgünstige Wiedergabe kompromittieren. Sie reißt ihn aus dem lebendigen Zusammenhang des Denkens unserer Partei, zerschlägt ihn in einzelne Stücke und schleift diese Splitter, aufgeputzt mit liberalen Clownsmützen und Narrenschellen, durch die Spalten ihrer Zeitungen. Und dann taucht die unsterbliche Mme. de Kourdukoff auf und verleiht ihren „Sensationen und Anmerkungen“ den Charakter endgültiger Bestimmungen.

Da ist die Zeitung Byloe, ihrer eigenen Reklame nach ein Organ der Parteilosen. Sie wird unter der Redaktion des einstigen Marxisten Bogutscharski herausgegeben und ist infolgedessen ein besonders geeigneter Platz für bösartige Ausfälle gegen die sozialdemokratische Partei. Unter dem Mäntelchen der Rezension des ruhigen und rein sachlichen Berichts des Genossen Dan auf dem Amsterdamer Kongress beschreibt Frau Kuskowa darin in pfeifenden und zischenden Tönen die finsteren, blutigen Freveltaten der bösen Verbrecherbande von Sozialdemokraten (Freveltaten gegenüber dem Proletariat oder etwa gegenüber Frau Kuskowa?); die Publizistin unterzieht die Geschichte unserer Partei einer schonungslosen Prüfung und kommt zu dem Ergebnis, dass alles Übel bei uns aus der Missachtung der Hinweise – Frau Kuskowas selbst herrührt; Herr Prokopowitsch seinerseits schreibt:

„Wir handelten früher einmal in dieser naiven Weise (zu versuchen, die Sozialdemokraten zu „belehren“), aber das ist schon lange her: gegen Ende der 90er Jahre. Rasch überzeugten wir uns von der Erfolglosigkeit eines solche Unternehmens – und schüttelten den Staub von unseren Füßen.“

Was geschah daraufhin? Die Realität gab diesen Herren volle Genugtuung – sagt wenigstens Herr Prokopowitsch, denn die zu Anfang dieses Kapitels angeführten Zeilen stammen von ihm.

Was lehrten und prophezeiten diese Herren vor 6–8 Jahren wirklich? Hier folgt, was sie dozierten:

„Die Linie des geringsten Widerstands (in der Arbeiterbewegung) wird bei uns niemals auf die politische Tätigkeit gerichtet sein. Das unerträgliche politische Joch wird dazu führen, dass viel von ihm gesprochen und gerade auf dieser Frage die Aufmerksamkeit gerichtet sein wird, niemals aber wird es zur praktischen Tat führen.“

Die schwachen Kräfte der russischen Arbeiter

„stehen (...) vor der Mauer der politischen Unterjochung, und es gibt für sie nicht nur keine praktischen Wege des Kampfes gegen dieses Joch und folglich auch zur eigenen Entwicklung, sondern sie werden von ihm sogar systematisch erstickt und können nicht einmal schwache Keime treiben. Wenn man hinzufügt, dass unsere Arbeiterklasse nicht jenen Organisationsgeist als Erbe übernommen hat, durch den sich die Kämpfe des Westens auszeichneten, so ergibt sich ein niederdrückendes Bild, wie es den optimistischsten Marxisten verzagt machen kann [...].

[...]

Das Gerede von einer selbständigen politischen Arbeiterpartei ist nichts anderes als ein Produkt der Übertragung fremder Aufgaben, fremder Resultate auf unseren Boden.“

Das ist es, was sie vor 6–8 Jahren prophezeiten und lehrten, das sind ihre Voraussagen, welche das Leben glanzvoll bestätigte! Wir führten soeben die Schlussfolgerungen des sogenannten Credo wortgetreu an, das Frau Kuskowa geschrieben hat. Die theoretischen Ausgangspunkte und die Überlegungen der Autorin über den Verlauf der Arbeiterbewegung in Westeuropa übergingen wir wegen ihrer Bedeutungslosigkeit – gelehrte Reflexionen, die in ganz außerordentlicher Weise an die „Sensationen und Anmerkungen“ der einst von Mjatlew besungenen Frau Kurdjukova „im Ausland, dans l’etranger“ erinnern. Dieselbe Frau Kuskowa führt in ihrer Rezension der Broschüre von Dan einige verhältnismäßig unschuldige, obgleich in ihrer Art relativ ungeschickte Stellen aus dem Credo an und erklärt: „Aus dem Credo bürgerlichen Liberalismus herauslesen kann nur der, der das Credo nicht um einer Idee, sondern um der Schmähung willen gelesen hat.“ O Frau Kurdjukova! „Bürgerlicher Liberalismus“ ist keine Schmähung, sondern die Bezeichnung einer bestimmten gesellschaftlichen Bewegung. Wenn irgendein origineller Schildbürger – „Sozialist“ von der Art Herrn Pesechonows – das nicht fassen kann, so möge der Herr ihm vergeben, wie auch wir ihm vergeben. Aber es ist peinlich für einen „kritischen“ Sozialisten, der die Schicksale des Proletariats dans l&lsqio;etranger untersucht, dies nicht zu wissen! Wir erlauben uns deshalb, unsere so erzürnten Kritikerin vor Augen zu führen, dass aus dem Credo bürgerlichen Liberalismus herauszulesen absolut nicht notwendig ist: Es genügt völlig, folgende grundlegende, von der Autorin selbst gezogene Schlussfolgerung zu zitieren:

„Es gibt für den russischen Marxisten nur einen Ausweg: Beteiligung am wirtschaftlichen Kampf des Proletariats, d. h. Unterstützung dieses Kampfes, und Beteiligung an der liberal-oppositionellen Tätigkeit.“

Liberal-oppositionelle Tätigkeit – das ist ein Synonym für bürgerlichen Liberalismus. Und wer die russischen Marxisten auffordert, phantastische Hoffnungen auf die Schaffung einer Arbeiterpartei fahren zu lassen und sich an der liberal-oppositionellen Tätigkeit zu beteiligen, der ruft sie offensichtlich ins Lager des bürgerlichen Liberalismus. Es ist richtig, dass Frau Kuskowa darüber hinaus noch die „Unterstützung des wirtschaftlichen Kampfes des Proletariats“ anempfohlen hat; eine solche Unterstützung jedoch wird vom bürgerlichen Liberalismus nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil von ihm vorausgesetzt. Brennt die konstitutionell-demokratische Bourgeoisie etwa nicht vor Begierde, den Gewerkschaften des Proletariats „Unterstützung“ zu erweisen?

Es ist richtig, dass all ihre Unternehmungen in dieser Richtung Versuche mit untauglichen Mitteln darstellen; aber auch die Mittel von Frau Kuskowa zeigen sich doch als ganz und gar untauglich. Es ist auch richtig, dass Frau Kuskowa von den allerbesten Gefühlen gegenüber dem Proletariat geleitet ist, wenn sie die russischen Marxisten ins Lager des bürgerlichen Liberalismus ruft; aber wen, erlauben Sie die Frage, interessieren die allerbesten Gefühle der Frau Kuskowa, wenn sie schon einmal ins Lager des bürgerlichen Liberalismus übergegangen ist und andere mit sich gezogen hat? Dies ist doch schließlich das Faktum! Das steht doch nicht nur im Credo geschrieben, sondern das ist auch tatsächlich geschehen! Frau Kuskowa trat aus der Sozialdemokratie aus und in den bürgerlich-demokratischen „Bund der Befreiung“ ein. Woraus erklärt sich die allzu vorlaute Versicherung, dass man bürgerlichen Liberalismus aus dem Credo nur „um der Schmähung willen“ herauslesen könne? Etwa einfach aus der Scham über die Vergangenheit? Ach Frau Kurdjukova! Das ist nicht gut! Verzeihen Sie, aber das erinnert mich an die Moral eines Liedchens: Wenn du zu stehlen wusstest, so wisse das Erworbene auch zu bewahren!

Das ist um so eindeutiger, als man aus dem Credo von Frau Kuskowa wie auch aus den damaligen Schriften von Herrn Prokopowitsch keinen anderen Schluss ziehen kann als den einer Aufforderung an die marxistische Intelligenz, in die Reihen der bürgerlichen Opposition einzutreten. Wenn bis zum Zustandekommen (auf welchem Weg?) der politischen Freiheit von der Organisierung einer selbständigen Arbeiterpartei keine Rede sein konnte, ja nicht einmal von einer politischen Agitation innerhalb der breiten Proletariermassen, dann musste jeder Marxist, der weder ein Don Quijote sein wollte noch geneigt war, hinter dem Ofen zu sitzen, sich auf die einzige Ebene begeben, auf der die Möglichkeit zu politischer Tätigkeit offenstand – in den Bereich des bürgerlichen Liberalismus. Eine solche Schlussfolgerung war absolut logisch, und der Sündenfall der Revisionisten liegt nicht darin, dass sie diese praktische Konsequenz folgerichtig zogen, sondern darin, dass sie die Eingebungen des verkürzten „gesunden Menschenverstands“ für sichere Grundlagen realistischer Politik nahmen. Und anstatt sich einer logischen Schlussfolgerung zu schämen – ein falsches Gefühl, Gnädigste! – hätte Frau Kuskowa ehrlicherweise den Gedanken der Möglichkeit [2] illegaler politischer Tätigkeit in der breiten Arbeitermasse ablehnen müssen: ein durch den Gang der Dinge so grandios zertretenes Vorurteil! Aber gerade das tat Frau Kuskowa nicht. Mit einem Starrsinn, der beinahe rühren könnte, wäre er nicht so lächerlich, beweist sie nun, dass die Ereignisse genau den Weg nahmen, den die Herren M. M., N. N., Petr Iwanowitsch Bobtschinski und Petr Iwanowitsch Dobtschinski im Jahre 1900 prophezeit hatten, während sie im Ausland, dans l’etranger lebten. Im Grunde jedoch ist daran nichts Rührendes: Es ist schlichtweg der kleinliche Versuch, irgend jemandem gegenüber zu beteuern, die Sozialdemokratie habe während dieser sechs Jahre nichts als Dummheiten begangen, und Mme. de Kourdukoff habe deshalb dem Proletariat eine wahre Wohltat erwiesen, als sie sich in den Dienst der liberalen Bourgeoisie stellte. Ach, Gnädigste, die Geschichte kann man nicht betrügen!

Über dasselbe Credo, das wir oben zitierten, erzählt Frau Kuskowa mit gemütlicher Stimme (und keineswegs in zischenden und pfeifenden Tönen) ein sehr hübsches Märchen: Es waren einmal zwei Menschen, M. M. und N. N., die im Ausland lebten. Sie diskutierten über den orthodoxen Marxismus und über Sterbekassen. Sie lebten in Frieden, und einmal fuhren sie nach Hause. Im Heimatland wurde N. N. Verhaftet – das passiert auch Revisionisten. M. M. jedoch gelangte nach Petersburg und diskutierte dort weiter über die „brandaktuellen Themen des Marxismus“. „Einst wandte man sich an M. M. mit der Bitte, seine Ansichten zu strittigen Fragen zu formulieren, damit man sich im Disput auf etwas Geschlossenes und Ganzes stützen könne.“ Und dann legte M. M. – „als Einzelner, ohne alle Mitbeteiligten“, offensichtlich jedoch mit der klaren Fähigkeit, das Vollbrachte einzuschätzen – seine Ansichten „auf einem Notizblock“ nieder (wie zum Trotz hatte er weder Pergament noch Papyrus zur Hand). M. M. dachte überhaupt nicht mehr an seinen Notizblock, dieser billige Notizblock jedoch verwandelte sich in das Credo, rief viel Lärm hervor und wurde auf irgendeine Weise zum „historischen Dokument“. Zu guter Letzt stellte sich heraus, dass der Autor des Credo nicht irgendein tückischer und gefährlicher Feind des Proletariats war, sondern einfach – Frau Kuskowa. „So wird Geschichte gemacht“, liebe Kinder – das ist die Moral dieses zu Tränen rührenden Märchens.

Frau Kuskowa klagt in Kursivbuchstaben, dass Plechanow in seinem Vademecum ihre Privafbriefe veröffentlicht habe; das war möglicherweise sehr indiskret von Plechanow! Diese Briefe sind jedoch trotz alledem von Frau Kuskowa verfasst, und der Umstand, dass sie privat gewesen sind, macht sie keineswegs vernünftiger. Ganz allgemein wäre zu sagen, dass die Klagen von Frau Kuskowa über den allzu großen Bekanntheitsgrad ihrer Privatbriefe und ihrer programmatischen Notizblöcke sehr an die Beschwerde der schon erwähnten Frau Kurdjukova über Joseph Gutenberg erinnern:

„Du erfandst die Imprimerie.
Sagen Sie, je vous prie,
Was haben Sie da entdeckt!
Schon jetzt gibt es unter den Leuten
keine Geheimnisse mehr; es ist unmöglich,
ein Wort behutsam zu sagen ...
Wie beflügelt beginnt dein Bon mot
durch das ganze Universum zu eilen.“

Und deshalb muss 6–8 Jahre später auf der einen Seite nachgewiesen werden, dass das „bon mot“ zufällig und ohne Mitbeteiligte geprägt worden ist, und auf der andere Seite, dass die Realität gerade so verlief, wie es die Frau Kurdjukova prophezeit hatte, als sie politische Sensationen und Anmerkungen „dans l’etranger“, im Auslande zusammenlas! „Sagen Sie, je vous prie“, ist das leicht nachzuweisen?

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Anmerkung

2. In der Vorlage „Unmöglichkeit“, laut Herausgeber wahrscheinlich Druckfehler.


Zuletzt aktualiziert am 14. November 2024