Leo Trotzki

Zur Verteidigung der Partei

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4. Ist es wahr, dass wir eine
blanquistische Partei sind?


Nach Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 212–252.


Unter der Feder irgendeines „Theoretikers“ von Retsch oder vom Towarischtsch bedeutet der Terminus Blanquist nichts, weil er zu viel beinhaltet. Für den Kadetten ist jeder ein Blanquist oder ein Jakobiner, der kein Kadett ist. Rechts Jakobiner, links Jakobiner und in der Mitte das konstitutionell-demokratische Zentrum – das ist das kadettische Schema unseres politischen Lebens. Den „kritischen Sozialisten“ des Towarischtsch erscheint jeder Marxist, jeder revolutionäre Sozialdemokrat als Blanquist – und wenn man ihrer Diagnose Glauben schenken will, ist unsere gesamte Partei von der Pest des Blanquismus infiziert.

Man sollte sich eigentlich bei dieser furchteinflößenden Diagnose gar nicht aufhalten, die unsere Partei in keiner Weise charakterisiert, dafür aber sehr wohl die Geistesrichtung der opportunistischen Reformisten. Der Vorwurf des Blanquismus wurde von den Herren Kritikern jedoch ebenfalls der Polemik innerhalb unserer Partei entnommen, und: diese Herkunft verleiht ihm gleichsam ein Etikett von Stichhaltigkeit. Allerdings kostet es wenig Mühe, sich von der Unrichtigkeit dieses Etiketts zu überzeugen.

In unserer Partei kämpften während der beiden letzten Jahre zwei Fraktionen gegeneinander; sie besaßen abwechselnd die Oberhand, zwei Fraktionen, die in Ermangelung inhaltlich treffender politischer Bezeichnungen die reichlich unpassenden Namen „Mehrheitler“ und „Minderheitler“ tragen. Die polemische Literatur beider Fraktionen ist sehr reichhaltig – zu reichhaltig: Ich kann das um so gelassener konstatieren, als ich selbst in der ersten Zeit daran teil hatte. [a] Aus verschiedenen Anlässen und in verschiedenen Fällen beschuldigten die Bolschewiki die Menschewiki des Opportunismus und des Bernsteinianertums, die Menschewiki etikettierten ihrerseits die Bolschewiki mit den Bezeichnungen Jakobinismus und Anarcho-Blanquismus. Ich will keineswegs behaupten, dass diese wechselseitigen Anwürfe völlig ohne Inhalt gewesen wären – natürlich kam auch das vor, aber das lässt sich kaum vermeiden, wenn einmal zwei Fraktionen existieren. Es ist jedoch für mich allgemein ganz unbezweifelbar, dass sich hinter dieser innerparteilichen Polemik, die nicht immer die entsprechenden Proportionen einhielt, ganz reale Widersprüche in der Entwicklung unserer Partei verbergen.

Die russische Sozialdemokratie formiert sich unter beispiellosen Bedingungen: Obgleich sie durch die Tatsache ihrer Existenz selbst zu einer Massenpartei geworden ist, sieht sie sich gezwungen, im Untergrund zu leben; obgleich sie die Klassenpartei des Proletariats ist, muss sie sich in ihrer Taktik der bürgerlichen Revolution anpassen; und obgleich sie schließlich vor so komplizierten Aufgaben steht, stützt sie sich auf Massen, die politischer Kultur erst seit kurzer Zeit teilhaftig sind. Unter diesen Bedingungen brachte die Entwicklung der Partei eine Reihe von Gefahren mit sich, die mitunter real, mitunter jedoch einfach nur Projektionen sind.

Der Zwang, im Parteiaufbau eine so reale Größe wie die politische Polizei zu berücksichtigen, stieß mit der Notwendigkeit zusammen, den Parteiapparat in die demokratische Organisation der selbsttätigen Masse zu verwandeln. Die Notwendigkeit einer prinzipiellen Taktik erforderte einen gut durch konstruierten und geschmeidigen Apparat; der explosive Charakter der revolutionären Ereignisse, das Hervortreten neuer Volksschichten, der Wechsel von Sturm und Windstille – all das erschwerte die Arbeit für die Bildung einer ausgeformten Parteiorganisation in extremem Maße. Die Gefahr, sich von der Masse zu lösen, stand der Gefahr gegenüber, sich in der Masse aufzulösen. Sozialdemokratische Taktik ist nicht möglich, ohne das Proletariat der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit gegenüberzustellen. Die Erfordernisse der „nationalen“ Revolution indessen verlangten gerade die Vereinigung der Aktivitäten von Proletariat und Bourgeoisie. Die Notwendigkeit einer voll ausgebildeten Taktik gegenüber dem Liberalismus wurde behindert durch die chaotische Natur des Liberalismus selbst, der seinen Entwicklungszyklus noch nicht vollendet hatte. Den politischen Ausdruck des Klassenkampfes künstlich zu forcieren hieß der Revolution eine rückläufige Richtung geben. Die Gegensätze abzustumpfen bedeutet, die Klasseninteressen des Proletariats aufzugeben und die Revolution wiederum, diesmal vom anderen Ende her, zu bremsen: „Gefahren“ bei jedem Schritt. Die einzelnen Bedürfnisse der politischen Entwicklung drückten sich in fraktionellen Plattformen aus, die feindlich aufeinanderstießen. Die Antithesen: Ökonomismus – Politizismus, Demokratismus – Zentralismus, Anbetung der Spontaneität – Jakobinismus, Opportunismus – Anarcho-Blanquismus, etc. etc. sind unter diesem Gesichtspunkt zu sehen.

Bestimmte Bedürfnisse der Bewegung treten in verschiedenen Perioden mit unterschiedlicher Kraft auf. Auf Grund des revolutionären Charakters der Epoche lösen diese Perioden einander mit großer Schnelligkeit ab. Manchmal gilt es, innerhalb von 24 Stunden umzurüsten: von der Organisierung von Streiks – zu politischer Agitation, von der Agitation – zur Organisierung von Straßendemonstrationen; das Jahr der Kampagne anlässlich des Kriegs; das Streik-Vorspiel; die Periode der mächtigen offenen Organisation der Massen; die Aufgaben des Hervortretens der Massen; die Probleme des Parlamentarismus, erneut die Aufgaben des Hervortretens der Massen und wiederum die Probleme des Parlamentarismus.

Natürlich zieht sich durch all diese Aspekte ein roter Faden. Aber dieser Faden zeigt sich nicht anders als auf dem Weg der Widersprüche. Die Fraktion ergreift die Hegemonie in der Partei, die aus ihren Eigenschaften heraus am meisten in der Lage ist, die Ansprüche der jeweils aktuellen Periode zu erfüllen. Allein schon die Tatsache, dass die beiden Fraktionen der Sozialdemokratie während dieser drei stürmischen Jahre, die so viele neue Gruppen und Parteien entstehen ließen, weiter bestanden, ohne dass eine Fraktion fähig gewesen wäre, die andere aufzusaugen, beweist sehr deutlich, dass keine von ihnen die Bedürfnisse der Arbeiterbewegung in vollem Umfang ausdrückt. Das Eindringen der Organisation in die Massen, die Akkumulation von Erfahrung, die Herausbildung von Führern – mit einem Wort, die Formierung der Arbeiterpartei vollzieht sich nicht auf der Basis planmäßig gezogener Schlussfolgerungen aus theoretischen Prämissen des Programms, sondern auf dem Weg des „Bürgerkriegs“ der Fraktionen und Strömungen. Ohne Zweifel ist das eine sehr wenig „ökonomische) Entwicklungsmethode. Aber sie hat vor anderen den Vorzug, dass unsere Partei sich auf diesem Wege wirklich herausbildet. Wenn wir deshalb von der Sozialdemokratie sprechen und sie der bürgerlichen Demokratie gegenüberstellen, dann haben wir nicht einfach eine Kombination von Fraktionen, nicht die einfache arithmetische Summe von Bolschewiki und Menschewiki im Sinn, sondern ein lebendiges, organisch gewachsenes Ganzes.

Bringt man alle Losungen, Thesen und Deklarationen beider Fraktionen in chronologische Reihenfolge, dann kann man in ihnen ohne Mühe eine Reihe von Widersprüchen entdecken. Das ist von den Polemikern beider Fraktionen auch schon mehrmals durchexerziert worden. Diese Widersprüche haben jedoch nichts mit Prinzipienlosigkeit gemein. Sie rühren daher, dass jede Fraktion, die in jedem gegebenen Augenblick bestimmte Bedürfnisse der Arbeiterbewegung behauptet, ihnen aus ihrer fraktionellen Position heraus kategorischen und absoluten Charakter verleiht. Wir führen keine Beispiele solcher „metaphysischer“ Widersprüche an, da jedem, der über die Entwicklung der Sozialdemokratie nachdenkt, unsere Aussagen von selbst klar sind. Und wer über diese Probleme nicht nachdenkt, dem werden zwei oder drei Beispiele auch nichts sagen.

Es versteht sich von selbst, dass diese allgemeinen Überlegungen, die uns erlauben, mit vollem Vertrauen auf das weitere Schicksal der Partei zu blicken, uns nicht von der Verpflichtung befreien, die von der einen oder der anderen Fraktion ausgegebenen Losungen in jedem gegebenen Augenblick zu analysieren und unter dem Blickwinkel der Klassenpolitik des Proletariats abzuschätzen. Mehr noch: Eine solche Abschätzung erfordert immer die Zurückführung taktischer Fehler auf ein unrichtiges taktisches Prinzip. Wie gering auch der Grad einer Meinungsverschiedenheit sein mag, wir können immer ihre Linien gedanklich bis in alle Unendlichkeit verlängern und unserem Widersacher sagen: Sehen Sie her, Sie sind von der Richtung der sozialdemokratischen Politik abgewichen; wenn Sie diesen Weg noch weiter verfolgen, kommen Sie unvermeidlich zum Blanquismus oder zum Opportunismus, zum Anarchismus oder zum Liberalismus, etc. etc. Eine solche theoretische Operation wird nicht nur methodologisch richtig, sondern auch praktisch nutzbringend sein. Den Partisanenkampf mit falschen Schritten erhebt sie in den Rang eines prinzipiellen Kampfes mit falschen Methoden; damit erleichtert sie den Sieg. Auf diesem Weg kann man zeigen, wie beispielsweise der einseitige Kampf um Bildung und Bewahrung einer zentralisierten revolutionären Organisation, ein Kampf, der eine ganze Reihe tiefer Bedürfnisse der Bewegung ignoriert, in seiner logischen Weiterentwicklung zur Einführung blanquistischer Methoden in die Partei des Proletariats führt, oder wie die einseitige Sorge um die Aufrechterhaltung der Einheit der „nationalen“ Revolution die Außerachtlassung des inneren Klassenmechanismus dieser Revolution erzwingt und unsere Taktik auf den Weg des Opportunismus und Liberalismus führt. Unter diesem Gesichtspunkt ist es klar, dass Bestimmungen wie Blanquismus und Opportunismus in unserer fraktionellen Polemik nur eine sehr bedingte Bedeutung haben. Soweit man in ihnen nicht einfach Versuche sehen muss, den Gegner akustisch zu terrorisieren (was ebenfalls in jeder fraktionellen Auseinandersetzung unvermeidlich ist), bedeuten sie nicht mehr und nicht weniger als das Folgende: Wenn wir irgendwelche Fehler, Abweichungen oder Vorurteile auf die Ebene von Prinzipien erhöben, dieses Prinzip zur Grundlage der Taktik in ihrer Gesamtheit machten und diese Taktik vom Einfluss marxistischer Ideen befreiten, dann erhielten wir eine blanquistische oder eine opportunistische Taktik. Natürlich zeigen sich stets viele überflüssige Wucherungen über einer solchen abstrakt-logischen Konstruktion – ein Ergebnis der fraktionellen Erbitterung, des polemischen Temperaments und alles dessen, was der Kategorie Menschliches, allzu Menschliches zuzuordnen ist. Der tatsächliche Grad der Abweichungen nach dieser oder jener Seite wird daraus ersichtlich, dass beide Fraktionen sich nicht nur auf ein und dieselbe Klassenbewegung stützen, sondern auch im Rahmen einer gemeinsamen Parteiorganisation, auf der Grundlage eines gemeinsamen Programms verbleiben, wobei beide in ihren theoretischen Zusammenstößen mit dem Instrumentarium des Marxismus operieren.

So haben Blanquismus und Opportunismus [1] als Termini in unserer innerparteilichen Polemik einen äußerst beschränkten und bedingten Sinn. Was bedeuten sie, wenn die bürgerliche Kritik sie gegen unsere Partei in ihrer Gesamtheit richtet? Nichts. Oder, wenn man so will, lediglich das, dass die bürgerlichen Publizisten mit der Partei des Proletariats unzufrieden sind und sie völlig umgestaltet sehen wollten: Wie? – nun, ohne Zweifel nach ihrem eigenen Aussehen und ihrer eigenen Gestalt.

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Anmerkungen

a. L. Trotsky, Report of the Siberian Delegation und Leo Trotzki, Unsere politischen Aufgaben.

1. In der Vorlage „Anarchismus“. Der Herausgeber vermutet einen Druckfehler.


Zuletzt aktualiziert am 19. November 2024