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Nach Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 212–252.
In letzter Zeit fanden sich in den bürgerlichen Zeitungen geflügelte Worte zur „Bestimmung“ unserer Partei: Die russische Sozialdemokratie – gemessen an ihrem Mitgliederbestand, eine Intellektuellenpartei – gemessen an ihrer Taktik, eine blanquistische Partei. Herr Struve setzte diese Charakteristik als einer der ersten in Umlauf. Sie bürgerte sich ein. Und jetzt sprechen all die Tagelöhner und Kulis der liberalen Presse mit solchem Aplomb von unserem Blanquismus, dass der naive Leser glauben könnte, sie hätten tatsächlich begriffen, worin der Marxismus sich vom Blanquismus unterscheidet. Man muss allerdings sagen, dass die bürgerlichen Publizisten diese beiden Begriffe unserer innerparteilichen Polemik entnommen haben. Ist ihre Berechtigung dazu ausreichend? Wir werden diese Frage rasch zu beantworten suchen.
Ist es wahr, dass wir eine Intellektuellenpartei sind?
Übrigens – gibt es überhaupt in Russland eine sozialdemokratische Partei? Vor ganz kurzer Zeit erklärte Herr Peter Struve mit jener Entschiedenheit, von der sein ganzes Auftreten gegenüber seinen linken Widersachern gekennzeichnet ist, dass eine sozialdemokratische Partei bei uns nicht existiere. „Links von der Partei der Volksfreiheit“, sagt er im Retsch, „gibt es keine politischen Parteien im eigentlichen Sinn des Wortes. Sie werden sich vielleicht herausbilden, doch das ist eine Sache der Zukunft.“ [E] Mit dem ihm eigenen „Genossen“-Mitgefühl (mit Peter Struve oder der Sozialdemokratie?) druckte der Towarischtsch seinerseits diese Zeilen ab.
Das heißt, es gibt links von den Kadetten keine Parteien, und es ist sogar noch fraglich, ob sie sich überhaupt herausbilden werden. Offensichtlich existieren rechts von ihnen solche Parteien. Offensichtlich besitzen der „Bund des russischen Volkes“, der „Bund des 17. Oktober“ oder die „Gesellschaft der friedlichen Erneuerung“ oder sie alle jene Eigenschaften und Qualitäten einer politischen Partei, die der russischen Sozialdemokratie abgehen.
Wir erlauben uns, die politische Physiognomie unseres Landes in einer etwas anderen Art zu betrachten. Falls es in Russland überhaupt eine politische Formation gibt, von der man mit Bestimmtheit sagen kann: Das ist eine Partei, die ohne jeden Zweifel vorhanden ist und der die Geschichte den morgigen Tag garantiert hat – so denken wir, dass das ausschließlich die Sozialdemokratie ist.
Betrachtet man die formalen Kennzeichen einer Partei – Programm, Taktik, Disziplin –, so nimmt die Sozialdemokratie hier ohne Zweifel den ersten Platz ein. Tradition, Erfahrung und die Fähigkeit, die Arbeit unter allen Bedingungen durchzuführen – diese unentbehrliche Fähigkeit, die die tiefe Hingabe an die Sache durch die Mitglieder der Partei zur Bedingung hat – können die Kadetten etwa in diesen Dingen die Konkurrenz mit der Partei des Proletariats aufnehmen? Die Mitgliederzahl? Die Kadetten haben 100.000 Mitglieder, unsere Partei hat 150.000. Wichtiger als diese Zahlen ist allerdings der soziale Bestand einer Partei. Was lässt sich in dieser Hinsicht von den Konstitutionellen Demokraten sagen? Auf wen stützen sie sich? Auf alle und auf niemanden. Nach den Worten Struves muss die Partei der Volksfreiheit „im Strudel unserer Demokratie stehen und agieren“. Sie muss, wie sich Herzen ironisch über die Pläne Bakunins ausließ, Gutsbesitzer, Bauern, Priester, Generäle, Frauen, Vögel und Bienen vereinen. Auf wen jedoch können die Kadetten sich jetzt mit voller Sicherheit stützen? Auf wen rechnen sie sich morgen stützen zu können? Diese Partei weist einige 15 Monate ihres Bestehens auf eine zu kurze Frist, als dass man ernsthaft von ihrer Lebensfähigkeit sprechen könnte. Es ist richtig, bei den ersten Wahlen errang sie einen geräuschvollen Sieg. Ist das jedoch ihre Eroberung, ihr Verdienst? Bereitete etwa sie diesen Sieg vor? Nein, der Sieg fiel auf sie nieder und zerbrach ihr mit einem Schlag das Rückgrat: Vom Skelett der Partei lösten sich die Semstwo-Elemente, ihre Stütze und Hoffnung, und rutschten ins Lager der „konstitutionellen“ Reaktionärs. Die Kadetten befanden sich vor dem rätselhaften „Strudel“ der Demokratie, der ihnen seine Stimmen nur deshalb gab, weil sie die einzige oppositionelle Urne darstellten. „Strudel“ der Demokratie! Aber wie sich seiner bemächtigen? Welche seiner Elemente kann man um sich zusammenschließen? Die Kadetten stellen einstweilen darüber nur im Kaffeehaus-„Strudel“ ihrer Leitartikel Vermutungen an. Sie werden darin auch nicht die Andeutung einer wirklichen sozialen Analyse der russischen Gesellschaft finden.
Worauf also stützt sich die hochgestochene Behauptung von Herrn Struve? Beflügelte ihn vielleicht das Schicksal der preußischen Progressisten, mit denen die Kadetten so viel gemeinsam haben? Wie jedoch bekannt sein dürfte, ist das kein heiteres Schicksal. Die deutsche Sozialdemokratie entwickelte sich im Kampf mit den deutschen Kadetten, und von diesen sind jetzt nur noch Hörner und Knochen übrig. Befinden sich die russischen Kadetten in einer günstigeren Lage? Wir glauben nein. Vor acht Jahren ließ Herr Struve sich folgendermaßen über das Schicksal des russischen Liberalismus aus:
„Je weiter nach dem Osten Europas, um so schwächer, feiger und niederträchtiger ist die Bourgeoisie und um so größere kulturelle und politische Aufgaben fallen dem Proletariat zu.“
Nachdem er Redakteur der Oswoboschdenije geworden war, sagte er dem rassischen Liberalismus das „preußische Schicksal“ voraus, wenn er sich allein im Kampf, nicht jedoch in der „Zusammenarbeit mit der russischen Sozialdemokratie zu entwickeln hoffe. Und jetzt zeigt es sich, dass die russische Sozialdemokratie überhaupt nicht existiert: Und der Towarischtsch führt in schweigsamer Ehrerbietung diese Expertise des liberalen Menschikow an.
Nein, die russische Sozialdemokratie existiert – trotz der um Glaubwürdigkeit bittenden Aussagen einiger Fahnenflüchtiger. Und wenn die wissenschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung und die politische Erfahrung Europas irgendeine Bedeutung besitzen, dann braucht unsere Partei den morgigen Tag nicht zu fürchten. Ist es jedoch richtig, dass wir jetzt eine Partei der Intelligenz sind? Es ist schon seltsam, dass diese Frage überhaupt gestellt wird. Dass die russische Sozialdemokratie nicht nur ihrem Programm, sondern auch ihrem Bestand nach eine proletarische Partei ist, lässt sich ebenso schwer beweisen wie jede andere Binsenwahrheit. Das bekräftigen alle Tatsachen, die in irgendeiner Beziehung zum Leben der Partei und des Proletariats stehen. Man fertige eine Statistik der politischen Häftlinge an, und man wird sehen, wie viel Prozent von ihnen sozialdemokratische Arbeiter sind. Man erinnere sich des Prozesses des Rats der Arbeiterdeputierten, der Aussagen der Zeugen aus den Reihen der Arbeiter über die politischen Ansichten des Petersburger Proletariats. Man erinnere sich der gewählten Arbeiterdelegationen in den Kommissionen von Schidlowski, Kokowzow und Filosow, man erinnere sich des Rates der Arbeitslosen – all diese Tatsachen sind bei weitem deutlicher als eine reine Aufstellung der Mitglieder der Partei und werden eine Vorstellung über Rolle und Bedeutung der Sozialdemokratie unter den Arbeitern vermitteln. Wenn das Geschwätz von dem „intellektuellen“ Charakter der Partei durch irgend etwas glaubwürdig erscheint, dann dadurch, dass der gewaltige und unerschütterliche politische Einfluss der Partei im Proletariat im organisatorischen Aufbau der Partei noch nicht den entsprechenden Ausdruck gefunden hat: Die Intelligenz besitzt zu großen Einfluss in den Parteikomitees, auf den Kongressen, in der Presse etc. In welchem Maß das gerechtfertigt ist und inwieweit die Partei selbst und nicht äußere Bedingungen die Schuld daran tragen, dazu soll hier nichts gesagt werden. Wir betonen hier nur, dass die Frage des übertrieben „intellektuellen“ Charakters der Partei in unserer eigenen Parteiliteratur entstanden ist – als Reflex der Disproportionalität zwischen organisatorischem Mechanismus der Partei und dem gewaltigen Umfang des Gebiets, auf das sich ihr unmittelbarer Einfluss erstreckt. Das ist ein Problem der inneren Strukturen der Partei, nicht jedoch ein Problem ihrer sozialen und politischen Konturen – und deshalb haben bürgerliche Publizisten hier nichts verloren.
In diesem Zusammenhang ist jedoch besonders interessant, dass diese Herren Schwätzer Kadetten sind: Sie richteten in ihrer Partei ein Sekretariat für die Arbeiterfrage ein, das keine engere Verbindung zum Proletariat besitzt als die entsprechende Kommission des Stolypinschen Ministeriums.
E. Retsch vom 10. November, kursiv von mir.
Zuletzt aktualiziert am 14. November 2024