Rosa Luxemburg


Das Offiziösentum der Theorie

 

I

Genau wie vor drei Jahren, als die Entfaltung der preußischen Wahlrechtsbewegung [1] die Losung des Massenstreiks in den Mittelpunkt der Erörterungen gerückt hatte, so auch jetzt beeilte sich Kautsky, in die durch den Ausfall der preußischen Landtagswahlen [2] und durch den Verlauf der Kampagne gegen die Militärvorlage [3] angeregte lebhafte Diskussion über den Massenstreik „dämpfend“ dazwischenzutreten. [4] Kautsky fühlt sich wieder berufen, die Partei vor schweren Gefahren zu retten. Er warnt vor „Abenteuern“, „Handstreichen“ und „Quertreibereien“, er wittert Syndikalismus, Putschismus, Blanquismus, „revolutionäre Gymnastik“, Moste und Hasselmänner [5], er denunziert „unsere Russen“, die jeglicher Organisation feind seien und die eifrig daran arbeiteten, den Massen den Kampf um parlamentarische Rechte zu verekeln. Schade nur, daß von diesem blühenden Phantasiebild dasselbe gilt, was von der Rolandschen Stute:

Wunderschön war diese Stute,
Leider aber war sie tot.

Sämtliche Gefahren, gegen die Kautsky zu Felde zieht, sind nichts als Windmühlen seiner eigenen Einbildungskraft.

Würde man Kautsky bitten, doch gefälligst Namen und Tatsachen zu nennen, nähere Angaben zu machen, von wem, wo und was für „Abenteuer“ und „Handstreiche“ in der Partei geplant werden, dann würde er wohl in nicht geringe Verlegenheit geraten. Wenn es genügt, die Notwendigkeit einer entschlossenen offensiven Politik, einer taktischen Initiative, einer energischen Wiederaufnahme des preußischen Wahlrechtskampf es zu betonen und im Zusammenhang damit das Problem des Massenstreiks zu erörtern, wenn dies genügt, um als Handstreichler, Abenteurer, Syndikalist und „Russe“ zu gelten, dann ist diese Kategorie von Bösewichtern allerdings erschreckend zahlreich in der Partei vertreten. Dann bestehen die Organisationen in Stuttgart, Essen, Solingen, im ganzen niederrheinischen Bezirk, in Berlin, im Herzogtum Gotha, in Sachsen, die Redaktionen der „Gleichheit“, der Braunschweiger, Elberfelder, Erfurter, Nordhäuser, Bochumer, Dortmunder Parteiblätter und vieler anderer aus lauter Abenteurern und Syndikalisten, dann wimmelt es in der deutschen Sozialdemokratie von „Russen“.

Aber Kautsky führt freilich mit Ingrimm sein Gefecht gegen eine ganz besondere Sorte von „Massenaktionären“. Diese Leute sündigen – nach seiner Darstellung – dadurch, daß sie leibhaftig „die russischen Methoden“ des Massenstreiks nach Deutschland verpflanzen wollen.

Glaubt man Kautsky, dann denken diese Leute Tag und Nacht an nichts anderes als an den Massenstreik, erblicken in ihm ein Allheilmittel und brennen vor Ungeduld, ihn in Deutschland zu entfesseln.

Kautsky berichtet von den „Massenaktionären“ erstens, daß sie „frischweg erklären, wie immer die ökonomischen und politischen Bedingungen sein mögen, die Massen seien stets bereit, auf die Straße zu gehen, stets bereit, zu streiken“, und wo das ausnahmsweise nicht der Fall, „sei die Schuld bei einzelnen Personen“ zu suchen. [6]

Zweitens erzählt uns Kautsky von denselben „Massenaktionären“, daß sie „die spontane Erregung“ der deutschen Massen „möglichst bald verlangen und, da sie nicht kommen will, fordern sie kategorisch von der Partei, sie soll diese Spontaneität durch eine ‚kühne Initiative‘ künstlich schaffen, und zwar sofort“. [7]

Drittens sehen diese Leute „in jeder starken Organisation ein hemmendes Moment der Aktion“, also sei die Konsequenz: „Zum Teufel mit der Organisation, wenn sie uns nur hemmt.“ [8]

Da Kautsky die angebliche „Richtung“, die er bekämpft, hauptsächlich mit Äußerungen aus meinen Artikeln zu belegen sucht, so wird es das einfachste sein, die Behauptungen Kautskys mit meinen authentischen Äußerungen zu konfrontieren. In drei Artikeln der Leipziger Volkszeitung über Das belgische Experiment [9] gab ich mir alle Mühe, nachzuweisen, daß sich Massenstreiks nicht künstlich von oben herab auf Kommando machen ließen, daß ein Massenstreik sich nur dann als wirksam erweisen könne, wenn eine entsprechende Situation, das heißt ökonomische und politische Bedingungen gegeben sind, wenn er elementar aus der Steigerung der revolutionären Energie der Massen wie ein Sturm hervorbricht:

Hier heißt es: entweder – oder. Entweder führt man einen politischen Sturm der Massen herbei, richtiger – da ein solcher sich nicht künstlich herbeiführen läßt – entweder läßt man die erregten Massen im Sturm ausziehen, dann muß alles getan werden, was diesen Sturm unwiderstehlicher, gewaltiger, konzentrierter macht ... oder man will keinen Massensturm – dann ist ein Massenstreik aber im voraus ein verlorenes Spiel. [10]

Und weiter ausdrücklich:

Der politische Massenstreik ist eben nicht an sich, abstrakt genommen, ein wundertätiges Mittel. Er ist wirksam nur im Zusammenhang mit einer revolutionären Situation, als Äußerung einer hohen, konzentrierten revolutionären Energie der Massen und einer hohen Zuspitzung der Gegensätze. Losgeschält von dieser Energie, getrennt von dieser Situation, verwandelt in ein von langer Hand beschlossenes, pedantisch nach dem Taktstock ausgeführtes strategisches Manöver, muß der Massenstreik in neun Fällen gegen zehn versagen. [11] (Leipziger Volkszeitung vom 19. Mai.)

In einem anderen Zusammenhang, bei der Erörterung des Massenstreiks als Kampfmittel um das preußische Wahlrecht, sage ich:

Der Massenstreik ist an sich genauso wenig ein wundertätiges Mittel, um die Sozialdemokratie aus einer politischen Sackgasse zu retten oder eine haltlose Politik zum Siege zu führen, wie der Wahlkampf und jede andre Kampfform. Er ist eben an sich auch nur eine Kampfform. Es ist aber nicht die technische Form, die den Ausgang des Kampfes, den Sieg oder die Niederlage entscheidet, sondern der politische Inhalt, die angewandte Taktik im ganzen. [12]

Und weiter:

Wir leben in einer Phase, wo die wichtigsten politischen Fragen nur noch durch das eigene Eingreifen breiter Massen beeinflußt werden können ... Aber umgekehrt garantiert die Anwendung des Massenstreiks durchaus noch nicht den Elan und die Wirksamkeit der sozialdemokratischen Aktion im ganzen ... Nicht der Massenstreik in irgendeinem beistimmten Fall an sich ist das Entscheidende, sondern die politische Offensive in der Gesamthaltung der Partei. [13]

Und endlich besonders in bezug auf den preußischen Wahlrechtskampf:

Jedennoch wäre es ein verhängnisvoller Irrtum, sich einzubilden, die preußische Wahlrechtsfrage könnte durch irgendeinen etwa vom Parteitag oder in dessen Auftrag beschlossenen Massenstreik wie der Gordische Knoten durch einen Schwerthieb durchhauen werden ..., nicht die „Vorbereitung“ zu irgend„einem“ Massenstreik liegt uns gegenwärtig ob, sondern die Vorbereitung unsrer Organisation zur Tauglichkeit für große politische Kämpfe, nicht die „Erziehung der Arbeiterklasse zum Massenstreik“, sondern die Erziehung der Sozialdemokratie zur politischen Offensive. [14]

So sieht die fanatische, putschistische, syndikalistische Propaganda des Massenstreiks aus, so die „kategorische Forderung“, die Partei soll einen spontanen Massenstreik „künstlich schaffen, und zwar sofort“.

Ebenso bringt es Kautsky fertig, meine Äußerungen über das Verhältnis von Organisierten und Unorganisierten bei großen Massenaktionen ungeniert auf den Kopf zu stellen. Was ich in der Leipziger Volkszeitung nachzuweisen suchte, war genau derselbe Gedanke, den ich bereits vor sieben Jahren in meiner Broschüre über den Massenstreik [15] – damals unter Kautskys lebhaftem Beifall – ausgeführt hatte: daß die Sozialdemokratie mit großen politischen Massenaktionen weder darauf zu warten brauche noch auch könne, bis die gesamte Arbeiterklasse gewerkschaftlich und politisch organisiert wird, vielmehr daß auch die unorganisierten oder gegnerisch organisierten Massen uns Heerbann leisten werden, wenn die Partei es versteht, sich in entsprechender Situation an die Spitze einer Massenaktion zu stellen.

Die Sozialdemokratie – schrieb ich – hat allerdings dank der theoretischen Einsicht in die sozialen Bedingungen ihres Kampfes in einem nie gekannten Maße Bewußtsein in den proletarischen Klassenkampf hineingetragen, ihm Zielklarheit und Tragkraft verliehen. Sie hat zum erstenmal eine dauernde Massenorganisation der Arbeiter geschaffen und dadurch dem Klassenkampf ein festes Rückgrat gegeben. Es wäre aber ein verhängnisvoller Irrtum, sich nun einzubilden, daß seitdem auch alle geschichtliche Aktionsfähigkeit des Volkes auf die sozialdemokratische Organisation allein übergegangen, daß die unorganisierte Masse des Proletariats zum formlosen Brei, zum toten Ballast der Geschichte geworden ist. Ganz umgekehrt. Der lebendige Stoff der Weltgeschichte bleibt trotz einer Sozialdemokratie immer noch die Volksmasse, und nur wenn ein lebhafter Blutkreislauf zwischen dem Organisationskern und der Volksmasse besteht, wenn derselbe Pulsschlag beide belebt, dann kann auch die Sozialdemokratie zu großen historischen Aktionen sich tauglich erweisen. [16] (Leipziger Volkszeitung vom 27. Juni.)

Weil ich also die sozialdemokratische Organisation für das Rückgrat des Klassenkampfes erkläre, für das denkende Hirn der Masse, aus dem Bewußtsein und Zielklarheit der Bewegung ließen, so schließt Kautsky, ich erkläre jegliche Organisation für überflüssig, ja hemmend. Weil ich sage, zu jeder großen Klassenaktion gehören nicht nur Organisierte als Vorhut, sondern auch Unorganisierte als Nachhut, deduziert Kautsky, ich wolle nur mit Unorganisierten Aktionen machen. Weil ich wörtlich sage: „In Belgien lassen die gewerkschaftlichen wie die politischen Organisationen so ziemlich alles zu wünschen übrig, auf jeden Fall können sie sich mit den deutschen nicht entfernt messen. Und doch (also trotzdem!) kommt seit 20 Jahren ein imposanter Wahlrechtsstreik nach dem andern zustande“ [17], bringt Kautsky es fertig, mir wörtlich die umgekehrte Behauptung zuzuschreiben, daß in Belgien „die Massenaktionen gerade dadurch aufs kräftigste gedeihen, weil seine Organisationen so ziemlich alles zu wünschen übrig ließen“. [18]

Man sieht, das Original meiner Auffassung gleicht in allen Stücken dem Kautskyschen Konterfei ungefähr so wie die marxistische Theorie und Taktik den üblichen revisionistischen Darstellungen. Wie sich unsere Revisionisten erst einen Popanz der „Verelendungstheorie“, der „reinen Negation“, der Verachtung der „praktischen Arbeit“ zurechtmachen, und an ihm mit Genuß den scharfen Stahl ihrer Kritik zu erproben, ebenso macht sich Kautsky entgegen den klarsten Worten und der ganzen Tendenz meiner Ausführungen aus freien Stücken ein Zerrbild zurecht, um an ihm seine Dämpfungskunst zu üben und das Vaterland zu retten.

Aber auch in diesem Falle hat der Kampf gegen eingebildete Gefahren die objektive Tendenz, dem aus der Situation geborenen Drang zur wirklichen Fortentwicklung der Parteitaktik in den Weg zu treten. Nichts beweist dies besser als die eigene Theorie Kautskys vom Massenstreik.

Anmerkungen

1. Im Frühjahr 1910 hatte sich in ganz Deutschland eine Massenbewegung für die Erringung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts zum preußischen Landtag entwickelt. Rosa Luxemburg verteidigte die Anwendung des politischen Massenstreiks als objektiv notwendiges Kampfmittel gegenüber der Absicht der rechten Parteiführer, die Wahlrechtsbewegung in den alten Bahnen des Parlamentarismus zu belassen, um angeblich die Reichstagswahlen 1912 nicht zu gefährden.

2. Die SPD bekam wegen dem reaktionären Dreiklassenwahlrecht bei den preußischen Landtagswahlen vom 3. Juni 1913 mit 775.171 Stimmen (28,38 %) nur 10 Sitze, die Deutschkonservative Partei z. B. dagegen mit nur 402.988 Stimmen (14,75 %) 147 Sitze.

3. Die Militärvorlage vom März 1913 brachte die größten Rüstungssteigerungen der deutschen Geschichte. Da ein Teil der Kosten durch Vermögenssteuern aufgebracht werden sollte, wollten Teile der SPD diesen Steuererhöhungen trotz ihres Zwecks zustimmen. Durch Anwendung der Fraktionsdisziplin unterdrückten diese Revisionisten den Widerstand von 37 Abgeordneten und die Fraktion stimmte für das neue Gesetz. Dadurch wurde das sozialdemokratische Grundsatz – „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“ – aufgegeben.

4. Siehe Karl Kautsky, Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen, in Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, 2. Bd., S. 532–540, 558–568.

5. Die sozialdemokratischen Politiker Johann Most und Wilhelm Hasselmann waren Jahrzehnte vorher zum Anarchismus abgeglitten

6. Karl Kautsky, Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen, in Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, 2. Bd., S. 536.

7. ebenda, S. 560.

8. ebenda, S. 538.

9. Leipziger Volkszeitung vom 15., 16. und 19. Mai 1913, nachgedruckt in Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 195–207.

10. ebenda, S. 204. – Hervorhebung nur hier.

11. ebenda, S. 206. – Hervorhebung nur hier.

12. Taktische Fragen, Leipziger Volkszeitung vom 26–28. Juni 1913, nachgedruckt ebenda, S. 246–258, hier S. 248

13. ebenda, S. 248–249. – Hervorhebung nur hier.

14. ebenda, S. 254, 256

15. Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906), in Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 91–170

16. Taktische Fragen, a.a.O., S. 252. – Hervorhebung nur hier.

17. ebenda, S. 254. – Hervorhebung nur hier.

18. Siehe Karl Kautsky, Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen, in Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, 2. Bd., S. 538.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012