W.I. Lenin

 

Briefe aus der Ferne

 

Brief 1
Die erste Etappe der ersten Revolution


Geschrieben am 7. (20.) März 1917.
Mit Kürzungen veröffentlicht am 21. und 22. März 1917 in der Prawda Nr. 14 und 15.
Nach einer maschine-geschriebenen Abschrift, verglichen mit dem Text der Prawda.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die erste vom imperialistischen Weltkrieg erzeugte Revolution ist ausgebrochen. Diese erste Revolution wird sicher nicht die letzte sein.

Die erste Etappe dieser ersten Revolution, nämlich der russischen Revolution vom 1. März 1917, ist, nach den in der Schweiz vorliegenden kargen Nachrichten zu urteilen, abgeschlossen. Diese erste Etappe ist sicher nicht die letzte Etappe unserer Revolution.

Wie konnte solch ein „Wunder“ geschehen, daß in einer Zeitspanne von nur acht Tagen – das ist die in dem prahlerischen Telegramm des Herrn Miljukow an alle Vertreter Rußlands im Ausland genannte Zeit – eine Monarchie zusammenbrach, die sich Jahrhunderte gehalten und sich in den Jahren 1905-1907, drei Jahren gewaltiger Klassenschlachten des gesamten Volkes, trotz alledem behauptet hatte?

Wunder gibt es weder in der Natur noch in der Geschichte, aber jede schroffe Wendung der Geschichte, darunter auch jede Revolution, offenbart einen solchen Reichtum an Inhalt, entfaltet so unerwartet eigenartige Kombinationen der Kampfformen und der Kräfteverhältnisse der Kämpfenden, daß dem spießbürgerlichen Verstand vieles als Wunder erscheinen muß.

Damit es möglich wurde, daß die Zarenmonarchie im Laufe von wenigen Tagen zusammenbrach, mußte eine ganze Reihe Umstände von weltgeschichtlicher Bedeutung zusammentreffen. Führen wir die wichtigsten von ihnen an.

Ohne die drei Jahre von 1905 bis 1907, drei Jahre gewaltigster Klassenschlachten und größter revolutionärer Energie des russischen Proletariats, wäre eine so rasche zweite Revolution, rasch in dem Sinne, daß sie ihre Anfangsetappe in wenigen Tagen durchlaufen hat, unmöglich gewesen. Die erste Revolution (1905) hat den Boden tief aufgewühlt, hat jahrhundertealte Vorurteile ausgerottet und Millionen Arbeiter und Dutzende Millionen von Bauern zum politischen Leben und zum politischen Kampf erweckt, sie hat alle Klassen (und alle wichtigen Parteien) der russischen Gesellschaft voreinander und vor der ganzen Welt in ihrer wahren Natur gezeigt, in dem wirklichen Wechselverhältnis ihrer Interessen, ihrer Kräfte, ihrer Aktionsmethoden, ihrer nächsten und weiteren Ziele.

Die erste Revolution und die darauffolgende Epoche der Konterrevolution (1907 bis 1914) hat das ganze Wesen der Zarenmonarchie bloßgelegt, hat sie an die „äußerste Grenze“ geführt, hat ihre ganze Fäulnis und Niedertracht enthüllt, den ganzen Zynismus und die ganze Verderbtheit der Zarenclique mit dem Ungeheuer Rasputin an der Spitze, alle Bestialitäten der Familie Romanow, dieser Pogrombanditen, die Rußlands Boden mit dem Blut der Juden, Arbeiter und Revolutionäre tränkten, die sich als Gutsbesitzer die „Ersten unter Gleichen“ nennen, die Millionen Desjatinen Land besitzen und zu jeder Bestialität, zu jedem Verbrechen fähig sind, die bereit sind, jede beliebige Anzahl Menschen zugrunde zu richten und umzubringen, um ihr „heiliges Eigentum“ und das ihrer Klasse zu erhalten.

Ohne die Revolution von 1905-1907, ohne die Konterrevolution von 1907-1914 wäre eine so genaue „Selbstbestimmung“ aller Klassen des russischen Volkes und der Rußland bewohnenden Völker, wäre eine Bestimmung der Beziehungen dieser Klassen zueinander und zur Zarenmonarchie, wie sie in den acht Tagen der Februar-März-Revolution 1917 erfolgt ist, unmöglich gewesen. Diese achttägige Revolution ging – wenn das Bild erlaubt ist – so „über die Bühne“, als hätten vorher ein Dutzend Proben und Generalproben stattgefunden; die „Akteure“ kannten einander, ihre Rollen, ihre Plätze, die Szenerie aufs genaueste, bis in die kleinsten Einzelheiten, kannten alle einigermaßen bedeutenden Schattierungen der politischen Richtungen und Aktionsmethoden.

Damit aber die erste, die große Revolution von 1905, die von den Herren Gutschkow und Miljukow und ihren Lakaien als „große Rebellion“ verurteilt wurde, zwölf Jahre später zu der „glänzenden“, „glorreichen“ Revolution von 1917 führen konnte, die die Gutschkow und Miljukow „glorreich“ nennen, weil sie ihnen (bis auf weiteres) die Macht gegeben hat – so war dazu ein großer, mächtiger und allgewaltiger „Regisseur“ notwendig, der imstande war, einerseits den Gang der Weltgeschichte ungeheuer zu beschleunigen und anderseits weltumfassende Krisen, wirtschaftliche, politische, nationale und internationale Krisen von ungeahnter Intensität hervorzurufen. Außer der ungewöhnlichen Beschleunigung des Ganges der Weltgeschichte waren besonders schroffe Wendungen in ihrem Verlauf notwendig, damit bei einer dieser Wendungen der Karren der blut- und schmutzbesudelten Romanowschen Monarchie so schlagartig umstürzen konnte.

Dieser allgewaltige „Regisseur“, dieser mächtige Beschleuniger war der imperialistische Weltkrieg.

Es steht jetzt schon außer Zweifel, daß es ein Weltkrieg ist, denn die Vereinigten Staaten und China sind heute schon halb in ihn hineingezogen und werden morgen ganz in ihn hineingezogen werden.

Es steht jetzt schon außer Zweifel, daß es von beiden Seiten ein imperialistischer Krieg ist. Nur die Kapitalisten und ihre Lakaien, die Sozialpatrioten und Sozialchauvinisten – oder, um nicht allgemeine kritische Begriffe, sondern in Rußland bekannte politische Namen zu verwenden, nur die Gutschkow und Lwow, Miljukow und Schingarjow einerseits, nur die Gwosdew, Potressow, Tschchenkeli, Kerenski und Tschcheïdse anderseits – können diese Tatsache leugnen oder vertuschen. Der Krieg wird sowohl von der deutschen als auch von der englisch-französischen Bourgeoisie geführt, um fremde Länder auszurauben, um die kleinen Völker zu versklaven, um die Finanzherrschaft über die Welt zu errichten, um die Kolonien zu teilen und neu aufzuteilen, um durch Betrug und Entzweiung der Arbeiter in den verschiedenen Ländern die untergehende kapitalistische Ordnung zu

Der imperialistische Krieg mußte mit objektiver Zwangsläufigkeit den Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie außerordentlich beschleunigen und unerhört zuspitzen, er mußte sich in den Bürgerkrieg zwischen den feindlichen Klassen verwandeln.

Diese Verwandlung hat begonnen mit der Februar-März-Revolution 1917, deren erste Etappe uns erstens den gemeinsamen Schlag vor Augen führte, den zwei Kräfte dem Zarismus versetzten: einerseits das gesamte bürgerliche und gutsherrliche Rußland mit allen seinen unbewußten Nachläufern und allen seinen bewußten Drahtziehern in Gestalt der englisch-französischen Botschafter und Kapitalisten und anderseits der Sowjet der Arbeiterdeputierten, der begonnen hat, die Soldaten- und Bauerndeputierten an sich heranzuziehen.

Diese drei politischen Lager, drei politischen Hauptkräfte:

1. die Zarenmonarchie, das Haupt der fronherrlichen Gutsbesitzer, das Haupt der alten Beamtenschaft und der Generalität; 2. das bürgerliche und gutsherrlich-oktobristisch-kadettische Rußland, hinter dem die Kleinbourgeoisie einhertrottete (ihre Hauptvertreter sind Kerenski und Tschcheïdse); 3. der Sowjet der Arbeiterdeputierten, der sich im gesamten Proletariat und in der gesamten Masse der ärmsten Bevölkerung Verbündete sucht – diese drei politischen Hauptkräfte traten sogar in den acht Tagen der „ersten Etappe“ mit aller Deutlichkeit zutage, erkennbar selbst für einen vorn Schauplatz der Ereignisse so weit entfernten Beobachter, der sich mit den kärglichen Telegrammen der ausländischen Zeitungen begnügen muß, wie der Schreiber dieser Zeilen.

Doch bevor ich hierauf ausführlicher eingehe, muß ich zu jenem Teil meines Briefes zurückkehren, der einem Faktor von höchster Wichtigkeit – dem imperialistischen Weltkrieg – gewidmet ist.

Der Krieg hat die kriegführenden Mächte, die kriegführenden Gruppen der Kapitalisten, die „Herren“ der kapitalistischen Ordnung, die Sklavenhalter der kapitalistischen Sklaverei, mit eisernen Ketten aneinandergefesselt. Ein einziger blutiger Knäuel – das ist das gesellschaftliche und politische Leben im gegenwärtigen geschichtlichen Zeitpunkt.

Die Sozialisten, die bei Kriegsbeginn auf die Seite der Bourgeoisie übergelaufen sind, alle diese David und Scheidemann in Deutschland, die Plechanow-Potressow-Gwosdew und Co. in Rußland, haben lange und aus vollem Halse gegen die „Illusionen“ der Revolutionäre gezetert, gegen die „Illusionen“ des Basler Manifests [1], gegen die „Traumkomödie“ der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg. Sie haben in allen Tonarten die angeblich vom Kapitalismus an den Tag gelegte Macht, Lebenskraft und Anpassungsfähigkeit besungen – sie, die den Kapitalisten geholfen haben, die Arbeiterklasse der verschiedenen Länder „anzupassen“, zu zähmen, hinters Licht zu führen und zu entzweien!

Doch „wer zuletzt lacht, lacht am besten“. Nicht lange hat die Bourgeoisie die durch den Krieg erzeugte revolutionäre Krise hinauszuschieben vermocht. Sie wachst mit unwiderstehlicher Gewalt in allen Ländern, bei Deutschland angefangen, wo nach dem. Ausdruck eines Beobachters, der kürzlich dort war, ein „genial organisierter Hunger“ herrscht, bis einschließlich England und Frankreich, wo ebenfalls der Hunger herannaht,. wo aber die Organisation weit weniger „genial“ ist.

Es ist natürlich, daß im zaristischen Rußland, wo die Desorganisation am ungeheuerlichsten war und wo das Proletariat am revolutionärsten ist (nicht dank seinen besonderen Eigenschaften, sondern dank den lebendigen Traditionen des „Jahres 1905“), die revolutionäre Krise zuerst ausgebrochen ist. Diese Krise wurde durch eine Reihe schwerster Niederlagen beschleunigt, die Rußland und seinen Verbündeten beigebracht wurden. Die Niederlagen haben die ganze alte Regierungsmaschine und die ganze alte Ordnung erschüttert, sie haben alle Klassen der Bevölkerung gegen diese Ordnung aufgebracht und die Armee erbittert, sie haben das alte, aus verknöcherten Adligen bestehende und von besonders muffigem Beamtengeist durchdrungene Offizierskorps weitgehend aufgerieben und durch junge, frische Kräfte ersetzt, die vorwiegend aus der Bourgeoisie, der Intelligenz und dem Kleinbürgertum stammen. Jene vor der Bourgeoisie offen katzbuckelnden oder einfach charakterlosen Leute, die gegen den „Defätismus“ schrien und tobten, stehen jetzt vor der Tatsache, daß die Niederlage der rückständigsten und barbarischsten Monarchie, des Zarismus, mit dem Beginn der revolutionären Feuersbrunst historisch verbunden ist.

Während jedoch die Niederlagen zu Beginn des Krieges die Rolle eines negativen Faktors spielten, der die Explosion beschleunigte, so war das Bündnis des englisch-französischen Finanzkapitals, des englisch-französischen Imperialismus mit dem oktobristisch-kadettischen Kapital Rußlands ein Faktor, der diese Krise durch direkte Organisierung einer Verschwörung gegen Nikolaus Romanow beschleunigte.

Diese außerordentlich wichtige Seite der Sache wird von der englischen und französischen Presse aus verständlichen Gründen verschwiegen, während sie von der deutschen schadenfroh unterstrichen wird. Wir Marxisten müssen der Wahrheit nüchtern ins Auge sehen, wir dürfen uns weder durch die Lugen, die offiziellen, honigsüßen diplomatischen Lugen der Diplomaten und Minister der einen kriegführenden Imperialistengruppe, noch durch das Zwinkern und Kichern ihrer finanziellen und militärischen Konkurrenten von der anderen kriegführenden Gruppe beirren lassen. Der ganze Ablauf der Ereignisse während der Februar-März-Revolution zeigt deutlich,. daß die englische und die französische Botschaft mit ihren Agenten und „Verbindungen“, die seit langem die verzweifeltsten Anstrengungen machten, „separate“ Übereinkünfte und einen Separatfrieden zwischen Nikolaus dem Zweiten (und dem Letzten, wie wir hoffen und erstreben) und Wilhelm dem Zweiten zu verhindern, zusammen mit den Oktobristen und Kadetten [2], zusammen mit einem Teil der Generalität und des Offizierskorps der Armee sowie der Petersburger Garnison eine direkte Verschwörung organisierten, und zwar besonders mit dem Ziel der Absetzung Nikolaus Romanows.

Machen wir uns keine Illusionen. Begehen wir nicht den Fehler jener, die – wie einige zwischen der Gwosdew-Potressow-Richtung und dem Internationalismus hin und her schwankende und allzuoft in kleinbürgerlichen Pazifismus verfallende OK-Leute [3] oder Menschewiki – jetzt bereit sind, eine „Übereinkunft“ der Arbeiterpartei mit den Kadetten, eine „Unterstützung“ der letzteren durch die erstere zu preisen usw. Diese Leute werfen ihrer alten auswendig gelernten (und keineswegs marxistischen) Doktrin zuliebe einen Schleier über die Verschwörung der englisch-französischen Imperialisten mit den Gutschkow und Miljukow, die das Ziel hatte, den „Oberkrieger“ Nikolaus Romanow abzusetzen und ihn durch energischere, frischere und fähigere Krieger zu ersetzen.

Wenn die Revolution so rasch und – dem Anschein nach, bei erster, oberflächlicher Betrachtung – so radikal gesiegt hat, dann nur deshalb, weil sich dank einer außerordentlich originellen historischen Situation völlig verschiedene Ströme, völlig ungleichartige Klasseninteressen, völlig entgegengesetzte politische und soziale Bestrebungen vereinigten, und zwar bemerkenswert „einmütig“ vereinigten: Einerseits nämlich die Verschwörung der englisch-französischen Imperialisten, die die Miljukow, Gutschkow und Co. dazu drängten, die Macht zu ergreifen, damit der imperialistische Krieg fortgesetzt werden kann, damit er noch erbitterter und hartnäckiger weitergeführt wird, damit neue Millionen russischer Arbeiter und Bauern hingeschlachtet werden, und das ... damit die Gutschkow Konstantinopel, die französischen Kapitalisten Syrien, die englischen Kapitalisten Mesopotamien usw. erhalten. Und anderseits eine tiefgehende Bewegung revolutionären Charakters, eine Bewegung des Proletariats und der Volksmassen (der gesamten armen Bevölkerung in Stadt und Land) für Brot, für Frieden, für wahre Freiheit.

Es wäre einfach dumm, davon zu sprechen, daß das revolutionäre Proletariat Rußlands den kadettisch-oktobristischen, durch englische Gelder „geschmierten“ Imperialismus, der ebenso abscheulich ist wie der zaristische, „unterstützt“. Die revolutionären Arbeiter machten sich daran, die schändliche Zarenmonarchie zu zerstören, sie haben sie schon in beträchtlichem Maße zerstört und werden sie bis auf den Grund zerstören, ohne in Begeisterung oder Verwirrung darüber zu geraten, daß in gewissen kurzen, ihrer Konstellation nach einzigartigen geschichtlichen Zeitpunkten ihnen der Kampf zu Hilfe kommt, den die Buchanan, Gutschkow, Miljukow und Co. für die Ersetzung des einen Monarchen durch einen anderen Monarchen – und möglichst auch einen Romanow! – führen.

So und nur so lagen die Dinge. So und nur so kann ein Politiker die Dinge betrachten, der die Wahrheit nicht fürchtet, der das Wechselverhältnis der gesellschaftlichen Kräfte in der Revolution nüchtern abwägt, der „gegenwärtige Situationen“ nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihrer ganzen heutigen, momentanen Eigenart einschätzt, sondern auch unter dem Gesichtspunkt ihrer tiefer liegenden Triebfedern, der tiefer liegenden Wechselverhältnisse zwischen den Interessen des Proletariats und der Bourgeoisie sowohl in Rußland als auch in der ganzen Welt.

Die Petrograder Arbeiter und die Arbeiter ganz Rußlands haben aufopferungsvoll gegen die Zarenmonarchie, für die Freiheit, für die Übergabe des Bodens an die Bauern, für den Frieden, gegen das imperialistische Gemetzel gekämpft. Das englisch-französische imperialistische Kapital hat, um dieses Gemetzel fortsetzen und verstärken zu können, Palastintrigen gesponnen, hat eine Verschwörung der Gardeoffiziere angezettelt, hat die Gutschkow und Miljukow angestachelt und ermutigt und insgeheim eine fix und fertige neue Regierung zusammengestellt, die denn auch sofort nach den ersten Schlagen, die der Kampf des Proletariats dem Zarismus versetzte, die Macht an sich gerissen hat.

Diese neue Regierung, in der die Oktobristen und die „friedlichen Erneuerer“ [4], die gestrigen Helfershelfer des Henkers Stolypin, Lwow und Gutschkow, die wirklich wichtigen Posten, die ausschlaggebenden Posten, die entscheidenden Posten einnehmen und die Armee und die Beamtenschaft beherrschen, diese Regierung, in der Miljukow und andere Kadetten mehr zur Verzierung, als Aushängeschild, zum Halten erbaulicher Professorenreden sitzen und der „Trudowik“ [5] Kerenski die Rolle des Schönredners zur Betörung der Arbeiter und Bauern spielt – diese Regierung stellt keine zufällige Gruppe von Menschen dar.

Es sind die Vertreter der neuen Klasse, die in Rußland zur politischen Macht aufgestiegen ist, der Klasse der kapitalistischen Gutsbesitzer und der Bourgeoisie, die unser Land wirtschaftlich seit langem lenkt, die sich sowohl wahrend der Revolution von 1905-1907 als auch während der Konterrevolution von 1907 bis 1914 sowie schließlich – und zwar mit besonderer Schnelligkeit – während der Kriegsjahre 1914-1917 außerordentlich rasch politisch organisierte, die örtliche Selbstverwaltung, die Volksbildung, Kongresse verschiedenster Art, die Duma, die Kriegsindustriekomitees [6] usw. in ihre Hände nahm. Diese neue Klasse war Anfang 1917 schon „beinahe ganz“ an der Macht; deshalb genügten schon die ersten Schläge gegen den Zarismus, um seinen Zusammenbruch herbeizuführen und so den Platz für die Bourgeoisie frei zu machen. Der imperialistische Krieg, der eine ungeheure Kräfteanspannung erfordert, hat die Entwicklung des zurückgebliebenen Rußlands so beschleunigt, daß wir „mit einem Schlag“ (in Wirklichkeit nur scheinbar mit einem Schlag) Italien, England und beinahe Frankreich eingeholt und eine „Koalitions“regierung, eine „nationale“ Regierung (d.h. eine für die Fortführung des imperialistischen Gemetzels und den Volksbetrug geeignete) „parlamentarische“ Regierung erhalten haben.

Neben dieser Regierung – die im Grunde genommen vom Standpunkt des gegenwärtigen Krieges nichts anderes ist als ein Kommis der Milliarden„firmen“ „England und Frankreich“ – ist die Hauptregierung entstanden, eine inoffizielle, noch unentwickelte und verhältnismäßig schwache Arbeiterregierung, die die Interessen des Proletariats und des ganzen ärmeren Teils der Stadt- und Landbevölkerung zum Ausdruck bringt. Das ist der Sowjet der Arbeiterdeputierten in Petrograd, der Verbindung mit den Soldaten und Bauern und – natürlich besonders, in erster Linie und mehr als mit den Bauern – mit den Landarbeitern sucht.

Das ist die tatsächliche politische Lage, die wir vor allem mit der größtmöglichen objektiven Genauigkeit festzustellen bestrebt sein müssen, um die marxistische Taktik auf der einzig festen Grundtage, auf die sie stets gegründet sein muß, aufzubauen, auf der Grundlage der Tatsachen.

Die Zarenmonarchie ist geschlagen, aber noch nicht vernichtet.

Die oktobristisch-kadettische bürgerliche Regierung, die den imperialistischen Krieg „bis zu Ende“ führen will und faktisch der Kommis der Finanzfirma „England und Frankreich“ ist, sieht sich genötigt, dem Volk ein Höchstmaß an Freiheiten und Zugeständnissen zu versprechen, soweit sie sich damit vereinbaren lassen, daß diese Regierung ihre Macht über das Volk und die Möglichkeit behalt, das imperialistische Gemetzel fortzusetzen.

Der Sowjet der Arbeiterdeputierten, die Organisation der Arbeiter, ist die Keimzelle der Arbeiterregierung, der Vertreter der Interessen alter armen Schichten der Bevölkerung, d.h. von neun Zehnteln der Bevölkerung, der für Frieden, Brot und Freiheit kämpft.

Der Kampf dieser drei Kräfte bestimmt die Situation, die jetzt entstanden ist und die den Übergang von der ersten zur zweiten Etappe der Revolution darstellt.

Zwischen der ersten und der zweiten Kraft ist der Widerspruch nicht tief, er ist zeitweilig und ist nur durch die augenblickliche Konstellation, durch die schroffe Wendung der Geschehnisse im imperialistischen Krieg hervorgerufen. Die gesamte neue Regierung besteht aus Monarchisten, denn das in Worten zur Schau getragene Republikanertum Kerenskis ist einfach nicht ernst zu nehmen, ist eines Politikers unwürdig und objektiv nichts anderes als Politikastertum. Die neue Regierung hat die Zarenmonarchie noch nicht endgültig geschlagen, beginnt aber bereits, übereinkommen mit der Gutsbesitzerdynastie Romanow einzugehen. Die Bourgeoisie oktobristisch-kadettischen Typs braucht die Monarchie als Haupt der Bürokratie und der Armee zum Schutz der Privilegien des Kapitals gegen die Werktätigen.

Wer sagt, daß die Arbeiter die neue Regierung im Interesse des Kampfes gegen die zaristische Reaktion unterstützen sollen (und das sagen offenbar die Potressow, Gwosdew, Tschchenkeli, und trotz seiner ganzen ausweichenden Haltung auch Tschcheïdse), der ist ein Verräter der Arbeiter, ein Verräter an der Sache des Proletariats, an der Sache des Friedens und der Freiheit. Denn in Wirklichkeit ist gerade diese neue Regierung bereits an Händen und Füßen durch das imperialistische Kapital, durch die imperialistische Kriegs- und Raubpolitik gebunden, hat sie bereits begonnen, Übereinkommen mit der Dynastie zu schließen (ohne das Volk zu fragen!), arbeitet sie bereits an der Restaurierung der Zarenmonarchie, heißt sie bereits Michael Romanow, den neuen Zarenkandidaten, willkommen, bemüht sie sich bereits um die Festigung seines Thrones, um die Ablösung der legitimen (gesetzlichen, nach altem Gesetz bestehenden) Monarchie durch eine bonapartistische, sich auf ein Plebiszit (eine gefälschte Volksabstimmung) stützende Monarchie.

Nein, um wirklich gegen die Zarenmonarchie zu kämpfen, um die Freiheit wirklich zu sichern und nicht nur mit Reden oder mit Versprechungen, wie das die Schönredner Miljukow und Kerenski tun, müssen nicht die Arbeiter die neue Regierung unterstützen, sondern diese Regierung muß die Arbeiter „unterstützen“! Denn die einzige Garantie für die Freiheit, für die restlose Vernichtung des Zarismus ist die Bewaffnung des Proletariats, die Festigung, Erweiterung und Weiterentwicklung der Rolle, der Bedeutung und der Macht des Sowjets der Arbeiterdeputierten.

Alles übrige ist Phrase und Lüge, ist Selbstbetrug der Politikaster aus dem liberalen und radikalen Lager, ist gemeine Gaunerei.

Helft den Arbeitern, sich zu bewaffnen, oder hindert sie wenigstens nicht dabei – und die Freiheit in Rußland wird unbesiegbar, die Restauration der Monarchie unmöglich und die Republik gesichert sein.

Andernfalls werden die Gutschkow und Miljukow die Monarchie wieder aufrichten und nichts, aber auch gar nichts von den „Freiheiten“ verwirklichen, die sie versprochen haben. In allen bürgerlichen Revolutionen haben alle bürgerlichen Politikaster das Volk mit Versprechungen „gefüttert“ und die Arbeiter zum Narren gehalten.

Unsere Revolution ist eine bürgerliche Revolution, deshalb müssen die Arbeiter die Bourgeoisie unterstützen, sagen die Potressow, Gwosdew, Tschcheidse – dasselbe, was gestern Plechanow sagte.

Unsere Revolution ist eine bürgerliche Revolution, sagen wir Marxisten, deshalb müssen die Arbeiter dem Volk über den Betrug der bürgerlichen Politikaster die Augen öffnen und es lehren, Worten keinen Glauben zu schenken, sich nur auf die eigenen Kräfte, auf die eigene Organisation, auf den eigenen Zusammenschluß, auf die eigene Bewaffnung zu verlassen.

Die Regierung der Oktobristen und Kadetten, der Gutschkow und Miljukow, kann, selbst wenn sie das aufrichtig wollte (an die Aufrichtigkeit von Gutschkow und Lwow können nur Kinder glauben), dem Volk weder Frieden noch Brot, noch Freiheit geben.

Frieden kann sie nicht geben, weil sie eine Regierung des Krieges ist, eine Regierung der Fortsetzung des imperialistischen Gemetzels, eine Regierung des Raubes, die Armenien, Galizien und die Türkei ausplündern, Konstantinopel an sich reißen, Polen, Kurland, Litauen usw. wiedererobern will. Diese Regierung ist durch das englisch-französische imperialistische Kapital an Händen und Füßen gebunden. Das russische Kapital ist eine Filiale der internationalen „Firma“, die mit Hunderten Milliarden Rubel operiert und „England und Frankreich“ heißt.

Brot kann sie nicht geben, weil sie eine bürgerliche Regierung ist. Im besten Fall wird sie dem Volk, nach dem Vorbild Deutschlands, einen „genial organisierten Hunger“ bringen. Das Volk aber wird sich mit Hunger nicht abfinden wollen. Das Volk wird erfahren und sicher bald erfahren, daß Brot vorhanden ist und beschafft werden kann, aber nur durch Maßnahmen, die nicht haltmachen vor der Heiligkeit des Kapitals und des Grundbesitzes.

Freiheit kann sie nicht geben, weil sie eine Regierung der Gutsbesitzer und Kapitalisten ist, die Angst vor dem Volk hat und bereits begonnen hat, mit der Dynastie Romanow Übereinkommen zu treffen.

Über die taktischen Aufgaben unseres Verhaltens gegenüber dieser Regierung in der nächsten Zeit werden wir in einem anderen Artikel sprechen. Dort werden wir zeigen, worin die Eigenart des gegenwärtigen Zeitpunkts, des Übergangs von der ersten zur zweiten Etappe der Revolution, besteht, warum die Losung, die „Aufgabe des Tages“, in diesem Zeitpunkt sein muß: Arbeiter! Ihr habt im Bürgerkrieg gegen den Zarismus Wunder an proletarischem Heldentum, an Volksheldentum vollbracht. Ihr müßt Wunder an Organisation des Proletariats und des gesamten Volkes vollbringen, um euren Sieg in der zweiten Etappe der Revolution vorzubereiten.

Wir beschränken uns heute auf die Analyse des Klassenkampfes und des Kräfteverhältnisses der Klassen in der gegenwärtigen Etappe der Revolution und müssen in diesem Zusammenhang noch die Frage stellen: Welche Verbündeten hat das Proletariat in der gegenwärtigen Revolution?

Es hat zwei Verbündete: erstens die breite, die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung bildende und viele Dutzende Millionen zählende Masse der halbproletarischen und zum Teil kleinbäuerlichen Bevölkerung in Rußland. Diese Masse braucht Frieden, Brot, Freiheit und Land. Diese Masse wird sich unvermeidlich unter einem gewissen Einfluß der Bourgeoisie und besonders der Kleinbourgeoisie befinden, der sie ihren Lebensbedingungen nach am nächsten steht, und wird zwischen Bourgeoisie und Proletariat schwanken. Die harten Lehren des Krieges, die um so harter sein werden, je energischer die Gutschkow, Lwow, Miljukow und Co. den Krieg führen, werden diese Masse unweigerlich zum Proletariat drängen und sie zwingen, ihm zu folgen. Wir müssen jetzt bestrebt sein, die relative Freiheit der neuen Ordnung und die Sowjets der Arbeiterdeputierten auszunutzen, um vor allem und am meisten diese Masse aufzuklären und zu organisieren. Sowjets der Bauerndeputierten, Sowjets der Landarbeiter – das ist eine der wichtigsten Aufgaben. Hierbei werden unsere Bestrebungen nicht nur darauf gerichtet sein, daß die Landarbeiter ihre eigenen, besonderen Sowjets schaffen, sondern auch darauf, daß die besitzlosen und armen Bauern sich getrennt von den begüterten Bauern organisieren. Über die besonderen Aufgaben und besonderen Formen der jetzt dringend notwendigen Organisation im nächsten Brief.

Zweitens hat das russische Proletariat einen Verbündeten im Proletariat aller kriegführenden und überhaupt aller Länder. Zwar lastet jetzt auf ihm noch schwer der Druck des Krieges, und allzuhäufig sprechen in seinem Namen die Sozialchauvinisten, die in Europa, ebenso wie Plechanow, Gwosdew, Potressow in Rußland, zur Bourgeoisie übergelaufen sind. Aber die Befreiung des Proletariats vom Einfluß der Sozialchauvinisten hat mit jedem Monat dieses imperialistischen Krieges Fortschritte gemacht, und die russische Revolution wird diesen Prozeß unvermeidlich ganz gewaltig beschleunigen.

Mit diesen beiden Verbündeten kann und wird das Pro1etariat Rußlands unter Ausnutzung der Besonderheiten des gegenwärtigen Übergangsstadiums zuerst zur Eroberung der demokratischen Republik und des vollen Sieges der Bauern über die Gutsbesitzer – anstatt der Halbmonarchie der Gutschkow und Miljukow – und dann zum Sozialismus schreiten, der allein den vom Krieg gemarterten Völkern Frieden, Brot und Freiheit geben wird.

N. Lenin

 

 

Anmerkungen

1. Gemeint ist das Manifest der Internationale zur gegenwärtigen Lage, das auf dem Außerordentlichen Kongreß der II. Internationale, der am 24. und 25. November 1912 in Basel stattfand, einstimmig angenommen wurde. Das Manifest entlarvte die räuberischen Ziele des drohenden imperialistischen Krieges. Es bekräftigte die Beschlüsse der Kongresse von Stuttgart und Kopenhagen und forderte das Proletariat auf, im Sinne dieser Beschlüsse den Antikriegskampf zu fuhren

2.Oktobristen“, „Partei der Oktobristen“ (auch „Verband vom 17. Oktober“) – konterrevolutionäre Partei, die in Rußland nach der Veröffentlichung des Zarenmanifests vom 17. (30.) Oktober 1905 entstand, in dem der Zar unter dem Druck der revolutionären Bewegung einige bürgerliche Freiheiten versprach. Die Partei vertrat die Interessen der Großbourgeoisie und der kapitalistisch wirtschaftenden Gutsbesitzer. An der Spitze der Partei standen der Großindustrielle A.I. Gutschkow, der Großgrundbesitzer M.W. Rodsjanko u.a. Die Oktobristen unterstützten vorbehaltlos die Innen- und Außenpolitik der zaristischen Regierung. Nach der bürgerlich-demokratischen Februarrevolution nahmen sie eine führende Stellung in der bürgerlichen Provisorischen Regierung ein. Sie bekämpften aktiv die heranreifende sozialistische Revolution. Der Führer der Partei der Oktobristen, Gutschkow, war Kriegsminister der ersten Provisorischen Regierung.

Kadetten – Mitglieder der Konstitutionell-Demokratischen Partei, der führenden Partei der liberal-monarchistischen Bourgeoisie in Rußland. Die Partei der Kadetten wurde im Oktober 1905 gegründet; ihr gehörten Vertreter der Bourgeoisie, Semstwopolitiker aus den Kreisen der Gutsbesitzer und bürgerliche Intellektuelle an. Später wurde die Partei der Kadetten zur Partei der imperialistischen Bourgeoisie. Während des ersten Weltkriegs unterstützten die Kadetten aktiv die räuberische Außenpolitik der zaristischen Regierung. Nach der Februarrevolution nahmen die Kadetten in der bürgerlichen Provisorischen Regierung die führende Stellung ein und betrieben eine volksfeindliche, konterrevolutionäre Politik.

3.OK-Leute“ – Anhänger des Organisationskomitees (OK), des leitenden Zentrums der Menschewiki, das 1912 auf der Augustkonferenz der menschewistischen Liquidatoren und anderer nichtbolschewistischen Gruppen und Strömungen gebildet worden war. Es bestand bis zur Wahl des ZK der menschewistischen Partei im August 1917.

4.Friedliche Erneuerer“, „Partei der friedlichen Erneuerung“ – konstitutionell-monarchistische Organisation der Großbourgeoisie und der Gutsbesitzer, die sich endgültig 1906 nach der Auseinanderjagung der I. Reichsduma formiert hatte. Die Partei vereinigte „linke Oktobristen“ und „rechte Kadetten“. In der III. Reichsduma schloß sie sich mit der sogenannten Partei der „demokratischen Reformen“ zur Fraktion der „Progressisten“ zusammen. Ihrem Programm nach stand die Partei den Oktobristen (siehe Anm.2) nahe.

5. Trudowiki, Trudowikigruppe (abgeleitet von russ. „trud“ – Arbeit) – eine Gruppe kleinbürgerlicher Demokraten in der Reichsduma, setzte sich aus Bauern und Intellektuellen volkstümlerischer Richtung zusammen. Die Fraktion der Trudowiki wurde im April 1906 von Bauernabgeordneten der I. Reichsduma gebildet. In der Duma schwankten die Trudowiki zwischen den Kadetten und den Sozialdemokraten. Während des ersten Weltkriegs stand die Mehrheit des Trudowiki auf den Positionen des Sozialchauvinismus. Nach der Februarrevolution unterstützten die Trudowiki die bürgerliche Provisorische Regierung.

6. Die Kriegsindustriekomitees wurden im Mai 1915 in Rußland von der imperialistischen Großbourgeoisie zur Unterstützung des Krieges gebildet. Die Bourgeoisie, der es darum ging, die Arbeiter ihrem Einfluß zu unterwerfen und ihnen die Vaterlandsverteidigung schmackhaft zu machen, beschloß, bei diesen Komitees „Arbeitergruppen“ zu schaffen, um damit zu demonstrieren, daß zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat in Rußland der „Klassenfriede“ herrsche. Die Bolschewiki erklärten den Kriegsindustriekomitees den Boykott.

 


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008