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Als die wichtigste unter derartigen „reformistischen“ Maßregeln erscheint mir heute eine weitgehende Verkürzung der Arbeitszeit.
Als Marx in seinem Kapital und in der Internationale den Kampf für den Normalarbeitstag aufnahm, geschah es vornehmlich aus hygienischen und pädagogischen Gründen. Die Kapitalisten strebten danach, die Arbeitszeit so unmenschlich weit auszudehnen, daß die Arbeiter dabei physisch und intellektuell ruiniert wurden. Die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit wurde dringend notwendig, um die Arbeiterschaft vor völligem Verkommen zu retten.
Marx hat den Achtstundentag als die zu diesem Zwecke geeignete Norm bezeichnet. Was er bereits in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gefordert, hat ein halbes Jahrhundert später die Revolution von 1918 gebracht. Diese „reformistische“ Maßregel war eine ihrer wichtigsten Errungenschaften. An ihr festzuhalten, ist dringend nötig.
Aber dabei dürfen wir nicht stehen bleiben.
Marx hat nicht nur die Notwendigkeit des Normalarbeitstages dargetan, er hat auch gezeigt, wie die Maschine Arbeiter um ihre Beschäftigung bringt und die Arbeitslosigkeit, die „industrielle Reservearmee“ zu einer ständigen Einrichtung in der kapitalistischen Gesellschaft macht.
Die bürgerlichen Ökonomen haben die Marxschen Darlegungen darüber bestritten, und manche sozialistischen „Revisionisten“ haben sich der bürgerlichen Kritik vor einem Menschenalter angeschlossen. Sie wiesen auf die Tatsache hin, daß zeitweise die Arbeitslosigkeit nicht zunahm, sondern zurückging.
Das bewies nichts gegen Marx, es bewies bloß, daß jene Marxkritiker Marx nicht verstanden hatten. Marx behauptete keineswegs, daß die Maschine stets, unter allen Umständen, Arbeiter brotlos machen müsse. Der technische Fortschritt bewirke bloß, daß die Zahl der Arbeiter relativ, im Verhältnis zu einer gegebenen Kapitalsmenge immer mehr abnehmen müsse. Bei kapitalistischer Produktion kann die Zunahme der Arbeitslosigkeit, die aus dem technischen Fortschritt hervorgeht, nur dann aufgehoben werden, wenn gleichzeitig die Ausdehnung des Produktionsprozesses im Lande entsprechend rasch zunimmt.
Die Arbeitslosigkeit bildet in der kapitalistischen Industrie stets ein großes Problem, aber seine Bedeutung ist nicht immer die gleiche.
Die Arbeitslosigkeit kann zurückgehen, wenn die Produktion rascher ausgedehnt wird als die „Rationalisierung“, also in Zeiten der Prosperität. Um so entsetzlichere Formen nimmt die Arbeitslosigkeit an, wenn die Ausdehnung der Produktion in Stillstand gerät. Im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts und etwas darüber hinaus gab es fast andauernd Prosperität. Da kam in sozialistischen Kreisen die Idee auf, Marx habe mit seiner Erklärung der Arbeitslosigkeit Unrecht gehabt, die bürgerliche Kritik an ihm sei berechtigt.
Aber das ist schon lange her. Und seit dem Weltkrieg haben sich die Verhältnisse grundlegend geändert. Er brachte den Arbeitern vermehrte politische Rechte, hinterließ aber auch Bedingungen, aus denen vermehrte Arbeitslosigkeit hervorging. Die Arbeiter wurden dadurch in dem gleichen Zeitraum ökonomisch geschwächt, in dem ihre politischen Rechte wuchsen. Kurzsichtige Beobachter schließen daraus, daß politische Rechte, eben die Demokratie, für die Arbeiter zwecklos seien. Das klingt sehr radikal und revolutionär, ist aber nur Wasser auf die Hitlersche Mühle. Und recht trübes Wasser dazu.
Der Weltkrieg setzte an die Stelle der Herstellung von Produktionsmitteln die von Zerstörungsmitteln. Er vernichtete viele Produktionsmittel, schuf wenig neue. Nach dem Krieg mußte der Produktionsapparat in fast allen Industriestaaten in weitgehendem Maße erneuert werden. Die so massenhaft neuproduzierten neuen Produktionsmittel wurden natürlich nach dem modernsten Stand der Technik hergestellt. Die „Rationalisierung“ nahm dadurch eine Ausdehnung und ein Tempo an, wie nie zuvor.
Der Weltkrieg hat aber auch jedem Staat gezeigt, wie wichtig für ihn nicht bloß ökonomisch, sondern auch militärisch, eine technisch hochentwickelte, mit den besten Behelfen der neuesten Wissenschaft ausgestattete Produktion sei. In allen Ländern, in allen Produktionszweigen, namentlich der Landwirtschaft, in denen bis zum Weltkrieg vorkapitalistische, primitive Betriebsweisen überwogen, wurden seitdem fieberhafte Anstrengungen gemacht, sie auf die Höhe der modernsten Technik zu bringen. Damit stieg aber auch das Interesse an den technischen Wissenschaften, was wieder deren Fortschritte enorm förderte.
Das alles hat bewirkt, daß seit dem Weltkrieg die Rationalisierung aller Berufszweige ein so rasches Tempo eingeschlagen hat, daß die Ausdehnung der Produktion vielleicht dauernd dahinter zurückbleiben muß. Das heißt aber, daß ausgedehnte Arbeitslosigkeit droht, zu einer ständigen und stets wachsenden Erscheinung in allen Staaten zu werden, die an der Warenproduktion der Weltwirtschaft beteiligt sind. Sie droht, hoch zu bleiben, sogar in Zeiten der Prosperität – wenn solche überhaupt noch zu erwarten sind, wovon wir hier nicht bandeln können. Sie nimmt katastrophale Dimensionen an in einer Zeit der Weltkrise, wie wir sie eben erleben.
Da gewinnt die Frage der Arbeitszeit eine ganz neue Bedeutung, Der Normalarbeitstag diente bereits dazu, die Arbeiter vor dem Ruin durch Überarbeit zu bewahren. Er soll jetzt auch ein Mittel werden, sie vor dem Ruin durch Arbeitslosigkeit zu retten.
Schon bei der ersten großen Weltkrise, die 1873 begann und sich bis tief in die achtziger Jahre erstreckte, wurde vielfach eine gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit zu diesem Zwecke gefordert. Wir Marxisten konnten uns damals dieser Ansicht nicht anschließen, so sehr wir auf eine Herabsetzung der Arbeitszeit hinarbeiteten. Als Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit konnten wir sie nicht anerkennen. Die gewöhnliche Arbeitszeit war damals so lang, so erschöpfend, daß eine Verkürzung von l–2 Stunden, die damals allein in Frage kam, etwa von 11 oder 10 Stunden auf 9, vielfach nur dazu diente, daß der ausgeruht Arbeiter in kürzerer Zeit ebensoviel, mitunter sogar mehr produzierte, als früher der abgerackerte. Da konnte eine Verkürzung der Arbeitszeit ohne Wachstum der Menge des zu produzierenden Warenquantums keine Minderung der Arbeitslosigkeit bedeuten. Und wir Marxisten haben es stets abgelehnt, billige Versprechungen zu machen, mochten sie noch so viel Popularität bringen.
Heute Hegen die Dinge anders. Der Arbeitstag ist zumeist so verkürzt, daß eine weitere Verminderung, etwa von 8 auf 6 Stunden, nicht mehr bewirkt, daß der Arbeiter in einer Stunde mehr erzeugt, als ehedem, so daß das Produktenquantum des einzelnen Arbeiters im Tage unvermindert bleibt. Diese Kürzung wird jetzt die Menge, die der Einzelne erzeugt, erheblich herabsetzen, so daß zur Gewinnung derselben Produktenmenge mehr Arbeiter angewendet werden müssen, als vorher.
Sobald der Normalarbeitstag zu seinen bisherigen hygienischen und pädagogischen Funktionen die neue Aufgabe des Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit erhält, ändert sich sein Wesen. Die hygienische Grenze des Maximalarbeitstages war unter bestimmten Bedingungen eine bestimmte Große. Diese war jedoch nicht unveränderlich. Je größer die Intensität der Arbeit, desto kürzer muß der Arbeitstag sein, soll er den Arbeiter nicht erschöpfen und ruinieren. Das gleiche gilt etwa von dem Ausmaß schädlicher Bedingungen, unter denen die Arbeit vor sich geht. Arbeiten in schlechter Luft oder in lichtlosen Räumen erheischen eine kürzere Arbeitszeit, als solche in luftigen, hellen Werkstätten. Aber unter gegebenen technischen und hygienischen Bedingungen ist die Größe des zur Sicherung der Gesundheit des Arbeiters erforderlichen Maximalarbeitstags gegeben.
Anders verhält sich’s mit dem Maximalarbeitstag, der nicht bloß die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit des Arbeiters schützen, sondern auch der Arbeitslosigkeit entgegenwirken soll. Ein solcher hängt nicht bloß von natürlichen Bedingungen ab, die sich relativ langsam ändern, sondern auch von ökonomischen Bedingungen, die ununterbrochen wechseln und ein stetes Schwanken der Arbeitslosigkeit mit sich bringen. Ein solcher Normalarbeitstag kann mit der wechselnden Konjunktur wechseln.
Der neue Normalarbeitstag wäre nicht, wie der alte, ein für allemal festzusetzen. Der alte Normalarbeitstag soll natürlich, als dauernder Maximalarbeitstag weiterbestehen. Darüber hinaus aber sollte, bei jedem Ansteigen der Arbeitslosigkeit eine weitere Verkürzung der Arbeitszeit in jedem Beruf verfügt werden, der eine größere Zahl von Arbeitslosen aufweist. Die Ausdehnung dieses neuen Normalarbeitstages würde durch die Ausdehnung der Arbeitslosigkeit bestimmt, und ebenso seine Geltungsdauer.
Mit Hilfe eines derartigen Arbeitstags wäre es möglich, die Arbeitslosigkeit fast restlos aufzuheben und damit alle die quälenden und verheerenden moralischen Folgen des aufgezwungenen Müßigganges, die selbst durch die beste Arbeitslosenunterstützung nicht zu bannen sind. Selbst wenn der Stundenlohn gleich bliebe, es nicht gelänge, ihn gleichzeitig ohne weiteres zu erhöhen, was natürlich anzustreben ist, würde die Arbeiterklasse als Ganzes an Einkommen nichts verlieren. Dieses Lohneinkommen würde nur gleichmäßiger verteilt. Für die bisherigen Arbeitslosen wäre der Gewinn ungeheuer, nicht bloß der ökonomische, sondern auch der moralische. Auch der schon Beschäftigte gewänne viel, selbst bei einer Verminderung seines Lohnes. Er bekäme viel freie Zeit und ersparte die Beiträge für die Arbeitslosenunterstützungskasse sowie die oft sehr großen Aufwendungen für notleidende Verwandte und Freunde. Er gewänne aber auch an Kampfkraft und Fähigkeit, Lohnerhöhungen zu erzielen, denn es stünden keine Arbeitslosen bereit, ihm bei einem Lohnkampf in den Rücken zu fallen. Überdies fiele für die Unternehmer ihr Beitrag zur Arbeitslosenunterstützung weg, sie könnten um diese Summe ihre Lohnzahlungen erhöhen, ohne auch nur einen Groschen mehr auszugeben, als bisher. Die Verkürzung der Arbeitszeit muß daher zu einer Erhöhung des Stundenlohns führen. Allerdings nur dort, wo die Organisationen der Arbeiter völlig frei sind.
Eine derartige weitgehende Verkürzung des Arbeitstages ist ein dringendes Erfordernis der Stunde. Diese Verkürzung kann mit einem Schlage durchgeführt werden und sie beseitigt die schlimmsten Schäden der Weltkrise für den Arbeiter. Natürlich wäre es besser, diese Krise selbst durch eine ausgedehnte Planwirtschaft aufzuheben. Aber eine solche Wirtschaft wäre nicht mit einem Schlage und nicht für einen Staat allein zu erreichen, der Kampf gegen die Krise setzt eine internationale Aktion voraus. Der Normalarbeitstag dagegen ist sofort und in einem Staate für sich allein durchzuführen. Er kommt nicht bloß den Arbeitern einzelner Produktionszweige zu Gute, sondern allen.
Selbst die bürgerliche Welt beginnt, seine Notwendigkeit zu erkennen. Unter den vielen krausen Experimenten, die Roosevelt jetzt unternimmt, ist die Verkürzung der Arbeitszeit der einzig vernünftige Vorschlag. Aber die Kapitalisten stehen jeder Verminderung der Arbeitsqual ihrer Sklaven mißtrauisch und feindselig gegenüber, da sie von einer solchen Reform eine Vermehrung der Widerstandskraft dieser Sklaven befürchten.
Am meisten wird darum eine Diktatur, die im kapitalistischen Fahrwasser schwimmt und die auf die Unterwürfigkeit der Massen angewiesen ist, einer Aufhebung der Arbeitslosigkeit durch weitgehende Verkürzung der Arbeitszeit widerstreben.
Ein sozialdemokratisches Regime dagegen wird seine erste und dringendste Aufgabe auf dem Gebiet der ökonomischen Befreiung der Arbeit in dem Erlaß eines neuen Arbeiterschutzgesetzes sehen müssen, das den Arbeitstag so weit verkürzt, als zur Aufhebung der Arbeitslosigkeit erforderlich ist.
Es wird sich bei seinem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit nicht darauf beschränken. Die Wirkung des Normalarbeitstags würde bedeutend verstärkt durch eine Ausdehnung der Schulpflicht, etwa von 14. zum 16. Jahr und durch Herabsetzung der Altersgrenze der Altersversicherung, etwa zum 60. Lebensjahr. Alles das müßte den Arbeitsmarkt enorm entlasten.
Wir werden daneben natürlich auch auf Überwindung der Weltkrise hinarbeiten und die Herrschaft der großen Monopolisten, namentlich des Grundbesitzes, der Schwerindustrie, der Banken brechen müssen. Aber alles das kann nicht so rasch geschehen und nicht so früh seine vorteilhaften Wirkungen äußern, wie die Verkürzung der Arbeitszeit.
Außer den schon genannten ungeheuren Vorteilen für das gesamte Proletariat, welche diese Maßregel nach sich ziehen wird, ist noch einer zu erwähnen, der von höchster Bedeutung werden kann.
Eine der schlimmsten Schädigungen der Kraft des Proletariats seit dem Ausbruch des Weltkrieges ist seine Spaltung in den meisten Ländern. Zuerst war es der Streit über die politische Haltung im Krieg, der gar manche sozialistische Partei zerriß, dann das Aufkommen der Leninschen Diktatur in Rußland, die den Anspruch erhob, das Proletariat der ganzen Welt zu kommandieren und die Leninanhänger in allen Ländern gesondert zu organisieren. Schließlich kam noch das Erstehen faschistischer Bewegungen, die sich aus den Abfällen der verschiedensten Klassen rekrutieren, darunter leider auch Proletarier.
Die geschulten, gewerkschaftlich organisierten Arbeiter blieben zumeist der Sozialdemokratie treu, die ungeschulten, unorganisierten, verfielen dagegen leicht den Lockungen von Kommunisten oder Nationalsozialisten, die ihnen den Besitz goldener Berge für morgen schon versprachen.
Die Spaltung des Proletariats, die aus bestimmten, vorübergehenden politischen Situationen im Kriege hervorgegangen war und mit ihnen wieder verschwinden konnte, erhielt so eine Ökonomische Grundlegung, die den Gegensatz in den proletarischen Reihen vertiefte und dauerhafter machte.
Diese ökonomische Grundlegung der Spaltung wurde noch enorm verstärkt durch die riesigen Dimensionen der Arbeitslosigkeit seit dem Ausbruch der Weltkrise in den letzten Jahren.
Die verhungernden, verzweifelnden Arbeitslosen können nicht warten, bis die Sozialdemokratie mit den Mitteln der Demokratie zur stärksten Partei wird und ihnen die Linderung ihrer Leiden bringt. Wer ihnen verspricht, mit Methoden der Gewalt morgen schon Arbeit oder Wohlleben zu verschaffen, der ist ihr Mann. Sie sind zu unwissend und zu sehr rasend gemacht durch drückendste Not, um erkennen zu können, wie sinnlos diese Versprechungen sind und daß die Methoden der Gewalt dem Proletariat weit weniger Hilfe bringen, als die der Demokratie.
Die Arbeitslosigkeit bedrängt nicht bloß die Arbeitslosen, sie schwächt auch die Kampfkraft des gesamten Proletariats, zunächst besonders die der Gewerkschaften. Sie vertieft auch die Spaltung der Arbeiterparteien.
In England hatte es nach der Niederlage des Chartismus eine ähnliche, ökonomisch begründete Spaltung des Proletariats gegeben. Die zwischen gewerkschaftlich organisierten und unorganisierten Proletarier. Das wurden zwei verschiedene Welten, die von einander abgesondert existierten. Die unorganisierten Arbeiter versanken in wachsendem Elend, zeigten sich zu jeder Aktion unfähig. Die gewerkschaftlich organisierten erhoben sich über sie als eine besondere Aristokratie. So mächtig diese sich vorkam, so wurde sie doch unfähig zu einem selbständigen Handeln. Sie wurde ein bloßer Anhang des radikalen Teils der Bourgeoisie. Ein ganzes Menschenalter lang gab es in England keine sozialistische Bewegung von Belang.
Das war sehr schmerzlich für den internationalen Sozialismus. Triumphierend verkündigten die Politiker der Bourgeoisie, die Arbeiter Englands seien für immer immun gegen jeden sozialistischen Gedanken. In sozialistischen Kreisen gab es, wie immer, gar manchen, der es vorzog, ihm unangenehme soziale Erscheinungen entrüstet zu brandmarken, was sehr leicht ist, ehe er versuchte, sie zu begreifen, was oft recht große Schwierigkeiten macht. Mit Geringschätzung bei den Sozialisten des europäischen Festlandes wurde von den englischen Arbeitern gesprochen. Nicht nur die „Bonzen“ der Gewerkschaften, sondern sogar Marx wurde mitunter namentlich von anarchistischer Seite für diesen Stand der Dinge verantwortlich gemacht. Hatte er doch die Internationale geführt, und das Verschwinden jeglichen sozialistischen Denkens innerhalb der Partei Englands folgte auf das Wirken der Internationale.
Alle diese kindischen Vorwürfe und Beschuldigungen sind heute vergessen. Geblieben ist aber die Erinnerung an die politische Schwäche der englischen Arbeiterbewegung infolge der Spaltung des englischen. Proletariats in organisierte und nicht organisierte Elemente, die miteinander nichts zu tun hatten.
Viel ärger wirkt heutzutage die Spaltung zwischen beschäftigten und unbeschäftigten Arbeitern. Gelingt es, diese Spaltung durch Beseitigung der Arbeitslosigkeit zu überwinden, dann ist ungeheuer viel für das Erstarken des Proletariats geschehen. Damit wird die sicherste Grundlage für die Herstellung der Einheitsfront des Proletariats geschaffen, die schon seit langem von seinen Vertretern gefordert wird, ohne daß es gelänge, ihr näher zu kommen.
Aufhebung der Arbeitslosigkeit, Einnahme der Hochburgen der großen Ausbeuter, des großen Grundbesitzes, der Schwerindustrie, der Banken, das sind Maßregeln, an die ein sozialdemokratisches Regime sofort zu gehen hat. Gelingen sie, so bringen sie eine solche Fülle von Wohlstand und Glück und Freiheit der Massen, daß die politische Herrschaft der Sozialdemokratie darin ihre sicherste Stütze findet, ohne jegliche Diktatur, die, auch wenn von einer arbeiterfreundlichen Regierung geübt, nur dazu dienen könnte, die Bewegungsfreiheit der Massen aufzuheben und diese gegen die Regierung zu erbittern. Diese Bewegungsfreiheit, das und nichts anderes ist die Demokratie. Jegliches Wesen verlangt von Natur aus schon nach Freiheit der Betätigung. Schon in der Tierwelt finden wir, daß selbst die reichlichste Fütterung und beste Behandlung die in einem Käfig eingesperrten Tiere nicht den Verlust der Freiheit vergessen machen kann. Und selbst bei bester Ernährung erreichen Lebewesen im Gefängnis nie jene Kraft und Intelligenz, die sie bei freiester Übung ihrer Fähigkeiten entwickeln können. Noch schlimmer natürlich ist es dort, wo mit dem Verlust der Freiheit noch Mißhandlung und Mangel an Nahrung Hand in Hand geht.
Manche von uns wollen die Demokratie, aber nur für das Proletariat. Noch niemand hat des Näheren dargelegt, wie die Demokratie für das Proletariat mit der Diktatur über die anderen Volksklassen zu vereinbaren sei. Solange das nicht geschehen, erlaube ich mir, die Idee für eine absurde Phantasie zu erklären. Wohl aber glaube ich gezeigt zu haben, daß nach der Überwindung des Faschismus die Sicherung der Demokratie und die Sicherung der Entwicklung zum Sozialismus sehr wohl möglich sind.
Allerdings nur möglich. Eine Garantie, daß die Demokratie unter allen Umständen gesichert sei und daß die Demokratie unter allen Umständen zum Sozialismus führen müsse, kann man nicht übernehmen. Nur unter einer bestimmten Vorbedingung werden die Demokratie und in ihr der Aufstieg zum Sozialismus gewährleistet sein: Diese Vorbedingung besteht in dem Vorhandensein eines geistig, wie organisatorisch gut entwickelten, politisch erfahrenen Proletariats.
Wo dieses fehlt, führt die Demokratie kaum zum Sozialismus, kann sie selbst unter Umständen bedroht sein. Wo ein solches Proletariat fehlt, führt aber auch kein anderer Weg zum Sozialismus. Selbst wo da ein Antikapitalismus erreicht wird, bedeutet er bloß bürokratische Staats Wirtschaft mit Staatssklaverei, eine Produktionsweise, die ökonomisch unzulänglich ist und alle geistigen Fähigkeiten der Arbeiter verkümmert.
Nur in der Demokratie, in freiem Wettbewerb aller geistigen Strömungen in der Bevölkerung, kann das Proletariat die Kraft und Fähigkeit erlangen, sich selbst zu befreien, den gesellschaftlichen Produktionsprozeß selbst zu verwalten. Und nur in der Demokratie kann es diese Fähigkeit in einer Weise zur Anwendung bringen, die ein der kapitalistischen Produktionsweise in jeder Weise überlegenes Wirtschaftssystem schafft. Jenes System, das Marx und Engels im Kommunistischen Manifest bezeichneten als „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.
Wer behauptet, daß eine sozialistische Gesellschaft nur aus einer Diktatur, nicht einer Demokratie hervorgehen könne, der bezeugt dabei im Grunde sein Mißtrauen nicht gegen die Demokratie, sondern gegen das Proletariat.
Die Ideologie der Diktatur ist die Ideologie des Leithammels, ist die Gleichsetzung der Masse der Proletarier mit einer Herde unwissender, gedankenloser Schafe. Wer diese Ideologie akzeptiert, der mag den Sieg des Sozialismus noch so heiß wünschen. Er bekundet dessen moralischen Bankrott.
Wir aber glauben an das Proletariat, an seine Entwicklungsfähigkeit, an seine Zukunft und darum hegen wir volles Vertrauen zur Demokratie.
Seit anderthalb Jahrhunderten ringen die arbeitenden Massen in Europa um die Demokratie. Zahlreich waren dabei ihre Niederlagen, nie fühlten sie sich entmutigt, nie verloren die Kämpfer für sie das Vertrauen zu ihr, stets erstand die Demokratie immer wieder.
Auch weiterhin halten wir das Banner hoch, das uns und unsere Väter und Urväter seit anderthalb Jahrhunderten begeistert, und, trotz mancher schmerzlichen Mißerfolge doch immer wieder vorwärts geführt, und das Antlitz der Welt grundlegend umgestaltet hat. Eine vereinzelte Niederlage soll uns nicht veranlassen, diese bewährte Front zu wechseln, die allein im Stande ist, unsere Partei zum Siege zu führen, die arbeitende Menschheit für immer zu befreien!
Zuletzt aktualisiert am: 31. März 2018