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Die Feier des 50. Todestages von Karl Marx fiel fast auf den Tag mit der Eroberung der diktatorischen Macht durch Hitler zusammen. Nie war eine Marx-Feier so allgemein in der ganzen Welt begangen worden, wie diesmal. Noch nie schien das Gedankenleben des Sozialismus so einheitlich zu sein, wie jetzt – Marx beherrschte es ganz. Und doch zog der Machtaufstieg Hitlers eine weitgehende Zersplitterung dieses Gedankenlebens nach sich, die allerdings schon der Weltkrieg begonnen hatte.
Das macht die jetzige Situation ganz unähnlich der, die das Sozialistengesetz für die deutsche Sozialdemokratie geschaffen hatte. Dieser war kurz vorher, 1875, die Einigung gelungen. Nur taktische und organisatorische Probleme schuf das Ausnahmegesetz, unsere Ziele wurden dadurch nicht berührt, weder unsere nächsten, noch unsere ferneren. Wir waren und blieben, eine demokratische Partei, die Demokratie eine unserer wichtigsten Forderungen. Auch nach dem Fall des Sozialistengesetzes bis zum Weltkrieg wurde die innere Einheit der deutschen Sozialdemokratie nicht aufgehoben, trotz aller revisionistischen Kritiken. Es gab immer einen rechten und einen linken Flügel in der Partei, – ihr Gedankenleben wird nie ein uniformiertes sein, – aber in unseren wesentlichen Zielen und Methoden stimmten wir stets überein. Vor allem in der Frage der Notwendigkeit der Demokratie.
Da kam der Weltkrieg. Er brachte große Verschiedenheiten unter den Parteigenossen in ihren Auffassungen des Charakters dieses Krieges und der Stellung der Sozialdemokratie zu ihm. Das führte schließlich zu einer Spaltung der deutschen Partei. Doch hätte die organisatorische und taktische Trennung mit dem Kriege selbst aufgehört, wenn nicht die russische Revolution einen neuen Zwiespalt gebracht hätte, den zwischen diktatorischem und demokratischem Sozialismus.
Eine weitere Spaltung brachte der Aufstieg Hitlers, der eine Reihe bisher „marxistischer“ Elemente dem Nationalsozialismus zuführte. Hitlers Sieg endlich droht, die Zersetzung der Arbeiterbewegung auf den Gipfel zu treiben: eine Reihe von Sozialdemokraten wird irre an der bisher von unserer Partei verfolgten Politik. Sie erscheint ihnen fehlerhaft und wird von ihnen verworfen. Völlig neue Wege müsse die Sozialdemokratie einschlagen, solle sie siegen und den Sieg behaupten können.
So sprachen wir nicht 1878, als das Sozialistengesetz über uns verhängt wurde. Wir sahen in diesem nicht ein Ergebnis von Fehlern, die unsere Partei begangen.
Heute ist das anders. Das bringt mit Notwendigkeit eine erneute Prüfung und Diskutierung unserer Grundsätze und Ziele mit sich. Das ist nicht sehr erfreulich in einer Situation, die jede Diskussion innerhalb des deutschen Reichs so gut wie unmöglich macht und alle Aufmerksamkeit der Genossen auf Fragen der Organisation der illegalen Arbeit lenkt. In einem Feldlager sind Diskussionen wenig am Platz. Trotzdem können wir uns ihnen nicht entziehen, denn wir müssen jetzt sehr klar sehen, wofür wir kämpfen. Es wäre verhängnisvoll, wollten wir darüber erst nachdenken, nachdem es uns gelungen, über Hitler zu siegen.
Darauf weist ein Artikel in Nr. 6 des tapferen Organs der deutschen Emigration, des Neuen Vorwärts, hin, der den Titel trägt: Revolution gegen Hitler und was dann? Er ist sehr beachtenswert. Mit Recht betont er, daß es mit dem Haß gegen den Hitlerfaschismus allein nicht abgetan ist, daß dringend erforderlich sei die „absolute Zielklarheit der sozialistischen Bewegung“.
Allerdings waren wir bisher der Meinung, diese Zielklarheit hätten wir bereits längst erreicht mit Hilfe der Marx’schen Methode. Wir meinten, die neuen Fragen, vor die uns der Sieg Hitlers stelle, beträfen die Methoden des Kampfes gegen ihn, da uns die seit 1918 erschlossenen Wege nicht mehr offen stünden. Aber wir sahen keine Notwendigkeit, unsere Ziele zu ändern oder zu erhöhter „Zielklarheit“ zu gelangen. Wir waren der Ansicht, unsere Parteiprogramme böten bereits die nötige Klarheit, vom Erfurter bis zum Heidelberger Programm. Wenn jemand die Frage aufwirft: „Revolution gegen Hitler und was dann?“, den haben wir einfach zu verweisen auf unser bisheriges Programm.
Unser Freund im Neuen Vorwärts – er ist ungenannt, wir wollen ihn Genossen X nennen – fordert dagegen ein neues Programm und er skizziert es bereits:
„Das werden die Hauptpfeiler des neuen sozialistischen Programms werden: Aufteilung des Großgrundbesitzes in Verbindung mit dem Siedlungs- und Wohnungsproblem; Sozialisierung der Schlüsselindustrien und Banken in Verbindung mit der Schaffung an Staatsmonopolen.“
Ja, ist das ein neues sozialistisches Programm? Schon 1891 fordert das Erfurter Programm die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums au Produktionsmitteln, Grund und Boden etc. in gesellschaftliches Eigentum.
Die späteren Programme der Sozialdemokratie haben an dieser Forderung nichts geändert. Was ist also neu an dem jetzt neu aufgestellten Wirtschaftsprogramm? Es stimmt im Wesentlichen mit unserem alten Programm überein. Nur erscheint mir seine Fassung teilweise weniger glücklich. Es spricht nicht von der Enteignung, sondern von der Aufteilung des großen Grundbesitzes. Eine solche kann ein Fortschritt dort sein, wo der Großgrundbesitz ohne moderne technische Hilfsmittel betrieben wird. Eine Zerschlagung eines rationellen großen Betriebs in kleine Bauernwirtschaften wäre technisch und ökonomisch ein gewaltiger Rückschritt. Seine Sozialisierung wäre weit rationeller.
Vieles von dem in Rußland Begonnenen, das wegen Mangel an geschulten Menschen und an Mitteln und wegen verkehrter Methoden scheitern mußte, wäre in Deutschland heute schon möglich. Darunter auch die Organisation von Kolchosen, die ich übrigens schon 1918 empfahl.
Derartige Einrichtungen sollte unser Aktionsprogramm nicht ausschließen. Darum ziehe ich seine alte Fassung der neuvorgeschlagenen vor. Wir werden besser tun, wie bisher nicht von der Aufteilung, sondern mir von der Enteignung des Großgrundbesitzes zu sprechen und es der Zukunft und den Erfahrungen und Kräften, die sie bringt, zu überlassen, was wir mit dem enteigneten Großgrundbesitz anzufangen gedenken. Es wurde ehedem in unserer Partei wohl über die Formen diskutiert, die die großen Güter in einer sozialistischen Gesellschaft anzunehmen haben. Dagegen war die Enteignung des Großgrundbesitzes nie eine strittige Frage unter uns. Wozu also ein neues Programm?
Man wird mir vielleicht entgegenhalten, daß der Verfechter des neuen Programms im Neuen Vorwärts das bisherige gar nicht bestreite. Die Neuheit, die er fordere, bestehe vielmehr darin, daß unsere Partei es bisher versäumt habe, wenn sie an der Macht war, ihr eigenes Programm durchzuführen. Diesen Fehler dürfe sie nicht wieder begehen.
Sollten die kritischen Ausführungen unseres Genossen in diesem Sinne zu verstehen sein, dann stimme ich ihm ohne weiteres zu. Nur bestreite ich hier wieder, daß damit etwas Neues gefordert wird. Wo die Sozialdemokratie die Möglichkeit gegeben sah, zu sozialisieren, die großen Monopole des Grundbesitzes und der Kartelle in Gemeineigentum zu verwandeln, da hat sie es getan.
Man wirft der deutschen Sozialdemokratie vor, sie habe das 1918 unterlassen, obwohl sie es vermocht hätte. Es scheint mir, daß auch unser Kritiker im Neuen Vorwärts dieser Ansicht ist und daß er meint, dieser Fehler dürfe nicht wiederholt werden.
Sicher, der Fehler wäre ungeheuer, unverzeihlich gewesen, wenn, unsere Partei eine Möglichkeit verpaßt hätte, die sich ihr bot, die schlimmsten Gegner des arbeitenden Volkes zu entwaffnen. Aber nichts irrtümlicher, als wenn man ohne weiters annimmt, in den Wochen des November, Dezember 1918, Januar 1919 wäre diese Möglichkeit gegeben gewesen, weil die sozialdemokratischen Volksbeauftragten damals die politische Macht in der Hand hielten.
Sie besaßen sie, aber unter welchen Umständen? Schon in den ersten Tagen der Revolutionsregierung wies das radikalste ihrer Mitglieder auf die Schwierigkeiten hin, die sie fand. Hugo Haase schrieb am 26. November an seinen Sohn Ernst:
„Die harten Waffenstillstandsbedingungen, die Notwendigkeit der überstürzten Demobilisierung, das Detail der Ernahrungspolitik erheischen mehr als sonst die Aufrechterhaltung des eingearbeiteten Verwaltungsapparats.“ (Ernst Haases Buch über Hugo Haase, 1929. S. 173)
Man stelle sich die außerordentliche Situation jener Monate vor. Das deutsche Reich war im Kriege zusammengebrochen. Es hatte einem Waffenstillstand zustimmen müssen, der es notwendig machte, auf das rascheste das ungeheure Heer über den Rhein zu führen. Die Millionen Soldaten mußten demobilisieren. Dabei galt es, die stockende Produktion wieder in Gang zu bringen und von der Kriegswirtschaft zur Friedenswirtschaft überzuführen, sowie die verhungerte Volksmasse mit Nahrung zu versorgen, trotz der fortdauernden Blockade.
Zur Lösung dieser ungeheuren Aufgaben arbeiteten die verschiedenen Richtungen der Sozialdemokratie nicht zusammen, sondern gegeneinander. Karl Liebknecht und Ledebour waren, aufgefordert worden, in den Rat der Volksbeauftragten einzutreten. Sie lehnten ab, bekämpften ihn nach Möglichkeit. Der Zentralrat der Arbeiterräte hätte die gesamten revolutionären Kräfte des deutschen Proletariats zusammenfassen können. Aber seine linken Elemente schieden aus ihm aus, bloß aus dem Grunde, weil sie nicht über die Mehrheit in den Arbeiterräten verfügten.
Das waren die Umstände, unter denen die Sozialisierung der großen Betriebe hätte vorgenommen werden sollen Die Frage wurde in den Hintergrund gedrängt durch die dringendsten Aufgaben des Tages, die alle Kräfte in Anspruch nahmen, der Demobilisierung, der Lebensmittelversorgung, der Behauptung der Regierung gegen bewaffnete Erhebungen.
Was durch einfache Dekrete zu Gunsten der Arbeiter damals eingerichtet werden konnte, wurde trotz diesen Schwierigkeiten von den Volksbeauftragten verfügt, der Achtstundentag, die Betriebsräte, die Versorgung der Erwerbslosen.
Die Sozialisierung erheischt größte Vorbereitungen. Zu diesem Zwecke wurde schon Ende November 1918 eine Sozialisierungskommission eingesetzt. Aber die Wahlen zur Nationalversammlung vom Januar 1919 ergaben eine bürgerliche Mehrheit und machten damit einstweilen jedem Versuch einer weitgehenden Sozialisierung ein Ende.
Man konnte meinen, daß die Sozialdemokratie die Sozialisierung hätte eben sofort durchführen sollen, solange sie die alleinige Macht im Staate besaß. Wer dieser Ansicht ist, den verweise ich auf das Beispiel Ungarns. Dort gab es nach dem Zusammenbruch der Monarchie zuerst ein Koalitionsministerium bürgerlicher Radikalen und Sozialdemokraten unter dem Grafen Kärolyi. Dessen Regierung wurde im März 1919 gestürzt, als die Kommunisten erstarkt waren. Diese setzten eine Regierung ein, in der neben Kommunisten auch radikale Sozialdemokraten saßen. Diese Regierung enteignete sofort den Großgrundbesitz und die großen industriellen Unternehmungen. Aber so einfach es war, die Enteignung auszusprechen, so schwierig die Neuorganisation der Produktion. Man hatte keine Zeit, sie vorzubereiten, was dahin führte, daß die Versorgung der städtischen Bevölkerung mit Lebensmitteln völlig stockte. Der revolutionären Regierung blieb nichts anderes übrig, als viele der enteigneten Großgrundbesitzer mit der Leitung ihrer bisherigen Betriebe zu beauftragen. Natürlich hätte man mit der Zeit schon Mittel und Wege gefunden, die Schwierigkeiten sozialistischer Landwirtschaft zu überwinden. Aber dazu fehlte in Ungarn 1919 die Zeit. Die revolutionäre Regierung, die Krieg gegen die Tschechoslowaken und Rumänen führte, brach zusammen und danach konnte der Großgrundbesitz wieder seine Güter übernehmen, deren Verwaltung durch ihn nicht aufgehört hatte.
Man sieht, eine überstürzte, unvorbereitete Sozialisierung taugt nichts. Die Sozialdemokraten waren aber in Deutschland nicht lang genug an der Macht, um die nötige Zeit zur Vorbereitung zu finden. Dies der Grund, warum es bei uns 1919 zu keiner Sozialisierung kam.
Sie scheiterte an den Machtverhältnissen und Kriegswirkungen, nicht aber an einem „bänglichen Schwanken feiger Gedanken“. Ein solches durften und dürfen wir sicher nicht aufkommen lassen.
Nazis und andere Gegner der Sozialdemokratie, darunter natürlich die Kommunisten, lieben es, die Geschichte der deutschen Republik seit 1918 in dem Sinne darzustellen, als hätte damals die Sozialdemokratie die Allmacht erobert und es sei bloß ihrer Unfähigkeit oder ihrem Mangel an revolutionärem Enthusiasmus zuzuschreiben, wenn sie die großen Ausbeuter nicht expropriierte, was sie leicht hätte tun können.
Andere wieder meinen, die Sozialisierung sei nach 1918 daran gescheitert, daß die Partei unter dem Einfluß marxistischen Denkens es versäumte, rechtzeitig einen Plan für den sozialistischen Aufbau auszuarbeiten.
In Nr. 8 des Neuen Vorwärts verlangt Genosse Brandy von der Sozialdemokratie den Mut zur Utopie. Er wirft ihr vor, sie habe seit jeher alles geringgeschätzt, was nach konstruktivem Sozialismus aussah, sich nie mit der Frage beschäftigt, was nach der Machtergreifung durch uns geschehen solle. Selbst in den Tagen der Revolution von 1918 habe man für diese Frage kein Interesse gezeigt. Einzig Otto Neurath habe einen Sozialisierungsplan entworfen und der wäre von führenden Genossen mit Spott und Hohn abgetan worden. „Dieser vom Vorkriegssozialismus ererbte Mangel an konstruktivem Planen und Wollen machte die Hauptschwäche der SDP aus.“
Das ist ein schwerer Vorwurf. Aber zum Glück ein gänzlich unbegründeter. Um nur für meine Person zu sprechen, darf ich darauf hinweisen, daß ich schon im Jahre 1902 eine Schrift verfaßte, in der ich die Maßnahmen erörterte, die am Tage nach der Revolution von uns zu ergreifen wären. Auch später hat mich dieses Problem immer. wieder beschäftigt. Noch im Kriege, Winter 1917–18 untersuchte ich unter anderem die Sozialisierung der Landwirtschaft in einer Schrift über die Übergangswirtschaft.
Nach der Revolution wurde ich Vorsitzender der Sozialisierungskommission. Endlich 1922 veröffentlichte ich mein Buch über Die proletarische Revolution und ihr Programm.
Also daß die Marxisten sich mit Fragen des konstruktiven Sozialismus nie beschäftigt haben, ist unrichtig. Detailpläne im Vorhinein für alle Zukunft haben wir allerdings nie ausgearbeitet. Das erscheint uns auch heute noch als ein törichtes Beginnen.
Die Schrift Neuraths aber wurde in den Tagen der Revolution 1919 nicht deshalb von uns „abgetan“, weil sie es unternahm, die Sozialisierung durchzudenken und zu regeln, sondern deshalb, weil sie sich diesen Vorgang viel zu einfach vorstellte, was heute vielleicht Neurath selbst zugeben wird.
Es war die Eigentümlichkeit aller Utopisten, daß sie sich die sozialistische Gesellschaft weit einfacher vorstellten, als sie in Wirklichkeit sein muß. Das gab ihnen den Mut zur Utopie. Wir Marxisten dachten darüber anders, aber auch wir mußten nach der Revolution von 1918 erkennen, daß die Sozialisierung noch komplizierter ist, als wir annahmen. Kein Einzelner, wie enzyklopädisch sein Wissen sein mag, vermag einen Plan des sozialistischen Neuaufbaues in allen Einzelheiten durchzudenken. Diese Aufgabe nimmt für jede historische Situation, jedes Land, jedes ökonomische Gebiet einen besonderen Charakter an. Zu ihrer Lösung müssen Theoretiker und Praktiker zusammenarbeiten. Denker, die mit der Gesamtheit des gesellschaftlichen Prozesses vertraut sind, und praktische Spezialisten, Ingenieure, Kaufleute, Betriebsleiter, einfache Arbeiter. Ein praktischer Sozialisierungsplan kann nicht das Werk eines Einzelnen sein, sondern nur das eines umfangreichen Arbeitsamtes. Er kann nicht für alle Zeiten, Länder, Zweige der Produktion und des Verkehrs der gleiche sein.
Das ist eine der wichtigsten Lehren der letzten Revolution. Wir haben aus ihr und der Gegenrevolution sicher zu lernen, aber nicht in der Weise, daß wir zur Denkweise der Owen, Fourier, Cabet zurückgreifen, die noch meinten, den ganzen Produktionsprozeß in kleinen Kolonien mit etwa 2.000 Mann meistern zu können.
Wir haben aber auch nicht unbesehen an der Vergangenheit unserer Partei Kritik zu üben, in einer Weise, die deren frühere Tätigkeit in falschem Licht erscheinen läßt. Das gilt ebenso von dem Vorwurf, wir hätten uns ehedem nicht mit Fragen des konstruktiven Sozialismus beschäftigt, wie von dem Vorwurf, unsere Partei habe dadurch gesündigt, daß sie zu reformistisch war, zu wenig revolutionär.
Weder der eine noch der andere Vorwurf trifft zu und weder der eine noch der andere erklärt den Sinn der Gegenrevolution.
Unsere alten Genossen haben es in keiner Weise nötig, sich von der heutigen Jugend revolutionären Enthusiasmus einimpfen zu lassen. Es ist auch ganz irrtümlich, wenn heute große Parteiorgane im Anschluß an de Man’s jüngste Wandlung verkünden, die Arbeiterbewegung sei bisher reformistisch gewesen, sie müsse jetzt revolutionär werden: Reformistische Aktion ans revolutionärer Gesinnung, das sei das wahre.
Die marxistische Arbeiterbewegung war stets von revolutionärer Gesinnung erfüllt in dem Sinne, daß sie die Gesellschaft von Grund aus umwandeln wollte. Nur hing es nicht von ihrem Belieben ab, ob sie dieser Gesinnung durch reformistische oder revolutionäre Aktionen Ausdruck gab. Der Marxismus ist von seinem Beginn an in gleicher Weise reformistisch wie revolutionär gewesen, aber die Situationen wechselten, die sein Tun einmal zu einem reformistischen, ein andermal zu einem revolutionären machten.
Dabei ist zu bedenken, daß dies Wort reformistisch ebenso elastisch und deutbar ist, wie das Wort revolutionär. Brachte es doch jüngst auf der Pariser Konferenz der französische Genosse Zyromski fertig, der Resolution Otto Bauers vorzuwerfen, sie bewege sich im Fahrwasser des Reformismus.
In seinem Vorwort zur Broschüre Marx gegen Hitler (Wien, E. Prager) stellt G. Bienstock die „dynamischrevolutionäre Epoche der ersten Internationale“ der „nüchtern reformistischen Periode der zweiten Internationale“ gegenüber, die ihm ein Produkt des Verfalls zu sein erscheint. Wie lagen die Dinge in Wirklichkeit? Die Triebkraft der ersten Internationale waren die englischen Gewerkschaften. Neben ihnen traten besonders hervor die französischen Proudhonisten. Proudhon wollte von Revolution nichts wissen. Die Blanquisten beschuldigten die Internationalisten wegen ihrer angeblichen Zahmheit, von Napoleon gekauft zu sein. Das waren in der Tat höchst „dynamisch-revolutionäre“ Elemente. Marx war das geistige Haupt der ersten Internationale. Mit welchen Fragen beschäftigten sich vornehmlich deren Kongresse? Mit Gewerkschaften, Genossenschaften, Normalarbeitstag.
Daneben traten die englischen Arbeiter in den Kampf ums Wahlrecht ein. Sie begnügten sich mit dem Wahlrecht für die bessergestellten, organisierten Arbeiter. Wie revolutionär!
Unter revolutionären Aktionen versteht Bienstock offenbar Insurrektionen und Generalstreiks. Solche Bewegungen finden wir allerdings im Zeitalter der zweiten Internationale nur vereinzelt, aber ebenso in der ersten Internationale. Die „dynamisch-revolutionäre Epoche“ Europas beginnt mit der französischen Revolution 1789 und endet mit der von 1848. Nachher gibt es in Westeuropa als revolutionäre Aktion nur noch die Erhebung der Pariser Kommune von 1871, ein gewaltiges, aber nur lokales Ereignis, das sich an Bedeutung nicht messen läßt mit der „dynamisch-revolutionären“ Bewegung in Rußland von 1905, also in der Periode der zweiten Internationale. Mit stürmischem Jubel begrüßte diese die erste russische Revolution.
Seit dem Anfang der sechziger Jahre vollzog sich die europäische Entwicklung unter ganz anderen Bedingungen als bis dahin und darum nahm auch die Arbeiterbewegung seitdem einen anderen Charakter an als in dem Zeitalter von 1830–1848. Je nach dem Kampfterrain nimmt die Arbeiterbewegung einmal revolutionäre, ein andermal reformistische Formen an.
Das gilt für die Vergangenheit, es wird auch für die Zukunft gelten.
Gewiß werden wir nach der Besiegung der Hitlerschen Diktatur danach trachten, sofort die großen Ausbeuter in Stadt und Land zu expropriieren. Ob das gelingt, das wird nicht bloß von unserem Willen abhängen, sondern von unserer Kraft und den Bedingungen, die wir vorfinden. Das wird für den Erfolg unserer Aktionen nach dem Sturz Hitlers ebenso entscheidend werden, wie es nach dem Sturz Wilhelm II. der Fall war.
Allerdings dürfen wir erwarten, daß unsere Kraft diesmal größer sein wird und die Bedingungen günstiger für die Durchführung einer weitgehenden sofortigen Sozialisierung. Aber deren Erfolg wird ein Ergebnis der neuen Situation sein und nicht ein Ergebnis eines neuen Programms, einer neuen Utopie, einer neuen revolutionären Gesinnung, die jeglichen Reformismus abschwört.
Um das wirtschaftliche Programm des Genossen X durchzuführen, brauchen wir nur der Gesinnung treu zu bleiben, die unsere Partei seit den Tagen des Kommunistischen Manifestes stets beseelt hat.
Zuletzt aktualisiert am: 31. März 2018