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Renner verwahrt sich dagegen, dass man seine „vorläufigen Antworten“ mit „bloßen Randnoten“ erwidert. Aber dürfen bloße unbewiesene Vermutungen mehr beanspruchen?
Indes ist es zum Glück nicht richtig, dass die Marxsche Schule vor dem Kriege sich um die ganze neuere Entwicklung nicht gekümmert und sich auf das Bewerfen mit Marxschen Buchzitaten beschrankt hat, wie Renner uns anklagt. Sie hat fleißig und eifrig gearbeitet und Renner mit ihr. Das, was er damals in Gemeinschaft mit den „Vulgärmarxisten“ lernte, hat ihm die Fähigkeit verliehen, die unbewiesenen Vermutungen, die der Krieg in ihm weckte, in einer Weise vorzutragen, dass sie als Ergebnisse tieferer marxistischer Erkenntnis erscheinen.
Dies veranlasst uns, die Erörterung der Rennerschen Auffassung nicht auf bloße Randnoten zu beschränken. Dabei stoßen wir freilich auf eine bedeutende Schwierigkeit, die jedoch keineswegs in der durchschlagenden Kraft dieser Auffassungen liegt.
Jede Kritik, die fruchtbar sein soll, muss von einer richtigen Darstellung des Gedankenganges ausgehen, der kritisiert wird. Es ist nie eine leichte Sache, sich in einen fremden Gedankengang hineinzuleben und ihn getreu wiederzugeben.
Bei dem vorliegenden Buche wird dies aber besonders schwierig. Denn hier haben wir es nicht mit einer geschlossenen Ideenentwicklung zu tun, in der ein Gedanke logisch den anderen gebiert, einer den anderen stützt und jeder Begriff um so klarer wird, je weiter man in dem Werke voranschreitet, sondern wir haben es zu tun mit Vermutungen, Einfallen, Andeutungen, die nicht theoretisch entwickelt werden, deren theoretische Entwicklung vielmehr einer imaginären Marxisten-schule der Zukunft zugewiesen wird.
Dabei ist die Auseinandersetzung Renners keineswegs widerspruchslos. Da ist es nicht leicht, seinen Gedankengang darzustellen. Um so unerlässlicher erscheint es mir, den Autor bei dieser Wiedergabe ausführlich mit seinen eigenen Worten reden zu lassen. Wir wollen uns die Kritik nicht so bequem machen wie er, der die von ihm Kritisierten nie zitiert, nicht einmal nennt, sondern einfach pauschaliter als „Vulgärmarxisten“ abtut, wobei er es dem Leser überlasst, herauszufinden, auf wen diese Bezeichnung gemünzt sein soll.
Renner geht davon aus, dass seit der Abfassung des Kapital ein halbes Jahrhundert verflossen ist und die Welt sich seitdem erheblich geändert hat.
Das hätten wir nicht beachtet, das habe erst der Krieg gezeigt:
„Ich gestehe, dass die wirtschaftlichen Erscheinungen des Krieges mir die kapitalistische Entwicklung von 1878 bis 1914 erst ganz aufgehellt haben. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir Marxisten grundwandelnde Änderungen, die sich in diesen 36 Jahren in der Struktur der Gesellschaft vollzogen haben, teils übersehen, teils unterwertet, auf jeden Fall aber der Marxschen. Gedankenwelt nicht einverleibt haben. Die kapitalistische Gesellschaft, wie sie Marx erlebt und beschrieben hat, besteht nicht mehr so ist jener Wandel in der Gesellschaft erfolgt, so haben wir zwar nicht einen Satz von Marx zu verbessern, wohl aber die alte Marxsche Methode auf eine neue Gesellschaft anzuwenden.“ (S. 9)
Wir leben also in einer ganz neuen Gesellschaft, ohne es zu wissen. Darüber wurden Renners Augen durch den Krieg geöffnet.
Sehen wir zu, welcher Art diese „neue Gesellschaft“ ist.
Zwei Erscheinungen haben sich nach Renners Ansicht seit Marx „grundwandelnd“ geändert: das Eigentum und der Staat.
Betrachten wir zunächst das Eigentum.
Fur Marx und Engels entspringt der proletarische Kampf für den Sozialismus aus dem Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung. Die Produktion wird immer mehr Großbetrieb, gesellschaftlicher Betrieb, ihre Grundlage ist aber immer noch privates, nicht gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln.
In diesem Punkte soll sich nach Renner in den letzten Jahrzehnten eine völlige Änderung vollzogen haben. Das private Eigentum sei zu einer öffentlichen Anstalt geworden:
„Diesen Wandel wollen wir hier zunächst bloß veranschaulichen. Mitten auf ihrem geschlossenen Gutsbezirk steht das Schloss einer adeligen Familie ... Das Eigentum ist hier deutlich abgegrenzt, Zutritt Fremden verboten. Jedermann begreift und benennt diese wirtschaftliche Tatsache als Eigentum ... Dem entgegen stellen wir das auffälligste Beispiel der Entwicklung, eine (nicht verstaatlichte) Eisenbahn. Wir treten in in die Halle – auch das ist genau so bücherliches Grund- und Hauseigentum – aber niemand denkt daran, er habe fremdes Eigentum betreten ...
In diesem Falle ist offensichtlich, dass das private Eigentum öffentliche Anstalt geworden ist (ohne darum öffentliches Eigentum zu werden), in anderen Fallen sieht man es nicht, obschon das Eigentum seine Anstaltsbeschaffenheit geradezu plakatiert. Der Flickschuster überschreibt seinen Laden mit ‚Schuhbesohlungsanstalt‘ und besagt damit: gegen tarifmäßige Gebühr erwirbt die ganze Öffentlichkeit die Berechtigung, über meine Dienste zu verfügen ...
Im Kriege ist das, was schon in der Entwicklungslinie gegeben war, jählings zum Durchbruch gekommen: der souveräne Privateigentümer ist mit einem Male zum öffentlichen Pfichtenträger gemacht worden: der Landwirt muss anbauen – oder ein anderer nimmt sein Grundstück in Nutzung: er muss verkaufen, er muss statt des Marktpreises eine öffentlich angeschriebene Gebühr nehmen, muss das Getreide zur Bahn oder Mühle verfrachten und so weiter.
Mit einem Male wurde uns sichtbar, dass das Eigentum öffentliche Anstalt geworden ist.“. (S. 51 bis 53)
Auf die Erscheinungen des Krieges kommen wir später noch zurück. Hier sei einstweilen nur die Entwicklung im Frieden betrachtet.
Deren Gang wird uns von Renner veranschaulicht durch einen Vergleich zwischen einem Gutshof, zu dem Fremden der Eintritt verboten ist, und einem Bahnhof, zu dem jedermann Zutritt hat. Ja, geht denn die Entwicklung vom Gutshof zum Bahnhof? Will man die Richtung einer Entwicklung kennzeichnen, dann muss man doch Gleiches mit Gleichem vergleichen, also nicht den Gutshof mit dem Bahnhof, sondern den Gutshof vor 100 oder 50 Jahren mit dem von heute. Tut man das, dann wird man aber keineswegs finden, dass die Gutshofe heute leichter für jedermann zugänglich sind als vor 50 Jahren. Im Gegenteil. Zu einem Gutshof gehört sehr oft ein Wald. Nun, die Zugänglichkeit der Wälder und ebenso der Alpenweiden hat in den letzten Jahrzehnten nicht zu-, sondern abgenommen. Das Suchen von Beeren und Pilzen ist unter strenge Aufsicht gestellt, das Betreten mancher Jagdreviere gänzlich untersagt worden.
Das ist die Entwicklung des privaten Eigentums zur öffentlichen Anstalt.
Nicht minder seltsam wie die Vergleichung von Gutshof und Bahnhof ist aber die Unterscheidung des Eigentums als privates und öffentliches je nach seiner Zugänglichkeit. Als ob nicht schon aus rein technischen Gründen manche Einrichtungen allgemein zugänglich, manche nur den Beschäftigten zugänglich sein müssten. ganz gleich, ob sie öffentliches oder privates Eigentum sind. In einer öffentlichen Schule oder einer kommunalen Gasanstalt ist der Zutritt Nichtbeschäftigten ebenso verboten wie in einer Privatschule oder privaten Gasanstalt. Anderseits müssen Einrichtungen, die dem allgemeinen Verkehr dienen, jedermann zugänglich sein, der ihre Benutzung bezahlen kann, einerlei, ob sie privates oder öffentliches Eigentum sind. Ein Kaufmann oder ein Flickschuster der von Passanten lebt, wäre ein Narr, wenn er über einem Laden die Aufschrift anbrachte: „Fremden ist der Zutritt verboten.“ Er lasst jeden eintreten, der sein Kunde werden will.
Dadurch hört sein Geschäft nicht auf, privates Eigentum zu sein. Übrigens: Seit wann ist ein Flickschuster, ebenso wie ein Bahnhof, der Vertreter der modernsten Form des Eigentums? Wir finden ihn schon bei den alten Griechen und Römern.
Das gleiche gilt zum Beispiel für Gasthäuser. Nicht erst seit 1878, sondern schon in den Tagen des Propheten Jonas waren sie jedem zugänglich, der bar bezahlte, was er verzehrte. In England heißt ein Gasthaus seit alters her ein „öffentliches Haus“ (public house), was den unglückseligen Übersetzer Shaws, den Herrn Trebitsch, in der Tat einmal dazu verführte, aus einem Kneipwirt den Besitzer eines öffentlichen Hauses zu machen. (Der verlorene Vater, S. 71)
Sollen wir etwa auch aus der Zunahme der Wirtshäuser schließen, dass das private Eigentum immer mehr eine „öffentliche Anstalt“ wird?
Will man endlich die Eisenbahn mit ihrem Vorgänger vergleichen, dann finden wir als solchen nicht einen Gutshof, sondern eine Landstraße. Die war aber nicht nur ebenso wie die Eisenbahn jedermann zugänglich, sondern zumeist auch ohne Entgelt. Wo steckt hier also die Entwicklung von privatem Eigentum zu öffentlicher Anstalt?
Weil die Eisenbahnen die Nachfolger der Landstraßen sind, bildet das Eigentum an ihnen auch einen Ausnahmsfall insofern, als sie von jeher, und nicht erst seit 1878, selbst unter der manchesterlichsten Regierung durch Staatsgesetz geregelte Monopole darstellten, die ihre Tarife und Fahrplane auch als Privatanstalten nicht nach Belieben einrichten dürfen.
Das gilt natürlich weder für den Flickschuster noch für den
Gutsbesitzer. Deren privates Eigentum zeigte in der Zeit des Friedens
nicht die mindeste Tendenz, sich zu „sozialisieren“.
Doch Renner weiß noch ein anderes Argument, um die Sozialisierung des Eigentums zu beweisen. Von der Landwirtschaft sagt er (S. 70):
“Was den Prozess der Durchstaatlichung und Sozialisierung der Landwirtschaft betrifft, so ist er weit vorgeschritten. Die staatlichen Agrarzölle haben der Landwirtschaft ganz veränderte Betriebsbedingungen geschaffen. Die staatliche Agrikulturverwaltung bestimmt im Wege der Genossenschaftsforderung den Kunstdünger und seine Verwendung, das Saatgut (Samenzuchtstationen), die Viehrassen, die Ernteverwertung (Absatzgenossenschaften). Durch eine Fülle von Einrichtungen sind alle Elemente einer direkt sozialistischen Leitung des Ackerbaues und der Viehzucht schon heute vorgebildet.
Der Sozialisierungsprozess schlagt indessen hier Bahnen ein, die bisher von der Schule Marx’ noch nicht durchschaut sind. Auch hier muss ich mich auf wenige Andeutungen beschränken.
Ich nehme einen mittleren Landwirt auf rentenarmen Boden. Im Verkauf seiner Ernte, die er selbst mit seinen mithelfenden Familiengliedern gewonnen hat, realisiert er:
Im Durchschnitt der Falle hat er folgende Leistungen vom Erlös zu bestreiten:
Die Sozialisierung schlagt hier einen besonderen Weg ein: Nicht das Eigentumsstück wird körperlich konzentriert, sondern die Eigentumsfunktion wird gespalten und jede Teilfunktion wird gesondert sozialisiert. Das Eigentumsobjekt bleibt als bloßer Arbeitsgegenstand in der Hand des Landwirtes zurück.“
Rentier wird nicht behaupten wollen, diese Erscheinungen seien für die „Schule Marx’“ etwas ganz Neues; sie habe noch nie etwas davon gehört, dass die Bauern Steuern und Zinsen für geliehene Kapitalien zu zahlen haben. Aber freilich, die „Schule Marx’“ hat nicht „durchschaut“, dass hier ein „Sozialisierungsprozess“ vorliegt, und darin liegt eins ihrer unzähligen Versäumnisse.
Leider überlasst Renner auch hier der „geläuterten“ „Schule Marx’“ der Zukunft die theoretische Begründung dieses Prozesses. Er beschrankt sich auf einige Andeutungen, in denen er nicht viel mehr tut, als das bereits Gesagte mit anderen Worten zu wiederholen. Er fahrt fort:
„Irrtümlich ist in ihrer Allgemeinheit die Voraussage, dass das große Grundstück das kleinere sich einverleibt. Die Realität bleibt getrennt, aber der Inhaber derselben wird mit den Teilfunktionen des Eigentums in Staat, Körperschaft und Genossenschaft einverleibt oder sozialisiert: 1. Agrarbehörde und Genossenschaft nehmen teil an der Betriebsleitung; 2. Hypothekenanstalten haben teil an der Grundrente; 3. die Kreditorganisation an dem Kapitalzins; 4. der Staat an dem Unternehmergewinn und selbst am Lohn. Ein Eigentümer und ein Eigentumsstück wird in eine vierfache Gemeinschaft einbezogen, nach vier Richtungen sozialisiert.
Der Fehler der bisheriges Betrachtungsweise liegt darin, dass das Eigentum rein körperlich genommen wird und nicht ökonomisch als soziale Funktionen, deren jede auf getrenntem Wege der Sozialisierung zustrebt.
Im Verkennen dieses Umstandes liegen alle Missverständnisse der bisherige Doktrin und zugleich die Todsünde gegen die Marxsche Methode.“
Wir erfahren wieder nicht, wessen „bisherige Betrachtungsweise“ und „Doktrin“ hier gemeint ist. Wir müssen uns mit ihrer allgemeinen Verdammung als „Todsünde gegen die Marxsche Methode“ begnügen. Wenn es aber eine Todsünde gegen die Marxsche Methode gibt, ist es das wahllose Zusammenwerfen der verschiedensten Dinge in einen Topf. Und das wird von Renner hier reichlich geübt.
Was hat der „staatliche Agrarzoll“ mit den anderen hier aufgezählten Faktoren und was hat er mit der Sozialisierung des Grundeigentums zu tun? Wie weit musste diese Sozialisierung in England schon im 18. und dann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgeschritten sein, als dort die Kornzölle in Kraft waren!
Richtig ist es, dass die landwirtschaftlichen Genossenschaften anfangen, auf die Betriebsführung ihrer Mitglieder Einfluss zu nehmen, aber es ist eine kolossale Übertreibung, in diesen schwachen Ansätzen schon die entwickelten „Elemente einer direkt sozialistischen Leitung des Ackerbaues und der Viehzucht“ zu sehen. Und noch übertriebener, wenn Renner ein Eingreifen der „staatlichen Agrikulturverwaltung“ in die bäuerliche Betriebsleitung aus der bloßen Tatsache konstruiert, dass der Staat „Genossenschaften fordert“.
Nun aber gar die „Sozialisierung“ des bäuerlichen Eigentums durch Verschuldung und Steuerdruck. Diese Art Sozialisierung ist so alt wie die geschriebene Geschichte selbst.
Wir finden sie bei den alten Juden, Griechen, Römern. Und worin soll der Fortschritt zur Sozialisierung in den letzten Jahrzehnten bestehen, der „von der Schule Marx“ noch nicht durchschaut wurde“? In der Vermehrung der Schulden und Steuern?
Renner nimmt bei seinem Beispiel in der Tat eine so hochgradige Verschuldung und Steuerlast an, dass dem Bauern nicht einmal der Lohn für seine Arbeit bleibt. Er sagt, aus dem Erlös seiner Erde, der in Grundrente, Kapitalzins, Unternehmergewinn und Arbeitslohn zerfallt, habe er außer Schuldenzinsen zu bestreiten:
„Die Steuern, die aus dem schmalen Unternehmergewinn, wenn nicht aus eigener Arbeit gezahlt werden.“
Mit dem Ausdruck „eigene Arbeit“ will Renner den Arbeitslohn bezeichnen oder genauer jenen Anteil am Erlös der Ernte, den der Bauer sich als Arbeitslohn rechnen kann. Es scheint nur ein schiefer Ausdruck hier vorzuliegen. Aber wir finden hier mehr: eine Quelle, der ein sachlicher Irrtum entspringt.
Die Rennersche Argumentation wird tatsächlich nur erklärlich, wenn wir annehmen, bloß der Betrag des Arbeitslohnes sei der Ertrag „eigener Arbeit“ des Bauern, Grundrente und Profit dagegen der Ertrag des Grundeigentums und des Betriebskapitals, ganz so wie die bürgerliche Vulgärökonomie vermeint. Hat der Landmann Zinsen und Steuern aus Grundrente und Profit zu zahlen, so wird ihm damit nicht der Ertrag seiner Arbeit genommen, sondern die „Funktion“ seines Eigentums. Dieses wird „sozialisiert“, der Bauer selbst in eine „Gemeinschaft einbezogen“.
Marx nannte die Tatsache, dass dem Arbeiter von dem Wert seines Produkts bloß der Arbeitslohn verbleibt und der übrige Wert, der Mehrwert, von anderen eingesackt wird, die Ausbeutung des Arbeiters. Ganz derselben Erscheinung verleiht Renner den schonen Namen Sozialisierung des Eigentums und Einbeziehung in eine Gemeinschaft. Nichts, gar nichts hat sich an dem Vorgang geändert und doch scheint er durch die neuen Namen in sein Gegenteil verkehrt, dank der Verwechslung von Arbeitslohn mit Produkt eigener Arbeit.
Worin äußert sich der steigende Gegensatz zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem privaten Eigentum an Produktionsmitteln? Zunächst darin, dass die Zahl der Arbeiter steigt, die ihre Produktionsmittel nicht besitzen und daher von den Besitzern der Produktionsmittel ausgebeutet werden. Diese Seite des Privateigentums an den Produktionsmitteln ist in dem Beispiel Renners völlig ausgelöscht. Als Beleg für die Tendenzen des kapitalistischen Eigentums nimmt er eine Bauernfamilie, die auf eigenem Boden ohne Lohnarbeiter wirtschaftet – also einen vorkapitalistischen Typus.
Die andere Seite des modernen Privateigentums an den Produktionsmitteln besteht aber darin, dass die Machtstellung der Besitzer dieses Eigentums nicht nur gegenüber den Lohnarbeitern, sondern auch gegenüber der Gesamtgesellschaft, den „Konsumenten“, wachst. Das gilt für das Grundeigentum noch mehr als für jede andere Art Eigentum. Es ist nicht vermehrbar, seine Besitzer bekommen immer mehr der Gesellschaft gegenüber eine Monopolstellung, die sich im Wachstum der Preise der Lebensmittel aufs deutlichste äußert, was das gerade Gegenteil der „Sozialisierung“, der Unterordnung des Eigentums unter die Gesellschaft, bedeutet. Will Renner behaupten, dass die Lebensmittelpreise sinken? Und hat ihm gerade der Krieg in Bezug auf die steigende Macht der Konsumenten über die Produzenten eine „Erhellung“ gebracht?
Und was andern die von Renner „angedeuteten“ Faktoren an der Machtstellung des Grundeigentums gegenüber den Arbeitern und Konsumenten? Seine Schuldenzinsen und Steuern rechnet der Landwirt als „Produktionskosten“. Sie bestimmen freilich nicht den Preis seiner Produkte auf dem Weltmarkt, aber immerhin, je hoher seine Schulden und Steuern, desto starker der Antrieb für ihn, die Preise seiner Produkte zu erhöhen. Ermäßigend auf diese Preise wirken sie gewiss nicht. Ebensowenig wird die Machtstellung des Landwirtes gegenüber dem Publikum, der Gesellschaft, verringert dadurch, dass er sich mit anderen Grundbesitzern in einer Genossenschaft zusammentut. Im Gegenteil, sie wird dadurch verstärkt. Und in gleicher Richtung wirken die Agrarzölle.
Wo ist denn in alledem auch nur die leiseste Spur von Sozialisierung des Grundeigentums zu finden ? Die kapitalistische Entwicklung führt vielmehr zu seiner wachsenden Monopolisierung heute wie in den Tagen der Abfassung des Kapitals.
Die Sache wird für Renner nicht besser dadurch, dass er sie „aufhellt“, durch höchst dunkle Andeutungen, die wir schon oben zitiert haben, darüber, dass wir Marxisten das Eigentum bisher „rein körperlich“ genommen haben, nicht als „soziale Funktion“:
„In Verkennen dieses Umstandes liegen alle Missverständnisse der bisherigen Doktrin und zugleich die Todsünde gegen die Marxsche Methode.“
Als „Todsünder“ gegen den Marxismus putzt uns Renner hier herunter, unmittelbar nachdem er sich das groteske „Missverständnis der bisherigen Doktrin“ zuschulden kommen ließ, den Lohn des Arbeiters dem Produkt seiner Arbeit gleichzusetzen und so die größte Todsünde gegen die Marxsche Methode zu begehen.
Was wird am Wesen der kapitalistischen Ausbeutung geändert, wenn wir ihre Erscheinungsformen, Grundrente, Profit, Zins nicht „rein körperlich“ als Produkte der Arbeit, sondern als „soziale Funktionen des Eigentums“ bezeichnen?
Schließlich scheint Renner zu glauben, der Fortschritt der Sozialisierung der sozialen Funktionen des Eigentums seit Marx bestehe darin, dass der Bauer nicht mehr vom vereinzelten Wucherer ausgebeutet wird, sondern seine Zinsen an Gesellschaften von Kapitalisten zu zahlen hat. Er deduziert:
„Der Inhaber des Grundstückes wird mit den Teilfunktionen des Eigentums in Staat, Körperschaft und Genossenschaft einverleibt oder sozialisiert.“
Renner wird natürlich nicht sagen können, dass der Bauer, wenn er einem einzelnen Wucherer Zinsen zahlt, diesem dadurch „einverleibt oder sozialisiert wird“. Er scheint also wirklich zu glauben, wenn die Wucherer nicht vereinzelt bleiben, sondern sich zu einer Wuchergesellschaft zusammentun, so sei das ein Schritt in der Richtung, die Macht der Gesamtgesellschaft über das Eigentum zu vermehren und die Macht des Privateigentums an den Produktionsmitteln zu schwächen.
Es steht im Einklang mit dieser Auffassung, wenn Renner das Überhandnehmen des Aktienwesens und die Beherrschung der Industrie durch die Banken für eine Nationalisierung des Kapitals erklärt.
Auch das gehört zu den Erscheinungen, die erst seit Marx
eingetreten sind, die wir Marxisten hatten sehen müssen, aber nicht
gesehen haben.
Als Marx die kapitalistische Produktionsweise untersuchte, erzählt uns Renner, da wurde sie noch von Einzelkapitalisten beherrscht. Seitdem ist das Aktienwesen groß geworden:
„Das alte Privatkapital des einzelnen ist auf dem Wege vielfacher Organisationen eingegangen in das eine Nationalkapital, über das ganz wenige Großbanken entscheidend verfügen ... Die Privatwirtschaft ist in gewissem Sinne Nationalwirtschaft geworden ... Der Prozess der Nationalisierung des Kapitals mit seinen vielfältigen, höchst interessanten und gewichtigen Erscheinungen ist von uns Marxisten bisher kaum zur Not untersucht.“ (S. 17, vergleiche auch S. 88)
Der letzte Satz ist vollkommen richtig. Man untersucht bloß, was man sieht. Wir werden den Prozess der „Nationalisierung des Kapitals“ durch Aktiengesellschaften und Banken auch weiterhin nicht untersuchen, es sei denn, Renner zeigt uns, dass wirklich etwas Derartiges vor sich geht.
Er versucht das zu tun. Bei der Erörterung darüber müssen wir leider zu der „Todsünde gegen die Marxsche Methode“, deren wir uns bereits schuldig gemacht, auch noch die Erbsünde der Marxisten hinzufügen, mit Marx-Zitaten zu operieren. Wird Renner es als mildernden Umstand gelten lassen, dass er die lockende Eva ist, die mich verführt hat? Er selbst beruft sich nämlich in diesem Zusammenhange auf Marx. Allerdings zitiert er ihn nicht wörtlich. Aber sollte gerade das verboten sein?
Renner untersucht im vierten Kapitel das „Kapitaleigentum“ und zeigt da zunächst die veränderte Daseinsweise des Kapitalisten:
„Der Kapitalist ist zur Zeit des Todes von Karl Marx in dreifacher Gestalt da: der Fabrikant, der Kaufmann, der Bankier ... Der Typus des individuell-aktiven Kapitalisten herrscht vor ... Jeder dieser drei Typen Kapitalisten besorgt die Anhäufung von Mehrwert, die Akkumulation. Sie legen ihn meist in der Erweiterung der eigenen Betriebe an. Das Wachstum der Betriebe ist anfänglich an das Wachstum des individuellen Vermögens gebunden ...
Im Konkurrenzkampf unterliegen nun die schwächeren kapitalistischen Betriebe, deren Trümmer von den siegreichen Betrieben aufgenommen werden. Diese sogenannte Kapitalskonzentration ist der Prozess, den Karl Marx vor allem vor Augen hatte, der seine Zeit beherrschte. Die Entwicklung zum Sozialismus wird vorgestellt als ständiges Niederkonkurrieren schwächerer Kapitalisten, bis ein einziger oder wenige Kapitalisten individuell den ganzen Betriebszweig beherrschen, um sodann geduldig auf die Stunde ihrer individuellen Expropriation durch den Sozialismus zu harren.
Nur zum Teil ist es so gekommen. Die zu Lebzeiten von Marx in zweite Linie gestellte Kapitalszentralisation hat der Konzentration den Rang abgelaufen. Karl Marx hat sie richtig, wenn auch nicht erschöpfend beschrieben, er hat ihr jenes Gewicht beigelegt, das sie zu ihrer Zeit hatte. Ihren Vorsprung verdankt sie den letzten Jahrzehnten, und heute ist sie die ausschlaggebende Akkumulationsform, obschon sie in unserer Literatur die gebührende Rolle noch nicht spielt.“ (S. 74 bis 76)
Renner beschreibt nun, wie neu sich bildende Kapitalien vielfach zu klein sind, um von Kapitalisten im eigenen Betrieb verwendet zu werden. Sie werden von ihren Besitzern an fremde Betriebe verliehen.
„Diese Abspaltung vollendet sich in der Aktiengesellschaft. Die Betriebskonzentration kann vor sich gehen ohne Vermögenskonzentration und lasst eine Vielheit von Kapitalisten zurück. Die Kapitalszentralisation hat andere soziale Wirkungen als jene, die Marx von der fortschreitenden Konzentration vorausgesagt hat: der Prozess der Sozialisierung ergreift hier bloß die materielle Seite der Produktion, nicht die persönliche des Kapitals. Die Expropriation zielt nicht mehr auf die Besitzentsetzung weniger kapitalistischer Individuen, sondern auf die Ablösung eines Rechtstitels vieler ...
Der Kapitalist ist als Person hinter der ‚anonymen Unternehmung‘ verschwunden.“ (S. 76, 77)
Die Darstellung der Marxschen Theorie der Kapitalskonzentration und Zentralisation stimmt so halb und halb. Sie stimmt nicht ganz. Renner hat sie offenbar aus dem Kopfe wiederholt, um nicht von Marxschen Zitaten ungebührlich beeinflusst zu werden. Sonst hatte er gemerkt, dass das, was er Konzentration nennt, bei Marx Zentralisation heißt und umgekehrt.
Marx untersucht in seinem Kapital zuerst die Vergrößerung der einzelnen Kapitalien durch Akkumulation, durch „Sparen“ des Kapitalisten, der seinen Betrieb, immer mehr durch reine „Ersparnisse“ vergrößert. Diese Art Vergrößerung der einzelnen kapitalistischen Unternehmungen nennt er die Konzentration des Kapitals, „welche unmittelbar auf der Akkumulation beruht oder vielmehr mit ihr identisch ist“.
Von dieser „Art Konzentration“ unterscheidet er eine andere Art der Vergrößerung eines kapitalistischen Unternehmens:
„Es ist Konzentration bereits gebildeter Kapitale, Aufhebung ihrer individuellen Selbständigkeit, Expropriation von Kapitalist zu Kapitalist, Verwandlung vieler kleineren in wenige größere Kapitale ... Es ist die eigentliche Zentralisation im Unterschied zur Akkumulation und Konzentration.“ (Kapital, I, Volksausgabe, S. 562, 563)
Die Konzentration und Zentralisation bedeuten bei Renner also gerade die Umkehrung der Marxschen Begriffe. Nun hat Renner sicher das Recht, dasjenige, was Marx Zentralisation nennt, Konzentration zu nennen und umgekehrt. Aber er darf sich dabei nicht auf Marx berufen, namentlich dann nicht, wenn er die Marxschen Ausführungen über die Zentralisation für seine eigene Auffassung der Zentralisation, also für etwas ganz anderes, das Marx Konzentration nannte, in Anspruch nimmt.
Wie Renner, bezeichnet auch Marx den Kredit, das Bank- und Aktienwesen als Mittel der Zentralisation der Kapitalien, aber da Marx unter der Zentralisation etwas anderes versteht als Renner, beweist die Übereinstimmung beider im Ausdruck in der Frage des Aktienwesens nur, dass beide sich in der Sache widersprechen. So sagt zum Beispiel Renner:
„Diese Form der Akkumulation in dritter Hand ... die die materiellen Werte vieler Eigner zu einem materiellen Gesamtkapital, dem Bankkapital, vereinigt, ist die schon erwähnte Kapitalszentralisation. Sie geht zunächst nicht über Leichen, wie die Konzentration, sie tragt die wohlwollendste Physiognomie allgemeiner Wirtschaftsförderung: sie sammelt, was klein, verstreut und augenblicklich nutzlos ist, sie belebt, was tot ist.“ (S. 83, 84)
Bei Marx ist es gerade umgekehrt: bei ihm beruht die Konzentration nur auf dem Sparen, sie geht nicht über Leichen, wohl aber die Zentralisation.
„Sie endet stets mit Untergang vieler kleinerer Kapitalisten, deren Kapitale teils in die Hände des Siegers übergehen, teils untergehen.“ (Kapital, Volksausgabe, S. 563)
An anderer Stelle spricht Marx von „der Zentralisation oder Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige“. (S. 690)
Die Zentralisation des Kapitals durch das Kreditwesen, durch Banken und Aktien steht bei Marx zu ihrer Zentralisation auf dem Wege des Expropriierens, die Renner Konzentration tauft, nicht im Gegensatz. Sie ist nur eine besondere Art der Zentralisation und unterstützt die andere Art, durch die „ein Kapitalist viele totschlagt“.
Marx fahrt fort an der oben zitierten Stelle:
„Abgesehen hievon bildet sich mit der kapitalistischen Produktion eine ganz neue Macht, das Kreditwesen, das in seinen Anfangen verstohlen, als bescheidene Beihilfe der Akkumulation sich einschleicht, durch unsichtbare Faden, die über die Oberfläche der Gesellschaft in größeren oder kleineren Massen zersplitterten Geldmittel in die Hände individueller oder assoziierter Kapitalisten zieht, aber bald eine neue und furchtbare Waffe im Konkurrenzkampf wird und sich schließlich in einen ungeheuren sozialen Mechanismus zur Zentralisation (nach Renner müsste man sagen Konzentration) der Kapitale verwandelt.“ (Kapital, I, S. 563, 564.)
Hier sieht die „Physiognomie“ der Vereinigung der zersplitterten Geldmittel durch die Banken weniger „wohlwollend“ aus. Aus der „allgemeinsten Wirtschaftsforderung“ wird bei Marx eine furchtbare Waffe im Kampf der großen Kapitalisten zum Erschlagen der kleinen.
Nun sehen wir aber auch, dass es nicht richtig ist, zu sagen, zu Lebzeiten von Marx sei die Kapitalszentralisation in zweite Linie gestellt gewesen. Kredit und Aktienwesen spielen bei Marx schon die größe Rolle.
Man höre nur, wie Marx zum Beispiel im dritten Bande des Kapital die Entwicklung unter dem Einfluss des Kredits schildert. Er sagt über ihn:
„Vorstellungen, die auf einer minder entwickelten Stufe der kapitalistischen Produktion noch einen Sinn haben, werden hier völlig sinnlos. Das Gelingen und das Misslingen führen hier gleichzeitig zur Zentralisation der Kapitale und daher zur Expropriation auf der enormsten Stufenleiter. Die Expropriation erstreckt sich hier von den unmittelbaren Produzenten auf die kleineren und mittleren Kapitalisten selbst. Diese Expropriation ist der Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktionsweise, ihre Durchführung ist ihr Ziel ... Diese Expropriation stellt sich aber innerhalb des kapitalistischen Systems selbst in gegensätzlicher Gestalt dar, als Aneignung des gesellschaftlichen Eigentums durch wenige, und der Kredit gibt diesen wenigen immer mehr den Charakter eines Glücksritters. Da das Eigentum hier in der Form der Aktie existiert, wird seine Bewegung und Übertragung reines Resultat des Börsenspieles, wo die kleinen Fische von den Haifischen und die Schafe von den Börsenwölfen verschlungen werden. In dem Aktienwesen existiert schon Gegensatz gegen die alte Form, worin gesellschaftliches Privateigentum als individuelles Eigentum erscheint; aber die Verwandlung in die Form der Aktie bleibt selbst noch befangen in den kapitalistischen Schranken; statt daher den Gegensatz zwischen dem Charakter des Reichtums als gesellschaftlichem und als Privateigentum zu überwinden, bildet sie ihn nur in neuer Gestalt aus.“ (Kapital, III, 1, S. 427)
Man sieht, wie unrichtig es ist, wenn Renner meint, mit dem Aktienwesen habe der „Sozialisierungsprozess einen eingeschlagen, von dem Marx noch sehr wenig sehen und aussagen konnte“. (Marxismus, Krieg etc., S. 16)
Marx hat ihn schon eingehend untersucht, aber von der Nationalisierung des Kapitals, von der Ersetzung der Privatwirtschaft durch Nationalwirtschaft sah er freilich nichts.
„Dieser Zustand war Marx“ gewiss „ganz fremd“, aber nicht deshalb, weil Marx von den Tatsachen, auf die Renner sich bezieht, nichts wusste, sondern deshalb, weil er diese Tatsachen nicht mit Rennerschen Augen sah.
Falsch ist es auch, wenn Renner behauptet, dass infolge des Aktienwesens „der Kapitalist als Person hinter der anonymen Unternehmung verschwunden ist“ (S. 77), dass der „Kapitalist und typische Repräsentant des heutigen Kapitalismus der nach außen ganz untäige Privatmann ist, der in seinem Schrein Aktien etc. birgt“. (S. 89)
Der Zahl nach nimmt freilich der Typus des „ganz untätigen Privatmannes“ unter den Kapitalbesitzern zu, aber das ist nur eine andere Form des Marxschen Gesetzes von der „beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren“. (Kapital, Volksausgabe, S. 690)
Diese Magnaten hören nicht auf zu existieren und zu herrschen. Die Macht und das Herrschaftsgebiet eines jeden von ihnen wachst immer mehr, nicht nur dadurch, dass die kleinen Unternehmungen im Konkurrenzkampf zugrunde gehen, sondern auch dadurch, dass die Einzelunternehmer ihre Betriebe in Aktienunternehmungen verwandeln, deren Aktien vielen kleinen „ganz untätigen Privatleuten“ gehören, die aber beherrscht werden vom den großen Finanzkapitalisten, den Herren der Banken. Das Aktienwesen ist ein Mittel, die Macht der „Kapitalmagnaten“, die alle Vorteile des modernen Kapitalismus an sich reißen und monopolisieren, noch rascher steigen zu lassen, als der Umfang ihres eigenen Besitzes wachst, da sie über den Aktienbesitz der „ganz untätigen Privatleute“ in den Konkurrenz- und Machtkämpfen der riesenhaften Kapitalsorganisationen ebenso verfügen wie über ihren eigenen Besitz. Und anderseits wird durch diese Vermehrung ihrer Macht ihre Fähigkeit gesteigert, den eigenen Besitz zu vermehren, entweder auf Kosten der kleinen Aktienbesitzer oder durch Niederkonkurrierung feindlicher Kapitalmagnaten. Unter diesen Umständen wachst ihr Besitz weit rascher, als es ohne Kredit und Aktienwesen der Fall wäre.
Auch hier finden wir wieder, dass das, was Renner mit dem schonen Namen der „Sozialisierung“ oder „Nationalisierung“ des Eigentums (an Grund und Boden oder Kapital) kennzeichnet, in Wirklichkeit die höchste Steigerung der monopolistischen Gewalt des privaten Eigentums, die schärfste Zuspitzung seines Gegensatzes zum gesellschaftlichen Charakter der Arbeit darstellt.
Der Kapitalist als Kapitalmagnat ist so wenig als Person hinter der „anonymen Unternehmung verschwunden“, dass seine Persönlichkeit heute vielmehr immer kraftvoller in Gesellschaft und Politik in den Vordergrund tritt neben Monarchen, Präsidenten und ihren Ministern.
Wohl hat seit dem Tode von Marx diese Entwicklung Formen angenommen, die er nicht in allen Einzelheiten voraussah. Doch bestätigen sie nur seine ganze Auffassung. Sicher verdienen diese neuen Formen unser höchstes Interesse, aber es ist nicht wahr, wenn Renner behauptet, dass diese Umwälzung von den Marxisten zu wenig beachtet worden ist.
Wir alle haben von ihr gehandelt, am eingehendsten Hilferding in seinem Buche über das Finanzkapital. Er hat nicht einen Fragebogen ausgearbeitet, den die anderen Marxisten zu beantworten hatten. Er hat auch nicht einige dem Augenblicksbedürfnis entspringende Einfalle als „vorläufige Antworten“ zu grundlegenden Erkenntnissen zu stempeln versucht, deren Richtigkeit zu erweisen nun die bisher sträflich versäumte Pflicht der anderen Marxisten sei. Er hat die Fragen, die ihm durch die Tatsachen der neueren Entwicklung des Aktien- und Bankwesens vorgelegt wurden, selbst zu lösen getrachtet, und zwar durch gründlichste Erforschung und theoretische Verarbeitung des gesamten modernen Tatsachenmaterials. Die Antworten, die er uns gab, sind nicht vorläufige, sondern für so lange definitive, als nicht neue, gänzlich veränderte Tatsachen oder neue, noch mehr vertiefte Forschungen sie überholen oder korrigieren. Bisher ist nicht einmal ein Versuch dazu gemacht worden. Was in den Rennerschen Ausführungen nicht Missverständnis und verkehrte Auffassung, sondern bessere Einsicht ist, entstammt auch aus keiner anderen Quelle als dem Buche Hilferdings.
Um so auffallender, dass er es mit keinem Worte erwähnt. Er hat nur Augen für das, was die Marxisten seiner Ansicht nach nicht geleistet haben.
Aber freilich, wie konnte er Hilferding erwähnen! Sind doch dessen Ergebnisse den Antworten, deren Begründung Renner wünscht, geradezu entgegengesetzt. Und solche Leistungen sind in seinen Augen offenbar noch schlimmer als bloße Versäumnisse. Sie sind verächtlicher „Vulgärmarxismus“.
Zuletzt aktualisiert am 3. September 2016