Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


VII. Programm und Taktik der österreichischen Sozialdemokratie


§ 34. Die Taktik der Sozialdemokratie


Die Sozialdemokratie hat eine doppelte Aufgabe. Sie muss einmal die im Proletariat schlummernden Kräfte erwecken, die potentielle Energie des Proletariats in kinetische umsetzen. Diese Aufgabe vollbringt sie, indem sie das Proletariat zum Klassenbewusstsein erweckt, den dumpfen Groll der Arbeitermassen, den revolutionären Instinkt des ausgebeuteten Volkes zu klarer Erkenntnis der Klassengegensätze gestaltet, die Massen zum zielbewussten Klassenkampfe erzieht. Auf diese Weise wird aus der wirren Masse des Proletariats ein Gesamtkörper mit einheitlichem Gesamtwillen, eine Macht. Die sozialpädagogische Tätigkeit der Sozialdemokratie legt die Grundlagen der Macht des Proletariats.

Die zweite Aufgabe der Sozialdemokratie besteht darin, die durch ihre sozialpädagogische Tätigkeit aus dem Rohstoff des Klasseninstinktes erzeugte Macht im Kampfe der sozialen Kräfte einzusetzen, um Staat und Gesellschaft im Interesse des Proletariats umzugestalten, um schließlich der Arbeiterklasse die politische Macht zu erobern und dadurch die Umwälzung der Gesellschaftsverfassung einzuleiten. Das ist die politische Aufgabe der Sozialdemokratie.

Auf der ersten Stufe der kapitalistischen Entwicklung fallen die sozialpädagogische und die politische Tätigkeit der Sozialdemokratie zusammen. Die Arbeiterklasse bildet erst einen kleinen Teil der Bevölkerung, die Sozialdemokratie einen kleinen Teil der Arbeiterklasse. Hier kennt die Arbeiterpartei keine andere Aufgabe als die Kritik des Klassenstaates und der Klassengesellschaft. Dadurch erzieht die Sozialdemokratie die proletarischen Massen zu revolutionärer Gesinnung, zu zielbewusstem revolutionären Wollen. Durch diese sozialpädagogische Tätigkeit erfüllt sie aber auch ihre politische Aufgabe: die Furcht vor der revolutionären Bewegung des Proletariats zwingt die Herrschenden zu den ersten Zugeständnissen an die Arbeiterklasse.

Auf der zweiten Stufe der kapitalistischen Entwicklung bildet die Arbeiterklasse noch nicht die Mehrheit, wohl aber schon die zahlreichste Klasse der Bevölkerung. Die Sozialdemokratie ist den bürgerlichen Parteien bereits gefährlich geworden. Die bürgerlichen Parteien müssen sich um die Stimmen der Arbeiter bewerben und sie müssen daher, um die Arbeiterwähler nicht an die Sozialdemokratie zu verlieren, einzelne Forderungen der Arbeiterklasse vertreten. Die bürgerlichen Parteien sind keine geschlossene Masse, sondern geschieden durch die Klasseninteressen, die sie vertreten, die Klassenideologien, die sie ausdrücken. Die Sozialdemokratie ist noch nicht stark genug, allein dem Proletariat Zugeständnisse zu erkämpfen; wohl aber ist ihre Macht bereits so groß, dass sie die bürgerlichen Parteien, die im Augenblicke dem Proletariat am feindseligsten gegenüberstehen, von der Herrschaft fernhalten und jenen bürgerlichen Parteien zum Siege verhelfen kann, die die konkreten Tagesforderungen des Proletariats – eine politische Reform, ein Arbeiterschutzgesetz und dergleichen – zu erfüllen willens sind. Die Sozialdemokratie unterstützt daher diese bürgerlichen Parteien bei der parlamentarischen Abstimmung; sie schließt sich mit ihnen zu einer Koalition, einem Block zusammen; sie entschließt sich endlich, mit diesen Parteien gemeinsam eine Regierungsmehrheit zu bilden und ihre Vertreter in die Regierung zu entsenden. So entsteht auf der zweiten Stufe der kapitalistischen Entwicklung die Taktik des politischen Revisionismus aus dem Bestreben, die bereits gewonnene Macht des Proletariats möglichst zweckmäßig, möglichst erfolgreich zu gebrauchen.

Aber die Arbeiterklasse kann diese Politik nicht ertragen. Die Arbeiterklasse steht nicht im Gegensatze zu der oder Jener politischen Partei, sondern zum Klassenstaate, zur kapitalistischen Gesellschaft überhaupt. Die Tatsache der Ausbeutung treibt sie zur Empörung, mag auch der Staat das Los einer einzelnen Arbeiterschichte durch ein Gesetz ein wenig verbessert haben. Der Arbeiter lernt in der Kaserne, in Jedem Amte, in Jedem Gerichte den bürgerlichen Staat als einen Klassenstaat verstehen, mag auch eine demokratische Regierung die Verwaltungspraxis gegenüber den Arbeitern ein wenig gemildert haben. Ein Streik, bei dem junge erregte Menschen sich am heiligen Eigentum vergreifen, lässt den Widerstreit in hellem Lichte sehen; der kapitalistische Klassenstaat kann auf den Schutz des kapitalistischen Eigentums nicht verzichten, die Arbeiterklasse kann es nicht verstehen, dass zerbrochene Fensterscheiben mit Menschenleben gesühnt werden müssen. Wenn die Sozialdemokratie nicht mehr im Gegensatze zu allen Parteien der besitzenden Klassen steht, sondern eine Partei ist wie die anderen auch, sich bald mit der, bald mit Jener politischen Gruppe verbündet, wenn sie gar einen Teil der Regierungsmehrheit bildet, an der Regierung selbst Anteil gewinnt, so behandeln sie auch die Arbeitermassen als den bürgerlichen Parteien wesensgleich, so erscheint sie selbst als eine Institution des kapitalistischen Staates, so wird sie für alles Unrecht, das ein Beamter oder Offizier des Klassenstaates an einem Arbeiter verbricht, für alle Unbill, die die Gesetze des Klassenstaates der Arbeiterklasse zufügen, für alles Elend und alle Ausbeutung, unter der das arbeitende Volk in der kapitalistischen Gesellschaft leidet, mit verantwortlich. Die Entwicklung des revolutionären Instinkts des Proletariats zum klaren Klassenbewusstsein stockt: den bürgerlichen Parteien ist der Wettbewerb um die Arbeiterstimmen erleichtert, da sie ja im Bunde mit der Sozialdemokratie der Arbeiterklasse die oder jene Reform zugestanden haben; breite Massen wenden sich angewidert ab vom politischen Treiben, das ihnen nicht mehr als der große Kampf um das Erbe der Klasse, sondern als kleinlicher Schacher um kleine Teilerfolge für einzelne Interessengruppen erscheint, und sie verfallen völlig in politische Indifferenz; die Besten und Tatkräftigsten aber fallen, da die Sozialdemokratie ihre revolutionäre Gesinnung nicht ausspricht, ihren revolutionären Willen nicht verkörpert, dem Anarchismus und antiparlamentarischen Syndikalismus in die Arme. So verstopft der politische Revisionismus, in dem Bestreben, die Macht der Sozialdemokratie möglichst erfolgbringend zu nutzen, die Quellen, aus denen jene Macht fließt, indem er die Konstituierung des Proletariats als Klasse hemmt. Wie aus den Bedingungen der politischen Aufgabe der Sozialdemokratie, der Aufgabe der Machtnuzung, der politische Revisionismus entsteht, so entsteht aus den Bedingungen der sozialpädagogischen Aufgabe, der Aufgabe der Machtbildung die Tendenz zu intransigenter Taktik. Beide Tendenzen können auf dieser Stufe der kapitalistischen Entwicklung nicht sterben. Der Revisionismus entsteht immer wieder in neuer Form und er wird immer wieder von der Intransigenz besiegt. Im Kampfe der beiden Tendenzen, in der schwankenden Taktik der Partei drückt sich der Widerstreit der Bedingungen der Machtnutzung und der Bedingungen der Machtbildung einer proletarischen Partei im kapitalistischen Staate aus – ein Widerstreit, der im letzten Grunde in der Tatsache wurzelt, dass die Arbeiterklasse im kapitalistischen Klassenstaate leben muss und ihn doch nicht ertragen kann.

Diese Schwierigkeiten werden erst auf der dritten Stufe der kapitalistischen Entwicklung überwunden. Hier bildet das Proletariat bereits die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung. Die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat erscheint den besitzenden Klassen bereits als drohende Gefahr. Die bürgerlichen Parteien schließen sich gegen die Sozialdemokratie eng zusammen; was sie einst trennte, scheint nun gering im Vergleiche zu der Gefahr, die ihren Profiten, ihren Renten und Monopolgewinnen droht. So steht auf der höchsten Stufe der kapitalistischen Entwicklung wiederum wie in ihren Anfängen die Sozialdemokratie im Kampfe gegen die gesamten besitzenden Klassen, gegen die gesamte staatliche Machtorganisation. Hier fallen die politische und die sozialpädagogische Tätigkeit wieder zusammen. Dieses Stadium des Klassenkampfes endet mit der Eroberung der politischen Gewalt durch die Arbeiterklasse. [1]

Wollen wir die taktischen Probleme der österreichischen Sozialdemokratie verstehen, so müssen wir von der Tatsache ausgehen, dass auch Österreich schon die zweite Stufe der kapitalistischen Entwicklung erreicht hat. Alle bürgerlichen Parteien müssen sich bereits um die Stimmen proletarischer Wähler bewerben, sie müssen sich also auch entschließen, einzelne Forderungen der Arbeiterklasse zu vertreten. Die Sozialdemokratie ist im Parlament heute schon eine ansehnliche Macht; sobald sie stark genug ist, durch ihre Abstimmung einer von mehreren miteinander kämpfenden Gruppen der bürgerlichen Parteien die Mehrheit zu verschaffen, steht auch sie vor den schwierigen Problemen, die seit Jahren die französische und italienische Sozialdemokratie so lebhaft bewegen.

Aber ehe noch die neuen Bedingungen des proletarischen Kampfes das Verhältnis der Arbeitermassen zum Staate verändern konnten, haben sie schon das Verhältnis der Sozialdemokratie zu den Machtkämpfen der Nationen umgestaltet. Die erste Gestalt, in die der politische Revisionismus in Österreich sich kleidet, ist die des nationalen Revisionismus. Der nationale Revisionismus ist zwar noch nicht in einer Gruppe innerhalb der Partei verkörpert, aber er ist doch schon wirksam als eine der Willensrichtungen, die im Bewusstsein der einzelnen Vertrauensmänner des österreichischen Proletariats miteinander ringen.

Auf ihrer ersten Entwicklungsstufe hatte die österreichische Sozialdemokratie an den Machtkämpfen der Nationen keinen Teil. Aber je mehr die Macht der Arbeiterpartei wächst, je mehr sie zur Vertreterin aller, also auch der nationalen Interessen der Arbeiterschaft wird, je stärker ihre Vertretung in den parlamentarischen Körperschaften wird, je mehr Verantwortung sie daher auch für die Parteigruppierung und Machtverteilung in diesen Körperschaften trägt, desto mehr wird sie in die nationalen Machtkämpfe hineingezerrt. Sobald dies der Fall ist, sehen die Sozialdemokraten jeder Nation im Kampfe um die nationalen Interessen der von ihnen vertretenen Arbeiterklasse in den bürgerlichen Parteien der eigenen Nation ihre Bundesgenossen, in allen Parteien der anderen Nationen ihre Gegner. Die Sozialdemokraten einer Nation stimmen zunächst bei einer Wahl gegen die Genossen anderer Nationalität, die ihre nationalen Forderungen nicht erfüllen zu können glauben; sie stimmen später mit den bürgerlichen Parteien der eigenen Nation gegen Bürgertum und Arbeiterschaft der nationalen Gegner; sie verbünden sich schließlich mit dem Bürgertum der eigenen Nation, um in einer Gemeinde oder einem Lande gemeinsam zu herrschen, die nationale Minderheit gemeinsam zu beherrschen. Die Bevölkerung scheidet sich im politischen Kampfe nicht mehr in Klassen, die in nationale Gruppen gegliedert sind, sondern in Nationen, die sich aus Klassenparteien zusammensetzen. Der Klassengegensatz scheidet die Parteien innerhalb der Nation, aber die Gemeinschaft des Klasseninteresses und der Klassenideologie verbindet nicht mehr die Klassengenossen aller Nationen.

Eine solche Politik ist nichts als ein Einzelfall der revisionistischen Politik überhaupt. Denn wenn das Wesen der revisionistischen Politik darin besteht, dass die Sozialdemokratie nicht mehr im Gegensatze zum bürgerlichen Staate und zu allen bürgerlichen Parteien verharrt, sondern sich mit einem Teile der bürgerlichen Parteien zu gemeinsamer Beherrschung des bürgerlichen Staates verbündet, so treibt die Politik des nationalen Revisionismus dazu, dass sich die Sozialdemokratie jeder Nation mit den bürgerlichen Parteien ihrer Nationalität zu gemeinsamem Machtkampfe gegen die anderen Nationen, womöglich zu gemeinsamer Herrschaft über die anderen Nationen verbündet.

Der nationale Revisionismus taucht zunächst innerhalb der Sozialdemokratie der ehemals geschichtslosen Nationen auf. Hier knüpft er an den naiven Nationalismus an, der die Stimmungen des Jugendlichen Proletariats dieser Nationen beherrscht hat. Er erstarkt dank der Tatsache, dass die Nationen, die sich immer noch ausschließlich oder überwiegend aus unterdrückten und ausgebeuteten Klassen zusammensetzen, wichtiger nationaler Rechte entbehren. Wenn die Tausende tschechischer Arbeiter, die im deutschen Industriegebiete Arbeit suchen müssen, dort keine Volksschulen für ihre Kinder finden; wenn Städte, in denen die Mehrheit der Bevölkerung der tschechischen Nation angehört, dank dem plutokratischen Gemeindewahlrecht von der deutschen Bourgeoisie beherrscht werden, die den tschechischen Arbeiterkindern Bürgerschulen verweigert; wenn der tschechische Arbeiter in den Ämtern und vor den Gerichten nicht in seiner Sprache sein Recht suchen kann: so ist es selbstverständlich, dass die tchechische Arbeiterpartei für die Befriedigung der nationalen Bedürfnisse des tschechischen Proletariats kämpfen muss. Dadurch gewinnt sie Anteil an den nationalen Machtkämpfen; die Ideologie des nationalen Machtkampfes dringt in die Arbeiterschaft ein. Bald interessiert sich die Sozialdemokratie nicht nur für die nationalen Forderungen des Proletariats, nicht nur für die Volks- und Bürgerschulen, sondern auch für Gymnasien und Universitäten, nicht nur für die Sprache des amtlichen Parteienverkehrs, sondern auch für die innere Amtssprache. Im nationalen Machtkampfe erscheinen die tschechischen bürgerlichen Parteien als die natürlichen Bundesgenossen, alle Parteien anderer Nationalität als die natürlichen Gegner der tschechischen Sozialdemokratie. Und da die nationalen Fragen in Österreich immer auf der Tagesordnung stehen, alle politischen Probleme national gewertet werden, erscheint bald die ganze tschechische Nation als ein einheitlicher politischer Körper, der sich nur gelegentlich in Klassenfraktionen spaltet.

Allmählich dringt der nationale Revisionismus auch in das Proletariat der alten historischen Nationen ein. Er knüpft hier an den unreflektierten Hass des deutschen Arbeiters gegen den fremden Lohndrücker und Streikbrecher an. Er wird vom Nationalismus der bürgerlichen Elemente, insbesondere der einflussreichen Intellektuellen genährt, die sich von der bürgerlichen Demokratie zur proletarischen entwickelt haben. Seine stärkste Triebkraft aber ist die Reaktion gegen die revisionistische Politik der Sozialdemokratie der geschichtslosen Nationen.

Das Erwachen der geschichtslosen Nationen äußert sich im politischen Leben in fortwährendem Wachstum der Macht dieser Völker. Vom proletarischen Standpunkte gesehen, ist diese Erscheinung keineswegs beklagenswert. Denn die Nationen, denen die herrschenden Klassen nicht angehören, sind nur so lange kulturlos und machtlos, solange das arbeitende Volk von der Kultur seines Zeitalters ausgeschlossen und im Staate rechtlos ist: im Machtzuwachs der geschichtslosen Nationen spiegelt sich also der soziale und politische Aufstieg der unteren Klassen wieder. Aber naiven und von der Ideologie der nationalen Machtkämpfe beeinflussten Menschen, die alle Erscheinungen anschaulich, nicht begrifflich erfassen, national, nicht sozial werten, ist dieser Zusammenhang nicht verständlich. Machtzuwachs der anderen Nationen erscheint ihnen als Machteinbuße des eigenen Volkes. Und nun sehen die deutschen Arbeiter, dass ihre tschechischen Genossen nicht abseits stehen von den Machtkämpfen der tschechischen Nation, sondern die Machtentfaltung des tschechischen Volkes bewusst fördern. Müssen die deutschen Arbeiter dadurch nicht angeregt werden, ein Gleiches zu tun? Müssen sie sich nicht entschließen, in den nationalen Machtkämpfen auf deutscher Seite mitzukämpfen, sich mit den deutschen bürgerlichen Parteien zur Verteidigung des nationalen Besitzstandes des deutschen Volkes zu verbünden?

Bei allen Nationen werden endlich die revisionistischen Bestrebungen durch den Einfluss der bürgerlichen Ideologie gestärkt. Die herrschenden Ideen jeder Zeit sind ja die Ideen der herrschenden Klassen. Auch das Proletariat kann sich der Macht der nationalen Ideologie des Bürgertums nicht entziehen. Diese Tatsache wissen die bürgerlichen Parteien wohl auszunützen. Sie versuchen es, die durch den bürgerlichen Nationalismus bestimmten Teile des Proletariats vom Klassenkampfe fernzuhalten, indem sie die Sozialdemokratie der Gleichgültigkeit gegenüber den Schicksalen der Nation, des nationalen Verrates zeihen. Diese Anklage ist das gefährlichste Kampfmittel der besitzenden Klassen im politischen Klassenkampfe gegen das Proletariat. Können wir den besitzenden Klassen nicht ihre wuchtigste Waffe entwinden, wenn wir uns zur Teilnahme an den nationalen Machtkämpfen entschließen: Dient die Taktik des nationalen Revisionismus auf diese Weise nicht der wichtigsten Aufgabe der Sozialdemokratie, der Loslösung der Arbeiterschaft von allen bürgerlichen Parteien, der Konstituierung des Proletariats als Klasse?

Aber ebenso notwendig, wie der nationale Revisionismus aus den politischen Machtverhältnissen in Österreich hervorgeht, ebenso notwendig entstehen auch die Gegentendenzen, die ihn bekämpfen. Denn die revisionistische Taktik gefährdet die Macht des Proletariats.

Zunächst zerstört der nationale Revisionismus die Einheit der Partei. Wenn die deutschen Genossen so gut wie die tschechischen sich an den Machtkämpfen ihrer Nation beteiligen, mit den bürgerlichen Gegnern der eigenen Nationalität gegen die nationalen Gegner kooperieren, auf dem nationalen Kampffelde unabhängig voneinander, nicht selten gegeneinander vorgehen, dann haben deutsche und tschechische Sozialdemokraten nicht mehr im Rahmen einer Partei Raum. Die Spaltung der Partei in selbständige nationale Arbeiterparteien bedeutet aber eine beträchtliche Machteinbuße der Arbeiterklasse. Das große Ansehen der österreichischen Sozialdemokratie beruht zu nicht geringem Teile auf der Tatsache, dass sie die nationalen Schwierigkeiten zu überwinden wusste, an denen alle bürgerlichen Parteien gescheitert sind. Ihre Macht beruht nicht am wenigsten auf dem einheitlichen Aufmarsche der Proletarier aller Nationen, auf der Tatsache, dass sie den bürgerlichen Parteien aller Nationen jederzeit die Arbeiter derselben Nationalität gegenüberstellen kann. Vergessen wir nicht, dass wir die deutschen Wahlrechtsfeinde in Wien und Graz, in Brünn und Reichenberg, die tschechischen Wahlrechtsfeinde in Prag, die italienischen in Triest besiegt haben! Man glaube ja nicht, dass auch selbständige nationale Parteien sich zu einer geschlossenen einheitlichen Aktion verbinden können! In Österreich gewinnt ja jede politische, jede wirtschafts- und sozialpolitische Frage auch nationale Bedeutung. Hätte eine tschechische Sozialdemokratie, die völlig von den Stimmungen und Gedanken der nationalen Machtkämpfe des Bürgertums beherrscht wäre, im Kampfe um die Wahlreform, die von der tschechischen Nation so manches nationale Opfer forderte, ihre Pflicht erfüllen können?

Aber der nationale Revisionismus zerstört nicht nur die Einheit der Partei, sondern auch, wie wir bereits wissen, die Einheit der Gewerkschaftsbewegung, wahrscheinlich auch die der Genossenschaftsbewegung. Wenn die nationalen Revisionisten innerhalb der deutschen Sozialdemokratie in Österreich die gewerkschaftszerstörende Politik der tschechischen Genossen beklagen, so bekämpfen sie die notwendigen Konsequenzen ihrer eigenen Politik! Indem der nationale Revisionismus den wirtschaftlichen Kampf des Proletariats in Formen zwängt, die seinen Kampfbedingungen nicht angemessen sind, mindert er die wirtschaftliche Macht der Arbeiterklasse, legt er ihr schwere wirtschaftliche Opfer auf.

Aber der nationale Revisionismus erschwert nicht nur die zweckmäßige Nutzung der schon erkämpften Macht des Proletariats, er hemmt auch den Prozess weiterer Machtbildung,

Die Erscheinungen der nationalen Entwicklung führen kein selbständiges Leben abseits von der sozialen und politischen Entwicklung, sondern sie drücken die Entwicklung des Staates und der Gesellschaft inbesonderer Gestalt aus. Wenn die Sozialdemokratie die nationalen Erscheinungen vom Standpunkte der nationalen Machtkämpfe beurteilen will, wird sie nicht selten mit ihren eigenen sozialen und politischen Forderungen in Widerspruch geraten.

Demokratie ist Mehrheitsherrschaft. Wie sollen wir entscheiden, wo auf dem Vorrechte der Minderheit die Macht unserer Nation beruht?

Das Proletariat bekämpft alle Plutokratie. Wie sollen wir entscheiden, wo sich die Macht unserer Nation auf das Vorrecht des Großgrundbesitzes und der Bourgeoisie stützt?

Die Arbeiterklasse verurteilt eine Rechtsordnung, die in der Macht des Menschen über den Boden die Herrschaft des Grundeigentümers über den Landlosen verhüllt. Wie sollen wir die Herrschaft der unserer Nation angehörenden bodenständigen Bevölkerung über den fremden Einwanderer berurteilen?

Der Fortschritt der Arbeiterklasse Jeder Nation ist durch die Entwicklung des Proletariats der anderen Nationen bedingt. Sollen wir die kulturelle Entwicklung der Arbeiter anderer Nationen fördern oder als Machteinbuße unserer Nation bekämpfen?

Das Proletariat verurteilt „die Vorrechte der Nationen ebenso wie die der Geburt und des Geschlechtes, des Besitzes und der Abstammung“. Aber das letzte Ziel aller nationalen Machtkämpfe ist Erhaltung oder Eroberung der Herrschaft unserer Nation über die anderen Völker.

So gerät die Sozialdemokratie durch die revisionistische Taktik in eine eigentümliche Lage. Sie nimmt an den nationalen Machtkämpfen teil, aber sie kann im nationalen Machtkampfe niemals so weit gehen wie die bürgerlichen Parteien, die Ja auf dem Boden wirtschaftlicher Ausbeutung und politischer Unterdrückung stehen und darum auch die nationale Vergewaltigung vertreten können. Verbündet sich die Sozialdemokratie mit bürgerlichen Parteien zur Erkämpfung einer politischen oder sozialen Reform, so erscheint sie immer als die radikalste und tatkräftigste der verbündeten Gruppen, als diejenige, die die anderen vorwärtstreibt; verbinden sich dagegen die Sozialdemokraten einer Nation mit ihren bürgerlichen Volksgenossen zum nationalen Machtkampfe, so erscheint die Sozialdemokratie als die gemäßigteste der koalierten Parteien. Die bürgerlichen Parteien erscheinen radikaler als sie, können jede ihre Forderungen übertrumpfen. Die Sozialdemokratie will unter ihrem Banner die revolutionäre Klasse unserer Gesellschaft, die Klasse mit den „radikalen Ketten“ sammeln; entspricht es ihrer historischen Stellung, in den wichtigen Fragen, die das politische Leben fast stets beherrschen, fast vollständig erfüllen, als eine Partei zu erscheinen wie die anderen auch, von den anderen Parteien nur durch ihre Mäßigung und Besonnenheit unterschieden:

Unterscheidet sich aber unsere Nationalitätenpolitik von der des Bürgertums nur noch durch den Grad der Mässigung, dann besteht zwischen uns und den nationalen Parteien kein qualitativer Unterschied mehr, sondern nur noch ein quantitativer; dann wird es im konkreten Einzelfalle immer fraglich erscheinen, wie weit wir im nationalen Machtkampfe dem Bürgertum Gefolgschaft leisten dürfen, wo sich unsere Wege von denen der bürgerlichen Nationalisten trennen. So führt der nationale Revisionismus zu schwankender, unsicherer, ängstlicher Taktik, zu einer Kampfesweise, die am allerwenigsten der Massenpartei geziemt, die ausgezogen ist, den Ausgebeuteten und Enterbten die Schätze der Welt zu erobern.

So erscheint der nationale Revisionismus der Partei verderblich. Es tritt ihm notwendig das Streben nach einer prinzipiellen internationalen Taktik gegenüber, nach einer Kampfesweise, die die proletarischen Massen von den nationalen Machtkämpfen fernhält, ohne darum der Entscheidung nationaler Fragen auszuweichen, die vielmehr den nationalen Machtkämpfen des Bürgertums die Grundsätze des sozialdemokratischen Nationalitätenprogramms entgegengesetzt und dadurch allmählich die Forderungen unseres Programms zum gesicherten Besitztum der Massen macht.

Steht zum Beispiel die Forderung des tschechischen Bürgertums nach der tschechischen inneren Amtssprache in Frage, so werden deutsche und tschechische Sozialdemokraten zeigen, dass von der Beantwortung dieser Frage weder die äußere Größe noch die kulturelle Entwicklung der beiden Nationen abhängt, dass der Kampf um die innere Amtssprache die Interessen der Arbeiterklasse nicht berührt, sondern nur die Konkurrenzkämpfe innerhalb der Intelligenz verhüllt, dass die bürokratische Verwaltung, welcher Sprache immer sie sich bedienen mag, für die Arbeiterklasse eine Fremdherrschaft darstellt und nur die Ersetzung der bürokratischen Verwaltung durch die demokratische Selbstverwaltung die nationalen Probleme zu lösen vermag.

Steht die Forderung des deutschen Bürgertums nach der nationalen Abgrenzung der Verwaltungsgebiete und Gerichtssprengel in Böhmen auf der Tagesordnung, so werden die tschechischen Sozialdemokraten dem tschechischen Bürgertum gegenübertreten; sie werden dem albernen Vorwurf der Landeszerreißung mit der weit schwereren Anklage der Nationszerreißung begegnen, sie werden zeigen, dass die rechtliche Abgrenzung der Sprachgebiete eine notwendige Voraussetzung der nationalen Selbstverwaltung ist. Die deutschen Sozialdemokraten aber werden dem deutschen Bürgertum vorhalten, dass es in Steiermark und Tirol der Minderheit verweigert, was es in Böhmen selbst fordert; sie werden zeigen, dass die nationale Abgrenzung wertlos ist, wenn nicht in den rechtlich geschiedenen Siedlungsgebieten der Nationen die demokratische Lokalverwaltung durchgeführt wird; sie werden fordern, dass die nationale Abgrenzung zur Grundlage nationaler Selbstverwaltung, nicht zum Mittel der Knechtung der nationalen Minderheiten werde.

Wird über die Rechte der nationalen Minderheiten gestritten, so werden deutsche und tschechische Sozialdemokraten dem Bürgertum ihrer Nation vorhalten, dass es kein Recht hat, über die Rechtlosigkeit der eigenen Minderheiten zu klagen, solange es selbst die fremden Minderheiten auf seinem Boden entrechtet. Sie werden das Bürgertum anklagen, das über die Minderung der nationalen Volkszahl infolge des Verlustes der nationalen Minoritäten jammert, aber gleichmütig zusieht, wie das Wachstum der Nation durch die mörderischen Wirkungen der kapitalistischen Ausbeutung gehemmt wird. Sie werden zeigen, dass die Unterdrückung der fremden Zuwanderer der Herrschaft der Grundeigentümer über die Landlosen entspringt, während das Proletariat jeder Nation durch den Fortschritt der Arbeiterklasse der anderen Nationen gefördert wird. Sie werden endlich beweisen, dass nur die Konstituierung der Nationen als autonomer Körperschaften die schwierige Frage der nationalen Minderheiten friedlich zum Nutzen aller Völker zu lösen vermag.

So werden wir die soziale Wurzel der nationalen Kämpfe aufdecken, indem wir zeigen, dass die besitzenden Klassen ihre Klassenkämpfe und Konkurrenzkämpfe in die Gestalt nationaler Machtkämpfe hüllen. So werden wir den nationalen Gehalt des Klassenkampfes aufzeigen, indem wir beweisen dass nur der Klassenkampf des Proletariats allen Nationen die freie Selbstverwaltung erstreiten, nur der Sozialismus die nationale Kulturgemeinschaft zu verwirklichen, das Nationalitätsprinzip durchzuführen vermag. In der Regel werden wir die Einheit des Proletariats auch durch einmütige Abstimmung bekräftigen können. Sollten aber einmal selbst die tschechischen Genossen mit dem tschechischen, die deutschen Sozialdemokraten mit dem deutschen Bürgertum stimmen, so ist dies der Einheit der proletarischen Bewegung nicht mehr gefährlich, wenn die vorausgehende Erörterung klar gezeigt hat, dass die Unmöglichkeit völlig einheitlicher proletarischer Politik nur der Unerträglichkeit der zentralistisch-atomistischen Staatsverfassung entspringt, dass, was die Proletarier verschiedener Nationalität scheidet, lächerlich gering ist neben der gewaltigen Kluft, die die gesamte Arbeiterklasse von den besitzenden Klassen aller Nationen trennt.

Eine solche Politik vermehrt die Macht des Proletariats: sie sichert die Einheit der Partei, den ungestörten einheitlichen Ausbau der Gewerkschaften und Genossenschaften; sie zwingt die bürgerlichen Parteien zur Stellungnahme zu unserem Nationalitätenprogramm und bereitet dadurch die Durchführung der nationalen Autonomie vor; sie wird den Gedanken, dass das Wachstum und die kulturelle Entwicklung der Nationen viel weniger vom nationalen Gezänk als von politischen, wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen abhängt, zum Besitztum der Massen machen und dadurch manche demokratische und sozialpolitische Reform fördern, der arbeiterfeindlichen Wirtschaftspolitik der Kartellmagnaten, der Agrarier und Zünftler ein schweres Hindernis bereiten.

Die prinzipielle Politik fördert aber auch die Entwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins, legt also die Grundlagen zum künftigen Wachstum der Macht der Arbeiterklasse. Denn nun sind wir nicht mehr eine nationale Partei wie die anderen auch, sondern unsere Nationalitätenpolitik erscheint von der bürgerlichen Nationalitätenpolitik qualitativ, nicht nur quantitativ verschieden. Die prinzipielle Politik ist des Beifalls der Arbeitermassen gewiss; entspricht sie doch der revolutionären Gesinnung des Proletariats. Denn nun sind wir auch auf dem nationalen Kampffelde nicht mehr die gemäßigteste, sondern die radikalste aller Parteien. Denn nur wir können, nur wir wollen jeder Nation die Verbreiterung ihrer Kulturgemeinschaft erkämpfen, nur wir wollen das gesamte Volk der nationalen Kulturgemeinschaft eingliedern, nur wir Jeder Nation politische Einheit und Freiheit sichern.

Wie aber der politische Revisionismus auf der zweiten Stufe der kapitalistischen Entwicklung unausrottbar ist und immer wieder von neuem von der revolutionären intransigenten Taktik besiegt werden muss, so kann auch in Österreich auf dieser Entwicklungsstufe der nationale Revisionismus nicht sterben, solange die nationale Autonomie nicht verwirklicht ist. Der Widerstreit des nationalen Revisionismus und der prinzipiellen internationalen Taktik entspringt der Tatsache, dass die Arbeiterklasse der zentralistisch-atomistischen Staatsverfassung unterworfen ist und sie doch nicht ertragen kann. Es kommt nur darauf an, dass die Vertreter der prinzipiellen Taktik in jedem Augenblick zahlreich und tatkräftig genug sind, um zu verhindern, dass die national-revisionistischen Bestrebungen die Einheit der proletarischen Bewegung zerstören.

Wir können die Einheit der österreichischen Sozialdemokratie nicht sichern, indem wir der Stellungnahme zu den nationalen Fragen ausweichen und die Meinungsverschiedenheiten in unseren Reihen verhüllen. Es gilt vielmehr, durch eine gründliche Diskussion die Meinungen zu klären, die Masse der organisierten Parteigenossen mit den schwebenden Streitfragen vertraut zu machen und sie zur Entscheidung zu berufen. Nur auf diese Weise können wir allmählich zu einer Verständigung der Sozialdemokraten aller Nationen gelangen.

Wir müssen die Lücke unseres Nationalitätenprogramms ausfüllen, indem wir die Konstituierung der nationalen Minderheiten als öffentlich-rechtlicher Körperschaften fordern. Wir müssen zweitens unsere parlamentarischen Vertreter und unsere Parteipresse auf die prinzipielle internationale Taktik verpflichten. Ist die Einheit der Aktion auf diese Weise gesichert, so müssen wir ihr auch unsere politische Organisation anpassen. Wir müssen für die organische Föderation der sozialdemokratischen Organisationen verschiedener Nationalität in den einzelnen Orten, Wahlkreisen und Ländern sorgen: in jedem Orte, Wahlkreis und Land, in dem Organisationen verschiedener Nationalität tätig sind, muss eine Gesamtorganisation bestehen, in der die nationalen Organisationen je nach der Zahl der organisierten Genossen vertreten sind. Die Beschlüsse dieser Gesamtorganisation über die Aktion der Partei bei öffentlichen Wahlen, über Demonstrationen u.s.w. binden alle Parteigenossen ohne Unterschied der Nationalität. Im übrigen bleibt die Autonomie der nationalen Organisationen unangetastet. Endlich muss die einheitliche zentralistische Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung und die internationale Organisation der Konsumvereine gesichert werden. Gelingt es, eine Verständigung auf dieser Grundlage zu erkämpfen, dann ist das Werk vollbracht, das die Parteitage von 1897 und 1899 angebahnt haben, dann ist das österreichische Proletariat zu einem machtvollen Gesamtkörper verschmolzen, der von einem Gesamtwillen beherrscht ist und doch das Wachstum seiner einzelnen nationalen Glieder nicht hemmt, sondern kräftig fördert.

Sollte aber eine solche Verständigung nicht gelingen, sollte wirklich der nationale Revisionismus die Partei in eine Anzahl völlig selbständiger nationaler Arbeiterparteien zerreißen, dann wird diese Spaltung doch nur vorübergehend sein. Sobald die verderblichen Wirkungen der national-revisionistischen Politik sichtbar werden, wird die Gegenbewegung gegen den Revisionismus innerhalb der einzelnen sozialdemokratischen Parteien sehr bald erstarken.

Die Gewerkschaftler werden dieser Gegenbewegung die Kerntruppe stellen. Sie werden sehr bald sehen, dass die Spaltung der Partei auch die Zerreißung der Gewerkschaften herbeiführt. Mit ihnen verbünden sich jene, die, von der revolutionären Gesinnung des Proletariats erfüllt, es nicht ertragen können, dass aus der revolutionären Sozialdemokratie eine nationale Partei wird wie die anderen auch, von den bürgerlichen Parteien durch nichts als durch das Maß staatsmännischer Mäßigung unterschieden. Zu ihnen gesellen sich die Nüchternen, die wohl zu berechnen wissen, dass der nationale Revisionismus nur kleinen Arbeiterschichten nationale Vorteile zu erstreiten vermag, während er die Macht des gesamten Proletariats vermindert und dadurch die kulturelle Entwicklung der ganzen Nation hemmt. Zu ihnen stoßen endlich die Unterrichteten, die die kleinlichen nationalen Kämpfe in Österreich als eine unbeträchtliche Begleiterscheinung des großen sozialen Umwälzungsprozesses begreifen, den alle Kulturnationen unserer Zeit erleben. Die Kraft dieser Richtung wird gestärkt werden durch die allmähliche Entwicklung Österreichs zur nationalen Autonomie, durch die Verschärfung der Klassengegensätze bei der Annäherung an die dritte Stufe der kapitalistischen Entwicklung, endlich auch durch den Einfluss der Gedankenwelt des Proletariats des Auslandes auf die österreichischen Arbeiter; denn würde die österreichische Sozialdemokratie von der Ideologie des nationalen Machtkampfes erfüllt, während in London und Berlin, in Paris und Rom der Gedanke der Internationalität im Kampfe gegen den Imperialismus wachsende Bestimmtheit erhält, dann schlössen wir uns selbst, wenn nicht formell aus der Gesellschaft, so doch geistig aus der Gemeinschaft der proletarischen Internationale aus.

Es ist aber für die österreichische Arbeiterklasse nicht gleichgültig, ob die Einheit der proletarischen Bewegung erhalten werden wird oder ob die Partei und die Gewerkschaften zerfallen und die Wiedervereinigung der nationalen Splitter erst in harten Kämpfen errungen werden muss.

Wir zweifeln nicht daran, dass die überwiegende Mehrheit der organisierten Parteigenossen deutscher Nationalität die Einheit der Partei und der Gewerkschaften will. Mögen diese Genossen bedenken, dass der nationale Revisionismus unvermeidlich zur Spaltung der proletarischen Bewegung führt! Der nationale Revisionismus ist aber in den letzten Jahren auch innerhalb der deutschen Sozialdemokratie in Österreich erstarkt. In einer unsicheren, schwankenden Beurteilung nationaler Fragen in der Parteipresse, in mancher unklaren Redewendung hat er zuerst Ausdruck gefunden. Er hat dann sehr viele Genossen zu der Ansicht bekehrt, dass die Kämpfe der tschechischen Arbeiterschaft um nationale Rechte die deutsche Sozialdemokratie nicht bekümmern; so hat unsere Parteipresse die Kämpfe zunächst ignoriert, einzelne deutsche Genossen sind ihnen auch schon entgegengetreten. Wenn deutsche und tschechische Sozialdemokraten völlig getrennt voneinander marschieren, muss es ganz folgerichtig erscheinen, wenn bei einer öffentlichen Wahl sich die deutsche Minderheit einer Stadt an die Beschlüsse der tschechischen Mehrheit nicht mehr gebunden fühlt, sich von der (gleichgültig, ob taktisch richtigen oder unrichtigen“) Aktion, die die Mehrheit der organisierten Genossen beschlossen hat, ausschließt. Wohin wir auf diesem Wege kommen, hat sich gezeigt, als bei einzelnen Gemeindewahlen die deutschen Arbeiter mit dem deutschen Bürgertum gegen die tschechischen Arbeiter und das tschechische Bürgertum stimmten. Wir müssen solche Erscheinungen begreifen, aber wir können sie nicht billigen. Man sieht: es gibt auch innerhalb der deutschen Sozialdemokratie Genossen, die jene Taktik befolgen, die innerhalb der tschechischen Sozialdemokratie bereits die Überhand erlangt hat. Es handelt sich in der Partei gar nicht um einen Gegensatz zwischen Deutschen und Tschechen, sondern um einen Kampf zwischen national-revisionistischer und prinzipieller internationaler Taktik, der innerhalb Jeder nationalen Gruppe der Sozialdemokratie ausgekämpft werden muss. Wir können die Politik einzelner tschechischer Genossen, die die Partei zerreißt und die Gewerkschaften spaltet, nicht wirksam bekämpfen, wenn wir nicht den nationalen Revisionismus in unseren eigenen Reihen niederringen! Wenn die deutsche Sozialdemokratie die Einheit der Partei und der Gewerkschaften verteidigen will, muss sie der national-revisionistischen Taktik einzelner tschechischer Genossen die prinzipielle internationale Taktik entgegensetzen.

Es mag sein, dass durch diese Politik zunächst manches Mandat gefährdet werden könnte. Aber Mandate sind unnütz, wenn sie nur durch die Minderung der wirtschaftlichen und politischen Macht der Arbeiterklasse erkauft werden können. Des Beifalls der proletarischen Massen darf aber eine Politik gewiss sein, die ihrer revolutionären Gesinnung entspringt, ihre Klasseninteressen fördert, ihre Klassenmoral ausdrückt.

Vor der verleumderischen Kritik jener, die uns der nationalen Gleichgültigkeit, ja des Verrates an den nationalen Interessen beschuldigen, werden wir uns nicht fürchten, wenn wir die historische Aufgabe des proletarischen Klassenkampfes im Entwicklungsprozess der Nation begreifen.

Seit der Auflösung des Sippschaftskommunismus war die Nation geschieden in Nationsgenossen und Hintersassen der Nation, zersetzt in nur locker verbundene enge örtliche Kreise. Erst die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion eint wiederum die ganze Nation zu einer einheitlichen Kulturgemeinschaft. In den Dienst dieser Entwicklung stellen wir uns, indem wir durch den Klassenkampf innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft die nationale Kulturgemeinschaft verbreitern, indem wir schließlich die kapitalistische Hülle der gesellschaftlichen Produktion sprengen und dadurch die einheitliche autonome nationale Erziehungs-, Arbeits- und Kulturgemeinschaft verwirklichen.

Die Herrschaft der Nationsgenossen über die Hintersassen der Nation unterwirft die geschichtslosen Nationen der Fremdherrschaft der historischen Nationen. Auf der Zersetzung der Nation in enge örtliche Kreise beruht die staatliche Spaltung der Nationen, der politische Partikularismus. Erst die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion zeugt das Nationalitätsprinzip, die Forderung, dass die innere Gemeinschaft zum Substrat äußerer Macht werde. In den Dienst dieser Entwicklung stellen wir uns, indem wir schon innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft das Nationalitätsprinzip zur Regel der Staatsverfassung machen, wo es sich noch nicht als Maxime der Staatsbildung durchsetzen kann; wir werden schließlich den endlichen Sieg des Nationalitätsprinzips erkämpfen, indem wir die gesellschaftliche Produktion von ihrer kapitalistischen Form befreien und dadurch jeder Nation das Dasein in einem einheitlichen und freien Gemeinwesen sichern.

So erfüllen wir unsere nationale Aufgabe, indem wir das Proletariat in den Kampf gegen den Klassenstaat und die Klassengesellschaft führen. Die prinzipielle internationale Politik, die eine Forderung des proletarischen Klassenkampfes ist, ist darum auch ein Mittel unserer nationalen Politik. Wir müssen die Proletarier aller Nationen zu einem machtvollen, von einheitlichem Willen beseelten Körper vereinen, um die Schätze unserer nationalen Kultur zum Besitztum der ganzen Nation zu machen, um unserer Nation Einheit und Freiheit zu erkämpfen.

Fußnote

1. Die Unterscheidung der drei Stufen, die die Bedingtheit der Taktik des Proletariats durch die Entwicklungsstufe der kapitalistischen Produktionsweise sehr glücklich schematisiert, entnehmen wir dem ausgezeichneten Artikel Rudolf Hilferdings, Parlamentarismus und Klassenstreik, Neue Zeit, XXIII., 2., S.804ff.

Natürlich wird die Stellung der Sozialdemokratie zum Staate und zu den bürgerlichen Parteien nicht nur durch die Entwicklungsstufe der kapitalistischen Gesellschaft, sondern auch durch andere Faktoren bestimmt, insbesondere durch die Staatsverfassung, der das Proletariat unterworfen ist, und durch die Eigenart der überlieferten politischen Ideologie der Nation. Es wäre gewiss unrichtig, die Eigenart der proletarischen Bewegung eines Landes nur aus einer Komponente restlos erklären zu wollen, aber man kann auf die Auflösung der resultierenden Bewegung in ihre Komponenten nicht verzichten, wenn man nicht auf die wissenschaftliche Untersuchung sozialer Phänomene überhaupt verzichten will.

Im Deutschen Reiche zum Beispiel war die revisionistische Taktik auf der zweiten Stufe nicht möglich, weil sie durch die politische Rechtlosigkeit der Arbeiterklasse verhindert wurde. Heute aber hat Norddeutschland bereits die dritte Stufe erreicht: die Zahl der Arbeiter ist so groß und wächst so schnell, das Klassenbewusstsein der Arbeiter ist so rege, dass jedes politische Zugeständnis an die Arbeiterklasse die Herrschaft der besitzenden Klassen, die Renten der Junker und die Monopolgewinne der Kartellmagnaten ganz unmittelbar bedroht. Die preußischen Arbeiter können keine revisionistische Politik treiben, solange sie nicht an der preußischen Gesetzgebung vollen und gleichen Teil haben’ die besitzenden Klassen können ihnen dies nicht gewähren, weil ein auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes gewählter preußischer Landtag in nicht allzu ferner Zeit eine sozialdemokratische Mehrheit hätte.

Als der politische Revisionismus in Deutschland möglich war, stand die deutsche Arbeiterklasse unter dem Sozialistengesetze; heute ist er nicht mehr möglich, da nicht mehr Einzelforderungen des Proletariats, sondern die Herrschaft über den Staat selbst in Frage steht. Umgekehrt in England: Großbritannien steht wirtschaftlich bereits auf der dritten, politisch aber noch auf der zweiten Stufe; da die Massen der englischen Arbeiter noch bürgerlichen Parteien Gefolgschaft leisten, ist die Klassenherrschaft der besitzenden Klassen nicht gefährdet; es wird nur um einzelne wirtschafts- und sozialpolitische Forderungen des Proletariats gekämpft. Dagegen tragen Frankreich und Italien wirtschaftlich und politisch den Charakter der zweiten Stufe.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008