MIA > Deutsch > Marxisten > Bauer > Die Nationalitätenfrage
Das sozialdemokratische Nationalitätenprogramm ist Gemeingut der klassenbewussten Arbeiter aller Nationen. Darum ist es möglich, dass die Arbeiter aller Nationen in Österreich in einer einheitlichen Partei organisiert sind. Trotzdem gliedert sich die internationale Arbeiterpartei in Österreich nicht etwa in örtliche, sondern in nationale Gruppen; die österreichische Sozialdemokratie setzt sich aus der deutschen, tschechischen, polnischen, ruthenischen, südslavischen und italienischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei zusammen. Diese Gliederung wurde nicht etwa von einem Theoretiker ersonnen und vom Wimberger-Parteitag dekretiert; vielmehr musste der Parteitag im Jahre 1897 diese Gliederung durchführen, wollte er verhindern, dass die jungen sozialdemokratischen Parteien der nichtdeutschen Nationen von der bis dahin einheitlichen Partei sich immer schärfer absondern, um von ihr schließlich ganz abzufallen. Das Werk des Wimberger-Parteitages war nicht die Trennung, sondern die organische Föderation der sozialdemokratischen Arbeiterparteien der verschiedenen Nationen.
Wie ist es zu erklären, dass sich die internationale Partei notwendig in nationale Gruppen gliedert: Hier ist zunächst die Vorstellung abzuweisen, dass wir den Arbeitern jeder Nation innerhalb der Partei darum Autonomie gewähren müssen, weil wir die nationale Autonomie im Staate anstreben. Diesem vermeintlichen Beweisgrunde begegnen wir in der Parteidiskussion nicht selten. So begründen zum Beispiel die tschechischen Genossen ihre Forderung, die nationale Autonomie auch in der gewerkschaftlichen Organisation zu verwirklichen, mit dem Hinweis auf das Brünner Programm. Indessen ist dieser Beweisgrund keineswegs zwingend. Denn so verschiedenartige soziale Gebilde wie der Staat, die Partei, die Gewerkschaft erfordern auch verschiedene Grundgesetze der Organisation. Wenn also die internationale Sozialdemokratie in Österreich sich notwendig in nationale Gruppen gliedern musste, so ist dies nicht damit zu erklären, dass die Partei die nationale Autonomie im Staate anstrebt.
Diese Gliederung der Partei ist zunächst darauf zurückzuführen, dass sich die Partei bei der Agitation national verschiedener Mittel bedienen muss. Sie muss zu den Arbeitern jeder Nation in der Versammlung, in der Presse, in der Organisation in ihrer Sprache sprechen. So braucht sie für die Arbeiter jedes Volkes besondere Redner, besondere Oganisatoren, besondere Schriftsteller. Dadurch gliedert sich der Körper der Partei naturgemäß in sprachliche, also national differenzierte Gruppen. Das Organisationsstatut drückt also nur als Regel aus, was im täglichen Leben der Partei unvermeidliche Tatsache ist, wenn es die Partei in nationale Gruppen scheidet.
Weiter! Jede Nation ist in verschiedene politische Parteien geschieden, die die verschiedene soziale Gliederung und kulturelle Entwicklung der Nation ausdrücken. Wenn auch die gesamte Arbeiterklasse mit gleichen Mitteln zu gleichem Ziele strebt, so stehen doch die Arbeiter der verschiedenen Nationen verschiedenen Parteien gegenüber. Dadurch sind den Arbeitern der verschiedenen Nationen auch verschiedene Kampfaufgaben gestellt. Die tschechischen Arbeiter stehen ganz anderen Parteien gegenüber, müssen also auch einen ganz anderen Kampf führen als die deutschen Arbeiter. Wiederum also scheidet sich die Armee des Proletariats tatsächlich im politischen Kampfe in verschiedene Gruppen, je nach der Nationalität der Kämpfenden; wiederum muss das Organisationsstatut die formale Gliederung der tatsächlichen Scheidung anpassen.
Hinter all dem aber birgt sich noch ein tieferer Grund. Der Sozialismus tritt bei jeder Nation, von der er aufgenommen wird, zu den überlieferten Ideologien der Nation in Gegensatz und wird gerade durch den Kampf mit ihnen zur ganzen Geschichte der Nation in Beziehung gesetzt. Daher ist die sozialistische Gedankenwelt der deutschen bei aller Übereinstimmung doch im einzelnen verschieden von der Gedankenwelt der polnischen oder der italienischen Genossen. So entsteht innerhalb jeder Nation eine engere sozialistische Kulturgemeinschaft und dadurch auch eine nationale sozialistische Charaktergemeinschaft, die sich gleich scharf abhebt von der gesamten nationalen Charaktergemeinschaft wie von der gesamten sozialistischen Charaktergesamtheit. Ihren Gedanken, ihren Stimmungen, ihrem Temperament nach sind die Genossen verschiedener Nationalität einander nicht durchaus gleichartig und sie werden daher auch im einzelnen Falle nicht völlig gleichartig entscheiden. Auch daraus ergibt sich wiederum eine tatsächliche Gliederung des proletarischen Heeres. Das Organisationsstatut passt sich nur der tatsächlichen Scheidung an, wenn es die verschiedenen inneren Gemeinschaften innerhalb der Partei als besondere Glieder der Organisation konstituiert.
Wir sehen also, dass die Scheidung der Partei in nationale Gruppen das ihr angemessenes Organisationsprinzip ist, auch wenn Kampfziel und Kampfmittel der Arbeiter aller Nationen identisch sind, wenn Machtkämpfe der Arbeiter der einzelnen Nationen innerhalb der Partei nicht zu befürchten sind.
Indessen ist mit all dem doch erst das formale Prinzip der Gliederung gegeben. Es kommt aber darauf an, welche Funktionen man den einzelnen nationalen Gruppen, welche man der Gesamtpartei zuweist. Als die nationale Gliederung der Partei auf dem Wimberger-Parteitag beschlossen wurde, stellte man sich diese Verteilung der Funktionen zweifellos so vor, dass die österreichische Sozialdemokratie eine einheitliche Partei bleiben sollte, die sich nur in nationale Gruppen gliedert. Die Stellung der einzelnen nationalen Gruppen zur Gesamtpartei wäre darnach grundsätzlich kaum eine wesentlich andere als in den großen Nationalstaaten die Stellung der territorialen Gruppen zur Partei. In den letzten Jahren dringt dagegen allmählich eine andere Auffassung durch. Mehr und mehr erscheinen die sozialdemokratischen Gruppen der einzelnen Nationen als selbständige Parteien, die Gesamtpartei nur als ein Bündnis selbständiger Parteien. Diese Parteien wirken zwar in der Regel zusammen. Wenn aber eine Frage auftaucht, zu der sie verschiedene Stellung nehmen, muss sich nicht etwa die Minderheit der Mehrheit unterordnen, sondern es geht dann jede Partei selbständig vor, sei es auch gegen die Genossen der anderen Nation. Es ist dies die Auffassung, die beispielsweise bei den Brünner Gemeinderatswahlen im Jahre 1905 dazu geführt hat, dass deutsche und tschechische Genossen gegeneinander um die Gemeinderatsmandate kämpften, dass die deutschen Arbeiter mit dem deutschen Bürgertum gegen die tschechischen Arbeiter und das tschechische Bürgertum stimmten. Wer die Entwicklung der österreichischen Partei in den letzten Jahren verfolgt hat, kann nicht daran zweifeln, dass wir vor der Frage stehen: eine einheitliche, national gegliederte Partei oder ein loser Bund selbstständiger nationaler Parteien?
Man könnte leicht meinen, schon der Parteitag von 1897 habe sich für die zweite Eventualität entschieden. In der Tat hat der Parteitag, wenn er wirklich nichts anderes schaffen wollte als „eine geeinigte Partei der österreichischen Sozialdemokratie, welche aus den verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzt ist“, wie dies damals Genosse Němec ausdrückte, seine Aufgabe nicht vollkommen gelöst. Denn der Parteitag sorgte nur für die Föderation der Gesamtpartei; ihr gab er einheitliche Organe: den Gesamtparteitag, die Gesamtvertretung, die ständige Gesamtexekutive. Dagegen unterließ man es, für die Föderation der national geschiedenen Genossen der einzelnen Orte, Wahlkreise, Länder zu sorgen. Indessen hat der nächste Gesamtparteitag im Jahre 1899 beschlossen, auch zu einer organischen Föderation der Genossen der einzelnen Orte und Wahlkreise den ersten Schritt zu tun. Er beschloss:
„In allen Wahlkreisen, wo es die territorialen Verhältnisse nicht ganz unmöglich machen, ist die Organisation der Genossen für öffentliche Wahlen irgendwelcher Art nicht nach nationalen Gruppen getrennt, sondern gemeinschaftlich und einheitlich durchzuführen.“
„Durch die vom Wiener Parteitag 1897 beschlossene Gliederung der sozialdemokratischen Partei nach nationalen Gruppen wurden vollständig neue Formen in der Organisation geschaffen, die deren weiteren Ausbau dringend notwendig machen, um in Fragen von allgemeinem Interesse, besonders dort, wo es sich um politische Angelegenheiten handelt, ein einheitliches, gemeinsames Vorgehen zu sichern. Der Parteitag beschließt daher, dass in allen Landes-, Wahlkreis- und Bezirksorganisationen die nationalen Gruppen gegenseitig vertreten sein müssen, um die politische Organisation gemeinschaftlich und einheitlich durchzuführen.“
Es ist klar, dass einer wirklich einheitlichen Partei auch diese Bestimmungen noch nicht genügen können. Denn auch in diesem Falle verhandeln die Organisationen noch von Macht zu Macht miteinander; eine einheitliche Partei kann nicht (das hat die Geschichte der letzten beiden Jahre wohl deutlich bewiesen) ein dauerndes Organ auch in den einzelnen Wahlkreisen und Orten entbehren, dessen Entscheidung innerhalb der Grenzen seiner Zuständigkeit alle Genossen ohne Rücksicht auf ihre Nationalität bindet. In der Tat wurde bereits auf dem Wiener Parteitag des Jahres 1903 von einer Wiener Wahlkreisorganisation ein Antrag gestellt, der die nationalen Gruppen innerhalb des Wahlkreises enger miteinander verknüpfen wollte. Der Parteitag hat Jedoch diesen Antrag nicht angenommen, sondern sich damit begnügt, an die in Brünn beschlossenen Bestimmungen zu erinnern. So ist die Organisation der österreichischen Sozialdemokratie ein widerspruchsvolles Gebilde: gleichsam in den obersten Spitzen der Partei – im Gesamtparteitag und der Gesamtvertretung – haben wir einheitliche Organe, die mit Stimmenmehrheit Beschlüsse fassen, die die Genossen aller Nationen binden sollen. Im Ort, im Wahlkreis, im Lande dagegen haben wir selbständige nationale Organisationen, die voneinander unabhängig arbeiten, von Macht zu Macht miteinander verhandeln, kein dauerndes gemeinsames Organ haben. Entwickeln wir uns zu einer einheitlichen Partei, dann brauchen wir auch in den Verwaltungssprengeln der Partei gemeinsame Organe, die in gewissen Fragen, die die Gesamtpartei des Ortes oder Wahlkreises angehen, mit Stimmenmehrheit Beschlüsse fassen können, die für alle Genossen des Ortes oder Wahlkreises gelten; entwickeln wir uns dagegen zu einem losen Bund selbständiger nationaler Parteien, dann wird das Mehrheitsprinzip sich auch in der Gesamtvertretung und am Gesamtparteitag wohl schwerlich behaupten. In der Tat ist in der Presse der Vorschlag, die Gesamtparteitage abzuschaffen, bereits aufgetaucht. Wenn man die nationalen Gruppen in getrenntem Erdreich wurzeln, selbständig und ungehemmt emporwachsen lässt, wird man sie wohl auch in den Wipfeln schwerlich dauernd zusammenbinden können.
Indessen wäre es sehr verfehlt, daraus nun zu schließen, die Entwicklung der Partei hänge also davon ab, ob irgend ein künftiger Parteitag die alten Organisationsbestimmungen verbessert oder ergänzt. Umgekehrt: wenn sich die Partei zu geschlossener Einheit der nationalen Gruppen entwickelt, dann wird sie die zweckmäßige Form der Organisation schon zu finden wissen. Wenn aber aus den nationalen Gruppen selbständige Parteien mit selbstständiger Politik werden, dann kann auch das beste Organisationsstatut den Zerfall der Partei nicht verhindern.
Die Entwicklung der österreichischen Sozialdemokratie hängt nicht von ihren Organisationsbestimmungen ab; sie ist auch nicht eine Frage des Programmes, denn im Programm sind – wenn man etwa von gewissen Meinungsverschiedenheiten über die Frage der nationalen Minderheiten absieht, über die aber auch innerhalb jeder nationalen Gruppe nicht alle Genossen einer Meinung sind – die Arbeiter aller Nationen einig. Ob die österreichische Arbeiterpartei eine einheitliche, national gegliederte Partei bleiben oder zu einem losen Bunde selbstständiger nationaler Parteien werden wird, hängt vielmehr davon ab, welche Stellung sie und welche Stellung die einzelnen nationalen Gruppen in ihrem Rahmen auf Grund des gemeinsamen Programmes zu den konkreten nationalen Tagesfragen einnehmen werden, ist also eine Frage der nationalen Taktik. Wenn die österreichische Sozialdemokratie darangeht, ihre Taktik gegenüber den nationalen Machtkämpfen in Österreich zu bestimmen, steht nicht weniger in Frage als die Einheit der Partei.
Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008