Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


VI. Wandlungen des Nationalitätsprinzips


§ 29. Der Imperialismus und das Nationalitätsprinzip


Wir haben bisher gesehen, wie die moderne Expansionspolitik die Klassengegensätze verschärft und wie dies auch in der verschiedenen Stellung der Klassen zum Nationalitätsprinzip zum Ausdruck kommt: die Arbeiterklasse übernimmt das alte bürgerliche Ideal der politischen Selbständigkeit der Nationen, während die Kapitalistenklasse den von einer Nation beherrschten Nationalitätenstaat zu verwirklichen strebt. Aber es verändert nicht nur der Klassenkampf um die äußere Wirtschaftspolitik die Stellungnahme der Klassen zum Nationalitätsprinzip, das Nationalitätsprinzip wird vielmehr selbst zum Mittel des Klassenkampfes.


Das einfachste Beispiel hierfür bietet uns der moderne britische Imperialismus. Der Ausgangspunkt der von Chamberlain geführten imperialistischen Bewegung in Großbritannien ist eine Frage der Zollpolitik. Viele englische Industrien, ganz insbesondere die mächtige Eisen- und Stahlindustrie, sehen sich durch die Entwicklung der Konkurrenzindustrien des Auslandes hinter dem schützenden Damme der Zölle, durch die Exportpolitik der Kartelle und Trusts bedroht. In Zeiten der Depression werden die deutschen Eisen- und Stahlverbände, wird der amerikanische Stahltrust der Industrie von Staffordshire, von Cleveland und Schottland nicht nur auf dem Weltmarkt, sondern auch auf dem britischen Markte selbst gefährlich. So fordern die großen Industrien den Schutzzoll: Er soll sie im Inland gegen den Schleuderexport ihrer ausländischen Konkurrenten schützen, soll ihnen den Zusammenschluss zu Kartellen oder Trusts ermöglichen, soll ihnen die Mittel geben, sich nun selbst der modernen Methoden der Exportförderung zu bedienen. Aber wenn die großen britischen Industrien den Schutzzoll verlangen, so stoßen sie auf starke Gegeninteressen: Auf die Macht der Kapitalisten jener Industrien, deren Roh- und Hilfsstoffe durch die Einfuhr aus dem Ausland verbilligt werden, die daher vom Schutzzoll die Erhöhung ihrer Produktionskosten fürchten; auf die Arbeiterklasse, die fürchtet, der Schutzzoll werde ihre Kleidung und Nahrung verteuern, die Entwicklung von Industrien mit hohem Arbeitsfassungsvermögen zugunsten der Industrien mit höherer organischer Zusammensetzung des Kapitals beeinträchtigen, die Bildung starker Unternehmerorganisationen erleichtern und dadurch den gewerkschaftlichen Kampf erschweren. Zu diesen Interessen gesellt sich die in einem demokratischen Lande schwer zu entwurzelnde Macht der Ideologien; ist doch den Massen des englischen Volkes der Freihandel seit den Tagen der Cobden und Bright zum nationalen Glauben geworden. So stehen auf der einen Seite paar tausend Kapitalisten, auf der anderen die Massen des englischen Volkes. Die Sache des Schutzzolls scheint hoffnungslos.

Da verbündet sich der Gedanke des Schutzzolls mit einer anderen Macht. Die großen, von weißer Bevölkerung bewohnten britischen Kolonien Kanada, Australien, Neuseeland, Südafrika sind selbständige Staaten. Sie sperren sich durch Schutzzölle gegen das Mutterland ab, um ihre eigene junge Industrie zu fördern. Politisch und wirtschaftlich trennen sie sich immer weiter vom Mutterlande. Ist der Tag noch fern, da sie sich völlig von ihm losreißen und das große britische Weltreich zerfällt? Das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit ist zu schwach, sie an das Vereinigte Königreich zu binden; durch Binde des Interesses müssen Mutterland und Kolonien eng verknüpft werden, wenn das britische Reich nicht zerfallen soll. Dazu bietet sich günstige Gelegenheit, wenn England nur den veralteten Freihandel preisgibt. Das Mutterland soll sich mit einer Zollgrenze umgürten und die Erzeugnisse der Landwirtschaft und Viehzucht der Kolonien mit geringerem Zoll belegen, als die konkurrierenden Waren der anderen Staaten; dafür sollen die Kolonien dem Mutterlande Vorzugszölle gewähren. Dieser Plan sichert nicht nur den Landwirten und Viehzüchtern der Kolonien den britischen, der britischen Industrie den kolonialen Markt, er sichert auch dem britischen Weltreich Bestand, er verbürgt den Briten in ihrer Heimat und über See die Dauer nationaler Einheit. Vergebens warnt der nüchterne Balfour vor dem Plane, der nur verwirklicht werden kann, wenn die Arbeiter sich entschließen, für Zölle auf Getreide und Vieh zu stimmen. Chamberlain versteht besser die Möglichkeiten des modernen Schutzzolles: In einem hochentwickelten kapitalistischen Land ist der Übergang vom Freihandel zum Schutzzoll nicht mehr durchzusetzen, solange die Massen nüchtern ihr Interesse berechnen. Es gilt, die Frage nach dem Preise von Brot und Fleisch, von Kleidung und Wohnung verstummen zu lassen. Hier erweist sich nun die Macht des nationalen Gedankens. „Learn to think imperially!“ Vergesset eure kleinlichen Sorgen und denkt an das große Weltreich! ruft Chamberlain den englischen Arbeitern zu. Willigt in ein kleines Opfer, um euer großes Reich, um die politische Einheit eures Volkes vor dem Zerfall zu retten! Den großen Kapitalisten, in deren Dienst Hochöfen und Stahlwerke arbeiten, die vor dem amerikanischen Stahltrust, vor dem deutschen Stahlwerksverband zittern und ihre glücklichen Nebenbuhler in den Schutzzollgebieten um ihre hohen Monopolgewinne beneiden, schwellt neuer Wind ihre Segel: der Gedanke nationaler Einheit ist zur treibenden Kraft in ihren Diensten geworden.

Aber der britische Imperialismus will wie jeder andere nicht nur dem Kapital neue Anlagesphären schaffen, indem er seine Absatzwege sichert, er will ihm auch Absatzwege erschließen, indem er ihm Anlagesphären schafft. So strebt er unablässig nach kapitalistischer Expansion. Sein letzter großer Erfolg war die Eroberung Südafrikas. Über weite Landgebiete pflanzte er dort die britische Fahne auf. Erst raubte er wilden Negerstämmen ihren Boden, dann unterwarf er die Buren. Die weiten Ländereien durchzieht er mit seinen Eisenbahn- und Telegraphenlinien. Und nun strömt ihm gewaltiger Reichtum aus den Diamantengruben und Goldminen des Landes, in denen die schmutzigen, gelben Kulis die gleißenden Schätze dem Quarz abringen. Alles das bedeutet gewaltige neue Anlagesphären für britisches Kapital, neue Absatzwege für seine Industrie und – was nicht am leichtesten wiegt – reichliche Gelegenheit für die Spekulation. Aber auch hier stösst das Kapital auf den Widerstand der Arbeitermassen. Sie tragen die Kosten des großen Krieges mit den Buren; sie fühlen es auf dem Arbeitsmarkte, dass gewaltige Kapitalien nach Südafrika abströmen, um dort nicht europäische Arbeiter, sondern bedürfnislose Kulis zu beschäftigen; sie fühlen auf dem Warenmarkte in der fortwährenden Steigerung der Preise ihrer Lebensmittel die Wirkung, die die künstliche Herabsetzung der Produktionskosten des Goldes übt; ihrer Ideenwelt endlich widerspricht die Knechtung der Buren und die Sklaverei der Chinesen. Aber auch dieses Hemmnis weiß der Imperialismus zu brechen. Die Knechtschaft der fremden Nationen ist ein Bedürfnis der britischen Brüder über See. Wer sie mit dem Mutterlande eng verbinden, wer sie nicht zum Abfalle treiben will, muss ihre Forderungen erfüllen. Die Unterwerfung der Buren, die Sklaverei der Kulis muss wollen, wer die nationale Einheit der Briten im großen Weltreich will. Learn to think imperially! Denkt nicht an eure eigenen Sorgen hier! Alle Briten im Mutterlande und in den Kolonien durch enges Band fest verknüpft und unter ihnen die 400 Millionen der Unterworfenen – ägyptische Fellachen, chinesische Kulis, vor allem aber die Millionen der Hindus, und aus den heißen, reichen Ländern dieser aller strömt fortwährend ein Strom von Gold zur britischen Herrennation – ist das nicht ein Bild, vor dem die kleinlichen Gegensätze innerhalb der englischen Gesellschaft selbst verblassen? So wird auch hier wieder der Gedanke der Einheit der eigenen Nation und der Herrschaft über die fremden Nationen ein Werkzeug kapitalistischer Wirtschaftspolitik. Den arbeitenden Massen, deren sittlichen Vorstellungen die gewalttätige Eroberungspolitik in das Gesicht schlägt, tue nüchtern prüfen wollen, ob die gewaltigen Opfer auch wirklich die Lebenshaltung ihrer Klasse erhöhen, treten die Wortführer der kapitalistischen Wirtschaftspolitik mit den Worten entgegen: Was soll diese nüchterne Rechnerei? Nationale Einheit, nationale Macht, nationale Herrschaft sind Selbstzweck. Fragt Middlesex, ob Surrey sich rentiert? [1] Der Gedanke der Einheit der eigenen Nation und ihrer Herrschaft über fremde Völker im Dienste der Industriellen, die nach Kartellgewinnen lüstern sind, im Dienste des Finanzkapitales, das nach den Extraprofiten fremder jugendlicher Länder begehrt, im Dienste der spekulationslüsternen Börsenjobber – das ist das Nationalitätsprinzip des Imperialismus.


Nun erst können wir zur Frage zurückkehren, ob die kapitalistische Expansionspolitik die Auflösung der bestehenden Nationalitätenstaaten herbeiführen wird. Für uns in Österreich lautet die Frage: Wird der Imperialismus den Zerfall des Donaureiches herbeiführen?

Seit fast einem ganzen Jahrhundert steht Europa vor der allmählichen Auflösung des türkischen Reiches, wenn Österreich-Ungarn in die Wirren imperialistischer Weltumwälzung hineingerissen werden sollte, so wird der Zerfall der Türkei dazu zweifellos der unmittelbare Anlass sein.

Aus Gründen, die hier unerörtert bleiben können, haben die Türken es nicht verstanden, einen modernen, auf der kapitalistischen Warenproduktion beruhenden Staat zu schaffen. Freilich konnte auch die Türkei nicht alle Elemente eines modernen Staates entbehren: Eisenbahnlinien durchziehen ihr Gebiet sie schuf sich eine moderne Armee; sie musste auch das Staatsschuldenwesen ausbilden. Aber die Eisenbahnen wurden von fremdem Kapital gebaut, die Staatsgläubiger der Türkei sind fremde Kapitalisten. Ein Teil der der Bevölkerung abgepressten Werte fließt in die Kassen fremder, insbesondere französischer und englischer Kapitalisten. Die kleineren Kapitalisten in der Türkei selbst sind gleichfalls nicht Türken, sondern Griechen, Armenier, Spaniolen. Jeder einzelne von diesen weiß sich durch das Trinkgeld die Gunst der Behörden zu sichern; aber sie bilden keine Klasse, die den Staat zu kapitalistischer Wirtschaftspolitik zwingen könnte. Die herrschende Klasse sind die türkischen Grundherren, Beamten, Offiziere. Die Masse der Bevölkerung bilden vom Grundherrn geknechtete, vom Wucherer ausgesogene, vom Steuerpächter betrogene Bauern verschiedener Nationalität.

Allmählich unterliegt nun auch diese Bevölkerung den Wirkungen wirtschaftlicher Umwälzung. Die Eisenbahnen, die die Waren der kapitalistischen Länder in die Türkei bringen, verändern die alte primitive Gewerbeverfassung des Landes. Die vernachlässigte Landwirtschaft gibt Hunderttausenden im Lande keine Nahrung. Sie ziehen in die benachbarten, von der Türkei bereits losgelösten Gebiete, nach Serbien, Rumänien, Griechenland, insbesondere aber nach Bulgarien und lernen dort soziale Verhältnisse kennen, die, wie rückständig sie dem Europäer auch erscheinen mögen, sich von den verlotterten Verhältnissen in der Türkei doch vorteilhaft genug unterscheiden. Kehren sie in ihre Heimat zurück, so bringen sie Unzufriedenheit in das Land. Diese Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse durch die Eisenbahnen und durch den Verkehr mit den christlichen Balkanstaaten ruft allmählich auch eine nationale Bewegung in der Türkei hervor. Der unmittelbare Anlass dazu ist ja vorhanden: über den bulgarischen und serbischen Bauern sitzt Ja der türkische Grundherr, der türkische Beamte; wirtschaftliche Ausbeutung und politische Knechtung erscheint als nationale Fremdherrschaft. Hier setzt nun allmählich der Prozess des Erwachens der geschichtslosen Nationen ein. Von den Nationen der Türkei trugen nun die Türken wegen ihres Adels, die Griechen wegen ihres Bürger- und Beamtentums und allenfalls noch die Rumänen wegen ihres Adels den Charakter historischer Nationen. Die Serben dagegen hatten ihren Adel seit der türkischen Eroberung verloren, da der Adel zum herrschenden Volke übergegangen war; sie wurden eine reine Bauernnation. Ebenso trugen die Bulgaren den kulturellen Charakter einer Nation, die nur aus unterdrückten Klassen besteht. Dies ändert sich nun, seitdem diese Nationen selbständige Nationalstaaten gebildet haben, die allmählich eine nationale Beamtenschaft und Intelligenz und ein nationales Bürgertum entwickeln. Dies wirkt allmählich auch auf ihre Nationsgenossen in der Türkei ein. [2]

Sobald aber diese Nationen in der Türkei Klassen bilden, die eine lebendige nationale Kultur schaffen können, wird die türkische Unterdrückung unerträglich.

Indessen ist die wirtschaftliche und daher auch die kulturell-nationale Entwicklung der Türkei viel zu langsam, als dass die Entwicklung der nationalen Kultur der christlichen Nationen auf türkischem Boden den türkischen Staat sprengen könnte. Die Türkei ist zum Untergang verurteilt, weil sie es nicht verstanden hat, sich zum modernen, auf der kapitalistischen Warenproduktion beruhenden Staat zu entwickeln; aber die Auflösung der Türkei geht nur langsam vor sich, weil die langsame wirtschaftliche Entwicklung hier nur sehr langsam jene Kräfte erzeugt, die den alten Staat sprengen können. Aus der Tatsache, dass es keinen türkischen Kapitalismus gibt, erklärt sich die merkwürdige Erscheinung, dass die Türkei nicht leben kann und doch so langsam stirbt.

Die langsame innere Entwicklung wird aber nun durch die Politik der christlichen Balkanstaaten beschleunigt. Sie wissen, dass der Zerfall der Türkei schließlich kommen muss. Sie hoffen, dass die europäischen Vilajets dann ihr Erbe werden. Sie suchen den Boden für diese Eroberung vorzubereiten, indem sie ihre Volksgenossen in der Türkei zu nationalem Selbstbewusstsein zu erwecken und ihre Macht auszudehnen suchen. So entstehen die heftigen nationalen Kämpfe der Bulgaren, Griechen, Walachen und Serben in der Türkei. Der Kampf der christlichen Nationen untereinander lähmt freilich den gemeinsamen Angriff gegen die Türken, aber er hat doch die Wirkung, die Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen zu steigern und das Schulwesen im Lande zu verbreiten, wodurch der Prozess des Erwachens der geschichtslosen Nationen beschleunigt wird. So kann man denn heute bereits sagen, dass, wie sehr auch der Widerstand der Großmächte diesen Prozess verlangsamen mag, die Auflösung der europäischen Türkei schließlich nicht zu verhindern sein wird; Makedonien und Albanien werden sich schließlich von dem kranken Körper der Türkei loslösen, wie sich vor ihnen Griechenland, Rumänien, Serbien, Bulgarien, Bosnien und Ägypten von der Türkei losgelöst haben.

Gleichzeitig bereiten sich aber auch im türkischen Vorderasien gewaltige Veränderungen vor. Im Jahre 1902 erhielt deutsches Kapital die Konzession zum Bau einer Eisenbahnlinie von Konia über Bagdad zum persischen Meerbusen. Die Erschließung Vorderasiens durch Eisenbahnen wird zunächst die türkische Macht stärken, da die besseren Verkehrsmittel eine einheitliche Verwaltung erst möglich machen. Aber die neu erschlossenen Länder werden zweifellos bald die begehrlichen Blicke des Imperialismus in den hochkapitalistischen Staaten auf sich ziehen. Im Gebiete der Bagdadbahn liegen fruchtbare Länder; Babvlonien war von den ältesten Zeiten an, von denen uns die Geschichte berichtet, bis zum Sturze der Abbassiden ein Sitz hoher Kultur. Das seit dem Einfall kriegerischer Nomadenstämme verfallene Kanalisationssystem könnte mit den Mitteln des modernen Kapitalismus und der modernen Technik in wenigen Jahren wieder hergestellt werden. Dann könnten diese Länder gewaltige Mehrwertsummen in der Gestalt von Getreide, Baumwolle, Wolle, Naphtha an das europäische Kapital abtreten. Wollen die kapitalistischen Staaten sich diese Reichtümer nutzbar machen, so drohen gerade hier gewaltige Konflikte. Deutsches Kapital baut die Bagdadbahn; Russland strebt auch in Vorderasien nach dem „warmen Wasser“; für Großbritannien kann die Machtverteilung im „mittleren Orient“ nicht gleichgültig sein, da es im Westen dieser Gebiete Ägypten, im Osten Indien beherrscht.

So sehen wir in Europa wie in Asien viele Kräfte wirksam, die die Auflösung des türkischen Reiches schließlich herbeiführen werden. Hier ist ein gewaltiges Objekt für imperialistische Eroberungspolitik gegeben. Wie werden diese Umwälzungen auf Österreich-Ungarn einwirken?

Zunächst wird wohl auch Österreich-Ungarn daran denken, hier, wenn auch in bescheidenem Umfang, Eroberungspolitik zu treiben. Auch die österreichische Expansionspolitik wird sich wohl mit dem nationalen Gedanken zu verbünden suchen. Wir haben bereits gezeigt, wie der Gedanke und die Verwirklichung der nationalen Autonomie zum Mittel der Eroberung auf dem Balkan werden kann. (§ 25)

Wenn aber Österreich-Ungarn seine Ansprüche auf einen Teil der türkischen Erbschaft anmeldet, stoßt es auf den Widerstand anderer Staaten, zunächst wohl Italiens. Italien denkt zweifellos an die Eroberung Albaniens. Eine friedliche Einigung mit Österreich-Ungarn wird wohl nicht leicht sein; ist Albanien italienisch, so beherrscht Italien beiderseits die Strasse von Otranto, die die Adria mit dem Mittelmeer verbindet; gleichzeitig wird unser Weg nach Salonik (dessen Bedeutung durch die Erschließung des türkischen Vorasien erheblich gesteigert werden wird) im Westen vom italienischen Albanien, im Osten von Serbien und dem vergrößerten Bulgarien eingeengt. Der eroberungslüsterne italienische Imperialismus wird aber die Massen der Nation leicht mitreißen können: auch er verbündet sich mit dem nationalen Gedanken. Man wird von Trient und Triest sprechen und Albanien meinen; man wird die historischen Überlieferungen der Nation anrufen, die im Kampfe gegen Österreich ihre Freiheit erstritten hat. So wird es wohl gelingen, den Massen der italienischen Nation einen imperialistischen Eroberungskrieg als nationalen Freiheitskrieg erscheinen zu lassen. [3]

Wie für den britischen Imperialismus der Gedanke des engen Bundes aller von Briten bewohnten Kolonien mit dem Mutterland ein Mittel kapitalistischer Expansion und Herrschaft ist, so ist auch hier die Idee der Italia irredenta ein Mittel, die breiten Volksmassen in Bewegung zu setzen, um dem jugendlichen Kapitalismus Italiens neue Absatzmärkte und Anlagesphären zu erschließen.

Die Auflösung des türkschen Reiches kann aber Österreich-Ungarn nicht nur in einen Krieg mit Italien verwickeln, sie wird vielmehr auch gefährliche Interessenkonfikte mit dem russischen Reiche auslösen. Russland wird auf den Besitz seines „Hausschlüssels“, auf die militärische Beherrschung des Bosporus und der Dardanellen kaum verzichten. Wenn der österreichisch-ungarische Imperialismus nach Salonik, der russische nach Konstantinopel strebt und gleichzeitig die christlichen Balkanstaaten um das türkische Erbe streiten, wird es nicht leicht sein, die Grenzen der österreichisch-ungarischen und der russischen Machtsphären friedlich festzusetzen. Und auch der russische Imperialismus wird sich gegen Österreich-Ungarn vielleicht des nationalen Gedankens bedienen. Wir haben schon davon gesprochen, dass vielleicht Russland die Freiheit Polens und der Ukraina auf seine Fahnen schreiben wird, wenn es Konstantinopel zu erobern versucht. Auch hier ist der Gedanke nationaler Einheit ein Mittel kapitalistischer Expansion.

So droht Österreich-Ungarn, wenn einmal die Auflösung des türkischen Reiches nicht mehr aufzuhalten ist, zunächst von Italien und von Russland Gefahr. Was es für das Donaureich, das noch vor schweren inneren Kämpfen steht, bedeuten könnte, wenn seine Armee noch einmal geschlagen würde, braucht wohl nicht erst dargestellt zu werden.

In diesem Falle könnte schließlich auch das Deutsche Reich sich zur Intervention in Österreich gezwungen sehen. Die Gründe, die einer großdeutschen Politik der Hohenzollern widerstreiten, die Bismarck wiederholt so klar auseinandergesetzt hat, verlieren von Jahr zu Jahr an Kraft. So wenig Deutschland heute auch an die Eroberung Deutsch-Österreichs denkt, im Zeitpunkt jener großen Krise, die die Zersetzung der Türkei vielleicht einleiten wird, wird die Frage für die Herrschenden im Deutschen Reiche wohl anders stehen als heute. Zunächst müssen wir in unsere Rechnung die Tatsache einstellen, dass die Gefahr, die Deutschland von seiner Westgrenze droht, von Jahr zu Jahr geringer wird: dank seiner geringen Bevölkerungsvermehrung wird Frankreich von Jahr zu Jahr ein minder gefährlicher Gegner. [4] Bisher hat Frankreich dies teilweise dadurch ausgeglichen, dass es seinem Militarismus Opfer gebracht hat, die zu seiner Volkszahl in keinem Verhältnis stehen. Wenn aber, was heute wohl als nicht unwahrscheinlich gelten kann, die französische Volkswirtschaft durch einen russischen Staatsbankrott einen beträchtlichen Teil ihres Kapitals und ihres Einkommens verlieren wird, so wird Frankreich finanziell nicht mehr imstande sein, seiner Rüstung so gewaltige Wertsummen zu widmen. Das Deutsche Reich hat dann auf dem Festlande weit freiere Hand als bisher.

Aber auch im Innern Deutschlands haben sich seit den Tagen, da Bismarck Österreichs Bestand für das Reich für notwendig erklärte, gewaltige Veränderungen vollzogen. Der Klassengegensatz ist heute den Massen des deutschen Volkes weit schärfer bewusst als irgend einer anderen Nation. Damit ist die Stellung der Herrschenden in Deutschland zum Katholizismus eine andere geworden. Im Jahrzehnt des Kulturkampfes mochte Deutschland keine Lust haben, die Zahl seiner katholischen Staatsbürger zu vermehren. Heute hat sich der katholische Klerikalismus als das sicherste Bollwerk gegen den Ansturm der Sozialdemokratie bewährt. Und je mehr die deutsche Sozialdemokratie wächst, desto näher rückt auch dort die Gefahr, dass die Herrschenden im Reiche die alte Taktik des Cäsarismus anwenden, dass sie der drohenden inneren Revolution durch äußere Verwicklungen vorzubeugen streben; und wie könnten die herrschenden Klassen im Deutschen Reiche die Augen der Massen mit mehr Aussicht auf Erfolg von den sozialen Fragen ablenken, als wenn sie sie rufen, die deutschen Brüder in Österreich zu befreien, den jedem Deutschen teuren Gedanken der deutschen Einheit zu verwirklichen?

Aber zu all dem kommt noch ein weiterer Grund. Die Auflösung der Türkei setzt auch dem deutschen Imperialismus ein Ziel. In den europäischen Vilajets wird freilich für Deutschland kaum etwas zu holen sein; aber auf Anatolien und Mesopotamien haben die deutschen Imperialisten heute schon gierige Blicke geworfen. Je entschiedener aber der deutsche Kapitalismus in Vorderasien seine Absatzwege und Anlagesphären sucht, desto mehr fühlt sich das Deutsche

Reich als Mittelmeermacht. In wie hohem Grade dies bereits der Fall ist, hat im Vorjahre der Streit um Marokko gezeigt. So ist es nicht undenkbar, dass der deutsche Imperialismus nach dem Besitz eines Mittelmeerhafens streben wird. Der Weg zum Mittelmeer führt aber über Wien und Graz nach Triest. Leicht möglich, dass Deutschland auf diese Tatsache gestoßen werden wird: man stelle sich vor, dass Italien Triest angreift; werden auch heute noch die Herrschenden im Reiche denken, wie das Frankfurter Parlament im Jahre 1848 gedacht hat: ein Angriff auf Triest ist Kriegsfall für Deutschland?

Aber das Interesse am Mittelmeer allein würde kaum hinreichen, die deutschen Imperialisten zu einer so großzügigen und gefährlichen Politik zu bestimmen. Eine andere Kraft wird hinzutreten, die sie veranlassen wird, den Gedanken kapitalistischer Expansion mit der großdeutschen Idee zu verschwistern. Wenn die deutschen Imperialisten es versuchen werden, das Deutsche Reich zu einer gefährlichen und kriegerischen Politik in Vorderasien zu bestimmen, so werden sie gewiss auf den machtvollen Widerstand der deutschen Arbeiterklasse stoßen. Andere Interessengruppen werden den Kampf der deutschen Arbeiter unterstützen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass die deutschen Agrarier sich der Erschließung eines Landes freuen würden, dessen Weizen- und Gersteproduktion ihrer Grundrente gefährlich werden könnte. Eine nüchterne Expansionspolitik, die ihren Zweck nicht verhüllt, ist in Deutschland nicht durchzusetzen. Auch in Deutschland muss das Expansionsbedürfnis des Kapitals den nationalen Gedanken in seinen Dienst stellen, wenn es die Massen seinen Zwecken dienstbar machen will. Wie der britische Imperialismus den Wählermassen das farbenprächtige Bild des von der einigen britischen Nation beherrschten 400 Millionen-Reiches entfaltet und hierbei an die Kartellgewinne der Eisenmagnaten und an die Spekulationsgewinne der Londoner Börse denkt; wie der italienische Imperialismus, um der oberitalienischen Industrie den Absatz auf dem Balkan zu erstreiten, sich der großen Überlieferung Garibaldis bedient; wie vielleicht einmal der russische Imperialismus die Freiheit und Einheit Polens und der Ukraina verkünden wird, um den Fabrikanten von Petersburg, Moskau und Lodz neue Märkte zu erschließen, so muss auch der deutsche Imperialismus als Erbe des großdeutschen Gedankens von 1848 erscheinen, muss das eine große deutsche Vaterland zu verwirklichen streben, wenn er das Leben deutscher Arbeiter und deutscher Bauernsöhne opfern will, um dem Kapital am Euphrat und Tigris neue Reichtumsquellen zu erschließen. [5]

Wir sehen, wie für den Nationalitätenstaat an der Donau ganz neue Gefahren entstehen. Die Kraft, die diese Gefahren auslöst, ist jene Veränderung der Produktivkräfte, die in der Konzentration des Kapitals in Erscheinung tritt. Die Konzentration des Kapitals hat die Methoden der kapitalistischen Wirtschaftspolitik verändert. Die Kapitalistenklasse muss aber ihre Politik notwendig als Politik der gesamten Nation erscheinen lassen. Darum verknüpft sie sie mit dem durch die kapitalistische Entwicklung selbst erzeugten und verstärkten Gedanken der Einheit und Freiheit der Nation. Das imperialistische Nationalitätsprinzip – Einheit und Freiheit der eigenen Nation und Herrschaft über die anderen Völker – wird notwendig zum Machtmittel der kapitalistischen Wirtschaftspolitik. Dadurch wird diese Politik den Nationalitätenstaaten gefährlich, in denen abgesprengte Teile der großen kapitalistischen Nationen zusammenleben. So sehen wir also Kräfte wirksam, die dem Nationalitätsprinzip neue Kraft verleihen werden, die daher auch den Bestand der alten Nationalitätenstaaten gefährden; aber das Nationalitätsprinzip ist indessen, sowohl seinem Inhalt als auch seiner sozialen Wurzel nach, ein anderes geworden. Die Gefahren, die heute Österreich bedrohen, sind ganz anderer Natur als jene, die es im Zeitalter des liberalen Nationalitätsprinzips, die es etwa im Jahre 1848 bedroht haben.

Und auch in der Tatsache, dass die Auflösung des türkischen Reiches in Europa und Vorderasien diese neuen Gefahren auslösen wird, sehen wir das Ende einer langen geschichtlichen Entwicklung. Das Donaureich entstand, als auf der Grundlage der Warenproduktion die modernen Staaten erwuchsen: das Kolonialreich des Südostens sollte das Deutsche Reich zum Staat umformen. Aber im Entstehen ward ihm eine neue Aufgabe: seine Länder schlössen sich eng aneinander zum Kampfe gegen die Türken. Als die Türken gegen Europa vordrangen, ist es entstanden; wenn nun Europa in die Türkei eindringt, so kommen die nationalen Fragen des Südostens zur Lösung, so droht ihm die Gefahr des Zerfalles. Und sein Erbe wird das deutsche Kolonialreich des Nordostens, das in jenen Jahrhunderten, in denen der Kampf gegen die Türken das südöstliche Kolonialreich seiner ursprünglichen Aufgabe entfremdete, die Grundlagen seiner Macht gelegt.

Indessen können alle diese Erwägungen doch nur zeigen, dass nicht die Laune müßiger Phantasie, sondern starke historische Kräfte Tendenzen hervorbringen, die den Bestand der Monarchie bedrohen. Ob aber diese Tendenzen stark genug sein werden, sich gegen die machtvollen Gegentendenzen durchzusetzen, ist eine andere Frage. Von imperialistischen Strömungen, die Österreich gefährlich werden könnten, ist heute erst die italienische lebendig. Der russische Imperialismus wird erst in einem konstitutionellen Russland möglich werden, sobald die Lösung der wichtigsten inneren Fragen angebahnt, die finanzielle Not überwunden ist. Nicht minder starke Hemmnisse stehen dem deutschen Imperialismus entgegen. Zunächst ist es gar nicht gewiss, wie lange Zeit in dem Lande der schnellen kapitalistischen Entwicklung und der schroffsten Klassengegensätze einer kapitalistischen Politik überhaupt noch gegönnt ist. Auch wissen wir noch nicht, welche Wege der deutsche Imperialismus wohl einschlagen wird; haben doch deutsche Imperialisten auch auf Südbrasilien und ganz insbesondere auf Schantung ihre Blicke geworfen, wobei man freilich wohl sagen kann, dass die Entwicklung des Imperialismus in Nordamerika und die machtvolle Entwicklung Japans die südamerikanischen und chinesischen Pläne der deutschen Imperialisten weniger aussichtsreich erscheinen lassen, als man früher annahm. Wenn aber selbst der deutsche Imperialismus seine Kräfte auf Vorderasien konzentriert, so bleiben immer noch große Schwierigkeiten zu überwinden: innere Schwierigkeiten, die soziale Zerrissenheit und die schwerfällige Bundesverfassung, die einer Eroberungspolitik wenig günstig ist, die Gefahr eines polnischen Aufstandes im eigenen Lande; vor allem aber äußere Schwierigkeiten. Wenn das Deutsche Reich österreichischen Boden in Besitz nehmen will, so muss es wissen, dass es den erbitterten Widerstand der slavischen Nationen und selbst eines Teiles der Deutschen wird niederhalten müssen; Frankreich wird eine so gewaltige Machtverschiebung auf dem Festland gewiss nicht ohne Kampf gestatten. In Vorderasien wird Deutschland auf Russland und Großbritannien, in Österreich auf Russland und Italien stoßen. Die Versuche Großbritanniens, Deutschland „einzukreisen“, zeigen, was das Reich zu erwarten hat, wenn es zur Mittelmeermacht werden will. Man sieht, eine so kühne Politik wäre gewiss nur unter besonders günstigen Umständen, im Bunde mit einer oder mehreren der großen kapitalistischen Mächte und nach Besiegung der anderen Großstaaten möglich.

Es ist daher einfach albern, wenn französische und panslavistische Phantasten das Deutsche Reich beschuldigen, es giere heute schon nach dem habsburgischen Erbe. Die Herrschenden im Deutschen Reiche wissen sehr wohl, dass sie keine Niederlage mehr vertragen können, dass ein Misserfolg, mit dem eine so kühne Politik doch immer rechnen müsste, nicht etwa nur die Frage der Staatsverfassung, sondern gewiss auch die Frage der Gesellschaftsverfassung in Deutschland aufrollen müsste. Sie werden den Angriff“ auf Österreich nur wagen, wenn sie nicht anders können: wenn Italien oder Russland auf dem Schlachtfelde die österreichische Frage aufrollt; wenn die deutsche Kapitalistenklasse fürchtet, die letzte Ausbeutungssphäre, die sie noch erobern kann, zu verlieren und der Widerstand der Arbeiterklasse nicht anders zu brechen ist, als wenn der wirtschaftliche Eroberungskrieg die Gestalt eines nationalen Befreiungskrieges annimmt; wenn das Deutsche Reich bereits die Gefahr der sozialen Revolution vor sich sieht und die Herrschenden sich entschließen, alles zu wagen, um alles zu retten. Ob eine solche weltpolitische Lage eintreten wird, kann heute niemand wissen. Wir sehen nur Kräfte wirksam, die den deutschen Imperialismus dazu treiben, die österreichische Frage aufzurollen; und wir sehen nicht minder starke Kräfte arbeiten, die ihn daran zu hindern streben. Das Ergebnis des Spieles dieser Kräfte und Gegenkräfte kann niemand ahnen. Wir können nur sagen: dass das Deutsche Reich dereinst mit Waffen in der Hand die österreichische Frage zu lösen sucht, ist denkbar, ist möglich; es ist aber nichts weniger als gewiss.

Diese Erwägungen waren unentbehrlich, wenn wir die Stellungnahme der Arbeiterklasse zur Nationalitätenfrage in Österreich vollständig bestimmen wollten. Denn wer nicht vor handgreiflichen Tatsachen die Augen verschließt, wird zugeben müssen, dass bei vielen einzelnen, bei allen Parteien die Hoffnung auf Österreichs Zerfall oder die Furcht vor diesem Ereignis die Stellungnahme zu den nationalen Fragen mitbestimmt.

Die österreichischen Patrioten kennen nun das Mittel, durch dessen Anwendung allein sie für den Bestand des Donaureiches wirken können: sie müssen durch die nationale Autonomie jeder Nation eine rechtliche Machtsphäre sichern, dem Machtkampf der Nationen ein Ende bereiten; wenn nicht mehr der Hilferuf der österreichischen Nationen in das Ausland dringt, verliert der ausländische Imperialismus das wirksamste Mittel, die Massen der eigenen Nation für seine Eroberungspolitik zu gewinnen. Durch die nationale Autonomie vermindern wir die Gefahr, dass der europäische Kapitalismus im Kampfe um Anlagesphären und Absatzmärkte österreichischen Boden als Köder für die arbeitenden Volksmassen seines Landes gebraucht. Die nationale Autonomie muss daher notwendig das Programm aller Nationen, Klassen, Parteien sein, die an Österreichs Bestand ein Interesse haben.

Diejenigen aber, die Österreichs Zerfall als die Erfüllung ihrer nationalen Hoffnungen ersehnen, wissen nun, wie ungewiss diese Hoffnung ist. Jeder Besonnene muss darnach streben, die Form des Zusammenlebens der Nationen im gegebenen staatlichen Rahmen zu finden; es ist niemandem gestattet, sich dem Kampfe um die Lösung der österreichischen Nationalitätenfrage zu entziehen, indem er sich damit tröstet, eine große weltpolitische Umwälzung werde die nationalen Fragen auf dem Boden dieses Reiches zur Lösung bringen. Es ist kein Zufall, dass die Partei, die den Deutschen Österreichs zu einer solchen Politik rät, von Männern mit auffallendem Mangel an Verantwortlichkeitsgefühl geleitet wird, von den echten Erben der deutschen Burschenschaft, die Bismarck einmal die „Verbindung von Utopie und Mangel an Erziehung“ genannt hat.

Auch der Arbeiterschaft mutet man eine unverantwortliche Katastrophenpolitik zu, wenn man sie bestimmen will, auf den Zerfall dieses Reiches ihre Hoffnungen zu setzen. Sie muss auf dem historisch gegebenen Boden ihren Klassenkampf führen. Ihre Nationalitätenpolitik muss der Aufgabe dienen, im Nationalitätenstaate die Bedingungen des unverhüllten Klassenkampfes zu schaffen, der ja für die Arbeiter jeder Nation ihre besondere nationale Politik ist.

Wenn Österreich noch in der kapitalistischen Gesellschaft zerfällt, so wird es nicht durch das alte, liberale Nationalitätsprinzip auseinandergerissen werden. Vielmehr wird es nur zerfallen, wenn die kapitalistische Expansionspolitik den nationalen Willen in ihren Dienst zu stellen weiß. Österreichs Zerfall setzt einen Sieg des Imperialismus im Deutschen Reiche, in Russland, in Italien voraus. Der Sieg des Imperialismus ist aber eine Niederlage der Arbeiterklasse in diesen Ländern. Sollen die Arbeiter Österreichs darauf ihre Hoftnungen setzen, dass es der Kapitalistenklasse der Nachbarländer gelingt, das Klassenbewusstsein der Arbeiter zu ertöten, den betörten Arbeitern ihr Klasseninteresse zu verschleiern, ihre Klassenideologie zu rauben, die Macht ihrer Klasse zu mindern? Soll den Arbeitern eine Politik als nationale Politik gelten, die den Prozess der Befreiung der Arbeiterklasse hemmt? Aber nicht nur das Interesse am Klassenkampfe des Proletariats im Ausland, auch das Bedürfnis des Klassenkampfes auf dem eigenen Boden widerstreitet der Nationalitätenpolitik des Imperialismus. Wenn der siegende Imperialismus die Gebiete Österreichs besetzt, wenn er die kleinen Nationen den großen Nationalstaaten eingliedert, dann entbrennt hier ein furchtbarer nationaler Kampf – zwischen Deutschen und Tschechen, Deutschen und Slovenen, Italienern und Südslaven, Polen und Ruthenen – der für geraume Zeit allen Klassenkampf unmöglich macht. Die nationale Politik der Arbeiterklasse kennt aber nur ein Mittel, den Klassenkampf, und nur ein Ziel, der Umbildung des gesamten Volkes zu einer autonomen nationalen Kulturgemeinschaft. Die österreichischen Arbeiter können nicht auf den deutschen, italienischen, russischen Imperialismus ihre Hoffnung setzen, der der Feind ihrer Brüder im Ausland ist und dessen Sieg ihre eigene Macht auf ihrem Boden verringern würde. Die imperialistisch-nationalistische Politik kann nicht die Politik der Arbeiterklasse sein.

So kann denn das nächste Ziel der Arbeiter aller Nationen in Österreich nicht die Verwirklichung des Nationalstaates sein, sondern nur die nationale Autonomie im gegebenen staatlichen Rahmen. Wenn Österreich bestehen bleibt, so schallt die nationale Selbstverwaltung der österreichischen Arbeiterklasse die günstigsten Bedingungen des Klassenkampfes. Sollte aber die Stunde kommen, in der die Heere der großen Nachbarstaaten Österreichs Grenzen überschreiten, dann wird die Arbeiterklasse dem siegenden Imperialismus erst recht die Forderung der nationalen Selbstverwaltung entgegenhalten, um zu verhindern, dass der nationale Kampf den Aufmarsch der Klassen verhindert. Die nationale Autonomie auf Grund der autonomen Lokalverwaltung ist für die Arbeiterklasse das Gesetz des Zusammenlebens der Nationen auf diesem Boden – gleichgültig, in welchen staatlichen Rahmen diese Nationen gepresst werden.

Der Zerfall Österreichs kann innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nur mehr das Werk des Imperialismus sein. Die Arbeiterschaft kann auf diesen Sieg nicht bauen, weil er ungewiss ist ; sie kann ihn nicht fordern, weil über sein Geschick nicht in Österreich entschieden werden wird, sondern im Klassenkampfe innerhalb der großen kapitalistischen Nationen; sie kann auf den Sieg des Imperialismus nicht hoffen, weil der Sieg des Imperialismus die Niederlage der Arbeiterklasse im Ausland voraussetzt und den Aufmarsch des Proletariats in Österreich selbst zerreißt. So kann denn das politisch-nationale Programm der österreichischen Arbeiter nichts anderes sein als die nationale Autonomie. Aber indem die österreichische Arbeiterschaft den staatlichen Rahmen als gegeben hinnimmt, innerhalb des historisch gegebenen Rahmens die nationalen Fragen zu lösen sucht, wird dieser Staat darum noch nicht ihr Staat, werden die Lösungen innerhalb dieses Staates noch nicht ihre Lösungen. Aber die Arbeiterklasse erwartet die endliche Lösung dieser Fragen nicht vom kapitalistischen Imperialismus, sondern vom proletarischen Sozialismus.

Fußnoten

1. Schulze-Gävernitz, Britischer Imperialismus und englischer Freihandel, Leipzig 1906, S.79.

2. In den türkischen Vilajets in Europa gibt es nur zwölf bulgarische Ärzte und sechs bulgarische Advokaten, also noch fast keine bulgarische Intelligenz. Aber dieser Zustand schwindet allmählich. Im Fürstentum Bulgarien wohnen bereits etwa 400 akademisch gebildete Bulgaren, die aus Makedonien stammen. Brancoff, La Macédoine et sa population chrétienne, Paris 1905.

3. Wer die Torheiten der österreichischen Politik während der letzten Jahrzehnte studieren will, der sei auf Österreichs Verhältnis zu seinen Italienern nachdrücklich aufmerksam gemacht. Die Italiener sind nicht eine geschichtslose Nation, sondern eine historische Nation, sind daher auch politisch heute noch gegenüber den Südslaven bevorrechtet. Aber ihre Zahl war seit 1866 zu gering, als dass sie an dem großen Teilungspakt der historischen Nationen auf Kosten der geschichtslosen hätten Anteil haben können. Und da die zentralistisch-atomistische Verfassung nur dem Mächtigen die Befriedigung der nationalen Kulturbedürfnisse gewählt, die Italiener aber dank ihrer geringen Zahl von der Macht ausgeschlossen sind, so versagt ihnen Österreich die Befriedigung wichtiger nationaler Bedürfnisse. Dies trägt ein Volk, das eine Bourgeoisie und eine Intelligenz hat, weit schwerer als irgend eine Bauernnation. So hat Österreich das Kunststück getroffen, eine Nation mit Vorrechten gegenüber den anderen Völkern auszustatten und sie trotzdem zu leidenschaftlicher Staatsfeindschaft zu erziehen! Und diese Staatsfeindschaft wird nun zum wichtigsten Kampfmittel des Imperialismus im Königreiche Italien, der die Massen mit übertriebenen Nachrichten von den nationalen Kämpfen der österreichischen Italiener erregt, um ihren Hass zu einem Eroberungskrieg zu nutzen.

4. Es betrug die Bevölkerung des Deutschen Reiches im Jahre 1875 42,7 Millionen, im Jahre 1900 56,4 Millionen Einwohner, die Bevölkerung Frankreichs im Jahre 1876 36,9 Millionen, im Jahre 1901 39 Millionen Einwohner.

5. Rohrbach wirft den Alldeutschen im Reiche vor, sie hätten die verkehrte Vorstellung, das politisch-deutsche Interessengebiet decke sich mit dem Verbreitungsbezirk der „national-deutschen Diaspora in Europa und über See“. Rohrbach, Deutschland unter den Weltvölkern, Berlin 1903, S.80. Rohrbach will eben rein kapitalistische Expansionspolitik, während die Alldeutschen, wenn nicht begreifen, so doch dunkel fühlen, dass die kapitalistische Expansionspolitik nur im Gewände nationaler Einheitspolitik die arbeitenden Massen des deutschen Volkes mitzureißen vermag. Es ist im Grunde derselbe Gegensatz wie zwischen Balfour und Chamberlain.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008