MIA > Deutsch > Marxisten > Bauer > Die Nationalitätenfrage
Wir haben im zweiten Abschnitt gesehen, wie das Nationalitätsprinzip zur wirkenden Kraft geworden ist, die die überlieferten Staatengebilde Europas zertrümmert hat. Wir haben dann festgestellt, dass trotzdem sich noch einige Nationalitätenstaaten dem Ansturm des Nationalitätsprinzips gegenüber schlecht und recht behauptet haben und haben einen von diesen Nationalitätenstaaten. Österreich, nun lange genug betrachtet. Wir haben aber noch nicht die Frage behandelt, ob diese Nationalitätenstaaten sich auch wirklich weiter erhalten werden, haben vielmehr nur gefragt, wie die inneren Verhältnisse im Nationalitätenstaate sich gestalten, solange er als solcher bestehen bleibt. Hier stießen wir nun auf die Entwicklung zur nationalen Autonomie. Gerade diese Untersuchung hat uns also das Nationalitätsprnizip in seiner ganzen Riesenkraft gezeigt. Denn die nationale Autonomie ist nichts anderes als das innerstaatliche Nationalitätsprinzip. Solange das Nationalitätsprinzip noch nicht stark genug ist. den Nationalitätenstaat zu zertrümmern und auf seinem Boden selbstständige Nationalstaaten aufzubauen, treibt es doch schon im Nationalitätenstaate zu einer Verfassung, die jeder Nation relative Selbständigkeit gibt. Haben wir das Nationalitätsprinzip erst nur als Maxime der Staatenbildung kennen gelernt, so kennen wir es nun auch als Regel der Staatsverfassung.
Es ist sehr lehrreich, diese beiden Wirkungsformen des Nationalitätsprinzips miteinander zu vergleichen. Das Nationalitätsprinzip als Grundsatz der Staatenbildung gibt der Nation alle Machtmittel des Staates in die Hand. Das Nationalitätsprinzip als Regel der Staatsverfassung versagt der Nation diese Machtmittel. Wohl gibt auch die nationale Autonomie der Nation eine gesicherte Machtsphäre, die unmittelbar auf der Rechtsordnung, mittelbar also auf der alle Rechtsordnung sichernden staatlichen Macht beruht; wohl ist es möglich, diese Rechtsordnung durch ein System demokratischer Verwaltung auch geilen den Staat selbst zu sichern, so dass der Staat die der Nation einmal gewährte Machtsphäre ihr nicht mehr rauben kann, ohne seine eigene Verwaltung, sein eigenes leibliches Sein zu zerstören. Aber die nationale Autonomie gibt der Nation kein eigenes Wirtschaftsgebiet, sondern lässt sie als Teil einer größeren Volkswirtschaft bestehen; sie gibt also der Nation nicht einmal in dem Klasse, in dem dies in der auf dem Sondereigentum an Arbeitsmitteln beruhenden Gesellschaftsordnung überhaupt möglich ist, die freie Verfügung über die Fortentwicklung ihrer Wirtschaft, die doch die Grundlage der weiteren Entwicklung nationaler Kultur ist. Sie gibt der Nation nicht die äußeren Machtmittel, die Heeresgewalt in die Hand, also auch nicht die letzte Gewähr der Sicherheit ihres Daseins als Nation. So erscheint die nationale Autonomie innerhalb des Nationalitätenstaates nur als unvollkommener Ersatz des Nationalstaates.
In anderer Hinsicht dagegen ist die nationale Autonomie innerhalb des Nationalitätenstaates dem Nationalstaate überlegen. Der Staat ist nämlich notwendig Gebietskörperschaft. Er muss ein Gebiet einschließen. das geeignet ist, ein mehr oder weniger selbständiges, sich selbst genügendes Wirtschaftsgebiet zu sein, und das strategisch geeignet ist, gegen jeden äußeren Feind verteidigt zu werden. Er kann daher das Nationalitätsprinzip niemals rein durchführen. Er muss stets Splitter fremder Völker seiner Macht unterwerfen und Teile des eigenen Volkes fremder Macht preisgeben. Alle diese Rücksichten bestehen für die autonome Nation innerhalb des Nationalitätenstaates nicht. Sie kann ihr Siedlungsgebiet abgrenzen. ohne auf wirtschaftliche oder strategische Einheiten Rücksicht zu nehmen; sie kann mittelst des Personalitätsprinzips auch die abgesprengten Volkssplitter, die als Minderheiten in fremden Siedlungsgebieten wohnen, sich eingliedern, kann für ihre nationalen Kulturbedürfnisse sorgen. Das Nationalitätsprinzip kann, als Regel der Staatsverfassung angewendet, also viel reiner durchgeführt werden als als Grundsatz der Staatenbildung.
Wohin treibt nun die geschichtliche Entwicklung? Wird sie die Nationalitätenstaaten bestehen lassen und nur innerhalb dieser Staaten das Nationalitätsprinzip in der Gestalt der organischen Regelung der Verhältnisse der Nationen zueinander und zum Staat durchführen, oder wird das Nationalitätsprinzip auch in Zukunft als Grundsatz der Staatsbildung fortwirken und die überlieferten Staatengebilde, die mehrere Nationen umfassen, zerstören? Für uns in Österreich lautet die Frage: Wird Österreich als selbstständiger Staat bestehen bleiben, so dass die Kräfte, die wir aufgezeigt haben, ihre Wirksamkeit entfalten und das alte Österreich in einen Nationalitätenbundesstaat umwandeln können oder wird das Nationalitätsprinzip Österreich zerstören, wird das alte Reich „zerfallen“? Wir müssen diese Frage zu beantworten suchen, indem wir den Kräften nachforschen, die den Nationalitätenstaat auflösen wollen, und jenen, die ihn zu erhalten streben. Wir müssen es versuchen, auch diese Untersuchung mit der unbefangenen Sachlichkeit der Wissenschaft zu führen. Was wir wünschen oder nicht wünschen, steht in der folgenden Untersuchung gar nicht in Frage. Hierbei werden wir diese Frage zunächst für die Dauer der kapitalistischen Gesellschaft zu beantworten suchen. Es ist ein selbstständiges Problem, wie sich die Gemeinwesen einer sozialistischen Gesellschaft gegeneinander abgrenzen werden.
Im Auslande hört der Österreicher nicht selten die Meinung äußern, die alte Monarchie werde „zerfallen“, sobald erst der alte Kaiser die Augen schließe. Das ist natürlich eine törichte Vorstellung unwissender Menschen, die von der wirklichen Macht, die diese Monarchie immer noch verkörpert, kein Bild haben. Die Gewähr des Bestandes Österreichs sind auch heute noch ganz andere Mächte, ganz andere Tatsachen als die Rücksicht der Staatsoberhäupter Europas auf den greisen Monarchen.
Zunächst sind ganze Nationen am Bestande Österreichs interessiert. Das gilt unmittelbar von allen jenen Nationen, die keine Volksgenossen in größeren Massen außerhalb der Monarchie haben, also in Österreich von den 5,9 Millionen Tschechen und den 1,2 Millionen Slovenen, in Ungarn von den 8,7 Millionen Magyaren, 2 Millionen Slovaken und 1,7 Millionen Kroaten. Diese Nationen haben vom Zerfall der Monarchie nichts zu hoffen. Die anderen Nationen – Deutsche, Polen, Ruthenen. Serben. Rumänen. Italiener – mögen hoffen, nach dem Zerfall des Reiches mit ihren Volksgenossen außerhalb der Grenzen der Monarchie vereinigt zu werden, für jene 19,5 Millionen besteht diese Hoffnung nicht. Für sie gilt auch heute noch der politische Gedanke, den Palacký Österreichs Staatsidee genannt hat: Sie wären als selbstständige Staaten zu schwach, um ihr nationales Dasein und ihre materiellen Interessen wirksam sichern zu können; sie wären in jedem anderen Staatswesen schwächer, als sie in dem völkerreichen Österreich sind, in dem keine Nation über die anderen herrschen kann: sie brauchen darum den Bestand der Monarchie.
Aber auch die anderen Nationen, die ja die Mehrheit des Reiches bilden, sind keine einheitliche Armee, die die alte Monarchie zerstören könnte. Zunächst widerstreiten gewisse Klasseninteressen dem Zerfall des Reiches. Vor allem hat die industrielle Bourgeoisie an dem Bestande des Reiches ein gewichtiges Interesse. Wir haben durch die Politik des Schutzzolles im Laute von zwei Jahrhunderten eine Industrie entwickelt, der heute der Markt der Monarchie sicher ist. Wenn der Schutzzoll fällt, so würde ein Teil der Kapitalien und der Arbeitskräfte aus jenen Produktionszweigen, in denen die deutsche Industrie der unseren überlegen ist, zurückgezogen werden und sie müssten in jene Produktionszweige überführt werden, die auch dann der österreichischen Produktion günstige Bedingungen böten. Dies wäre nur möglich in schweren wirtschaftlichen Krisen, durch Vernichtung großer Werte von Produktionsmitteln und qualifizierten Arbeitskräften. Die Bourgeoisie wird daher den Bestand des Reiches, das für sie ein sicheres Ausbeutungsgebiet ist, im Falle der Not zweifellos verteidigen. Heute mag mancher Fabrikant in Deutschböhmen „alldeutsch“ sein; das ist ungefährlich, weil der Bestand des Reiches noch nicht ernsthaft gefährdet ist, und für ihn nützlich, weil er durch das national-staatliche Programm die Augen der Arbeiter vom Klassenkampfe abzulenken hofft. Im Augenblick, wo die Zollgrenze gegen das Deutsche Reich ernsthaft gefährdet wäre, würde die Bourgeoisie sich das Spiel mit dem national-staatlichen Gedanken wohl überlegen.
Wird die Bourgeoisie durch ihr Klasseninteresse, so werden die klerikalen Bauern und Kleinbürger durch ihre Klassenideologie zu Verteidigern der Monarchie. Sie hängen am Reich mit der unreflektierten Liebe des in alle Überlieferung eingesponnenen Menschen. Sie werden darin bestärkt durch den Einfluss der Kirche, für die Österreichs Zerfall die Vernichtung der letzten katholischen Großmacht bedeutet.
So stoßen zu jenen 19,5 Millionen der am Bestände der Monarchie interessierten Nationen noch die deutsche Bourgeoisie und die deutschen Klerikalen. Wer die Frage des Zerfalles Österreichs nüchtern beurteilen will, wird in seine Rechnung vor allem die Tatsache einsetzen müssen, dass mindestens die Hälfte der Bevölkerung der Monarchie den Bestand des Reiches gewiss will.
Auf dieser Tatsache beruht nun auch die militärische Kraft des Reiches. Mindestens die Hälfte der österreichisch-ungarischen Armee wird sich für den Bestand des Reiches mit Begeisterung schlagen. Und nun erinnere man sich an die Tatsache, dass der moderne Militarismus durch seine eigenartige Organisation und durch seine Erziehung es verstanden hat, aus lebenden Menschen willenlose Maschinen, aus einem Volksheer ein Werkzeug fremder, außerhalb des Volkes stehender Mächte zu machen. Wenn die Hälfte der Bevölkerung des Reiches für die Monarchie kämpfen will, so sind die Cadres unserer Armee zuverlässig; auf sie gestützt, werden die Herrschenden durch die Macht des Beispieles und die Strenge der Disziplin auch die anderen zum Kampfe zwingen. Kein Besonnener wird daran zweifeln, dass, wenn das Reich heute um seine Existenz kämpfen müsste, auch die deutschen, polnischen, ruthenischen, serbischen und rumänischen Soldaten den Gehorsam nicht verweigern würden.
Nun unterliegt es freilich keinem Zweifel, dass die Auseinandersetzung zwischen den beiden Reichshälften und der Kampf der Nationen innerhalb beider Staaten in Zukunft eine Reihe schwerer Krisen hervorrufen wird, die die Gelegenheit für eine auswärtige Intervention bieten können. Gerade darum halten wir unsere Feststellung, dass die Entwicklung zur nationalen Autonomie nur als ein sehr schmerzvoller und langsamer Prozess gedacht werden kann, dass die organische Regelung der nationalen Verhältnisse im Reiche und die Überwindung des Dualismus nicht aus der wachsenden Einsicht, sondern aus harten Kämpfen, die die bisherige Verfassung unerträglich machen werden, hervorgehen wird, für wichtig: sie zeigt, dass in der Monarchie noch oft genug Zustände herrschen werden, die die Intervention mancher auswärtigen Macht erfolgversprechend erscheinen lassen werden. Aber soviel macht doch schon unsere flüchtige Prüfung der inneren Kräfte, auf die die Monarchie rechnen kann, klar, dass die Monarchie an diesen inneren Kämpfen nicht sterben wird, dass sie, wenn sie zerfallen sollte, nicht von den Nationen, die sie bewohnen, auseinandergerissen werden wird, sondern nur zerfallen kann durch die Intervention irgend einer auswärtigen Macht. Erst wenn irgend eine auswärtige Macht sich mit den Kräften, die im Innern Österreichs den Zerfall des Reiches anstreben können, verbündet, könnte das Reich vernichtet werden. Dadurch wird die österreichische Nationalitätenfrage zu einer Frage der europäischen Politik. Die Frage, vor die wir uns jetzt gestellt sehen, ist also die: Sind außerhalb der Monarchie Kräfte zu entdecken, die willens sein können und die stark genug sind, die Monarchie zu vernichten?
Der erste Staat, dem sich hier unsere Aufmerksamkeit zuwendet, ist das russische Reich. Es ist ein alter Gedanke, dass die Monarchie notwendig sei als Gegengewicht gegen die russische Macht, dass sie aber auseinanderfallen werde, sobald die innere Entwicklung Russlands das alte Zarenreich vernichtet. So schreibt schon Palacký in seinem berühmten Sendschreiben an den Frankfurter „50er Ausschuss“ im April 1848:
„Denken Sie sich Österreich in eine Menge Republiken und Republikchen aufgelöst – welch ein willkommener Grundbau zur russischen Universalmonarchie.“ [1]
Auch Friedrich Engels ist der Meinung, die Sprengung Österreichs wäre unheilvoll gewesen „vor dem bevorstehenden Sieg der Revolution in Russland, nach welchem sie überflüssig wird, weil das dann überflüssig gemachte Österreich von selbst zerfallen muss.“ [2]
Heute, wo die russische Revolution nicht mehr die Hoffnung der Zukunft, sondern das gewaltigste Ereignis unserer Gegenwart ist, können wir ihre Wirkungen für den Bestand der Monarchie viel deutlicher sehen, als Engels dies konnte.
Die russische Revolution ist ebenso wie die österreichische Revolution von 1848 nicht nur eine soziale und politische, sondern auch eine nationale Revolution. Auch Russland ist ein Nationalitätenstaat, der eine ganze Anzahl von Nationen umfasst – historische Nationen wie die Großrussen, Polen, Deutschen, Schweden, geschichtslose Nationen wie die Ruthenen, Weißrussen, Littauer, Letten, Esthen und viele andere. Auch die geschichtslosen Nationen dieses Riesenreiches hat der moderne Staat und der einziehende Kapitalismus zu neuem Leben erweckt. Auch hier treibt der Widerspruch zwischen den veränderten nationalen Kultur- und Machtverhältnissen und der erstarrten Rechtsform zur Revolution.
Das Bild, das die Geschichte der Tschechen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts uns bot, wiederholt sich heute bei allen geschichtslosen Nationen des großen russischen Reiches, nur dass diese Nationen nicht in gleichem Grade dem kapitalistischen Umwälzungsprozess unterworfen wurden und daher auch nicht eine gleich hohe Stufe der nationalen Entwicklung erreicht haben. Aber daran kann doch kein Zweifel bestehen, dass schliesslich alle geschichtslosen Nationen Russlands so gut wie vor ihnen alle geschichtslosen Nationen Österreichs zu neuem selbständigen Kulturleben erwachen werden. Der moderne Kapitalismus bewirkt in Russland wie überall eine Verbreiterung der Kulturgemeinschaft; und Verbreiterung der Kulturgemeinschaft bedeutet kulturelles Wiedererwachen jener Nationen, die sich nur aus den ausgebeuteten und geknechteten Klassen der Gesellschaft zusammensetzen.
Wie schnell dieser Prozess vor sich gehen wird, wissen wir nicht. Er wird ungeheuer beschleunigt werden, wenn es der Revolution gelingt, die Macht des Zaren zu brechen. Aber wenn selbst der russische Absolutismus noch einmal der Demokratie Herr werden sollte, so wird er nach dem Jahre 1905 nicht mehr derselbe sein, der er vor den ruhmreichen Oktobertagen gewesen – so wenig wie der Bachsche Absolutismus identisch war mit dem Absolutismus Metternichs. So gewiss das russische Reich ohne den Kapitalismus nicht bestehen kann, so gewiss erwachen auch dort alle Nationen zu neuem kulturellen Dasein, und so gewiss die Psvche aller Völker sich durch den Kapitalismus verändert, so gewiss wird die Knechtung der Nationen durch den Zarismus dereinst unerträglich und unmöglich werden. Früher oder später, auch Russland wird einst reif werden für die nationale Autonomie.
Welchen staatlichen Formen diese soziale Entwicklung, die hier als nationale Entwicklung in Erscheinung tritt, entgegentreibt, lässt sich heute, mitten in den Ereignissen der Revolution, noch nicht feststellen. Wir müssen uns daher hier auf die Erörterung der Frage beschränken, welchen Einfluss diese große Umwälzung auf den Bestand der österreichisch-ungarischen Monarchie üben wird.
Hier ist nun zunächst die weitverbreitete Meinung abzuwehren, dass Russland, sobald erst seinen Nationen die freie Entwicklung ihrer nationalen Kultur gesichert ist, auf alle slavischen Nationen der Monarchie eine starke Anziehungskraft ausüben wird. Diese Meinung wurde früher von der deutschen Bürokratie und wird heute von der magyarischen Gentry verbreitet, die die Herrschenden mit dem Gespenst des Panslavismus schreckt, um die Knechtung der slavischen Nationen als Lebensinteresse der Monarchie zu erweisen. Sie wird durch kindische Demonstrationen slavischer Politiker unterstützt, die mit dem Gedanken des Abfalles von Österreich spielen, um von den Herrschenden Zugeständnisse für ihre Nation zu erpressen. In Wirklichkeit ist die Gefahr, dass Tschechen, Slovenen, Slovaken jemals, solange die Monarchie besteht, große Sehnsucht nach der Zugehörigkeit zum russischen Reiche empfinden sollten, sehr gering. Der Panslavismus war zunächst nur ein Mittel, das erwachende Nationalgefühl der jungen slavischen Nationen in Österreich zu beleben. An der traurigen Lage des tschechischen Volkes in den Dreißiger- und Vierzigerjahren des 19. Jahrhunderts konnte sich das Nationalgefühl nicht entzünden; so zauberte man denn dem Volke das Bild einer großen slavischen Nation vor Augen. Diesen Charakter trägt der Gedanke des Panslavismus beispielsweise in den Dichtungen Kollárs. Aber je mehr die einzelnen slavischen Nationen fortschreiten, desto mehr werden sie sich ihrer nationalen Sonderart, ihrer Unterschiedenheit von anderen slavischen Völkern bewusst, desto mehr verblasst das Trugbild der einheitlichen slavischen Nation vor der Wirklichkeit des eigenen nationalen Lebens. So setzt bei den Tschechen schon Havlíček der panslavistischen Schwärmerei das selbstbewusste Wort „Čech, né Slovan“, „Als Tscheche fühle ich mich, nicht als Slave“, entgegen. Wenn die Tschechen, sei es in Österreich, sei es in einem großen deutschen Reiche, unter deutscher Fremdherrschaft leben müssten. so würden sie wohl die Zugehörigkeit zum russischen Reiche deutscher Fremdherrschaft vorziehen. Aber solange die Monarchie bestehen kann und je mehr die Monarchie sich zur nationalen Autonomie entwickelt, werden sie die Erhaltung der Monarchie gewiss stets verteidigen müssen; in keinem Staatengebilde, auch nicht in einem großen allslavischen Reiche könnten die Tschechen stärker sein als in Österreich.
Das Erwachen des Panslavismus braucht also die Monarchie vom Siege der russischen Revolution nicht zu fürchten. Eine ganz andere Gefahr droht ihr, wenn die Völker Russlands sich ihre Freiheit erkämpfen. Die Monarchie hat mit Russland zwei Nationen gemein: die Polen und die Ruthenen. Im Augenblick, in dem diese Nationen in Russland ihre Freiheit erkämpfen, stehen wir vor der Frage, ob sie nicht auch den Kampf für ihre nationale Einheit aufzunehmen willens sind.
Sehr bezeichnend ist es, wie die ersten Erfolge der russischen Revolution das Verhältnis der Ruthenen zu Österreich verändert haben. Solange die ukrainische Nation in Russland keine Hoffnung ihrer Befreiung sah, waren die Ruthenen eine starke Stütze österreichischer Macht. So gewiss waren die Machthaber ihrer Zuverlässigkeit, dass sie ohne jede Furcht vor einer ruthenischen Irredenta die nationalen Interessen der Ruthenen den Polen völlig preisgeben konnten. Heute liegen die Dinge ganz anders. Das Erwachen der ukrainischen Nation in Russland wird zweifellos auch den Prozess der Neubelebung der österreichischen Ruthenen beschleunigen. Erkämpfen die Kleinrussen im russischen Reiche sich nationale Rechte, so ist die Herrschaft der polnischen Schlachta in Ostgalizien nicht zu halten. Dann muss Österreich seinen Ruthenen die nationale Autonomie gewähren, wenn es nicht an der stets gefährdeten Ostgrenze eine staatsfeindliche Nation haben will.
Indessen scheint das ruthenische Volk bisher nur verhältnismäßig langsam den Weg zu neuer lebendiger nationaler Kultur zurückzulegen. Viel früher als die ruthenische wird wohl die polnische Frage Österreich vor eine Reihe schwieriger Probleme stellen.
Den Grund zu einer wissenschaftlichen Erörterung der polnischen Frage hat die verdienstvolle Schrift Rosa Luxemburgs [3] gelegt. Sie hat gezeigt, dass die polnische Frage heute ganz anders betrachtet werden muss als 1861 oder 1863. Wer immer heute die polnische Frage studiert, wird von der Tatsache der außerordentlich schnellen industriellen Entwicklung des Königreiches Polen ausgehen müssen.
Die Entwicklung der großen Industrie in Polen fällt in die Jahre 1850 bis 1870. Durch die Beseitigung der Zollgrenze zwischen Russland und Polen im Jahre 1851, die Entwicklung des Eisenbahnwesens seit 1862, die Abschaffung der Hörigkeit im Jahre 1864 wurde die kapitalistische Entwicklung des Landes beschleunigt. Seit 1877 wurde die polnische Industrie durch die Schutzzollpolitik der russischen Regierung gefördert. So entstand, die große Industrie des Königreiches: die Textilindustrie in Lodz und Umgebung, die Kohlen- und Eisenproduktion im Gebiet von Sosnowitz, der Maschinenbau und die Zuckerindustrie im Rayon von Warschau. Heute ist Polen nach dem Petersburger und Moskauer Industriegebiet das kapitalistisch höchst entwickelte Gebiet des russischen Reiches.
Rosa Luxemburg hat nun darauf hingewiesen, dass die Interessen der polnischen Kapitalistenklasse der Losreißung Polens von Russland widerstreiten. Denn ein sehr großer Teil dieser Industrie arbeitet für russische Absatzmärkte. Nach einer offiziellen Erhebung sucht die Hälfte der Erzeugnisse der polnischen Industrie auf dem russischen Markte Absatz. Im Jahre 1886 sollen die 141 größten Fabriken des Landes 63 Prozent ihrer Waren in Russland abgesetzt haben. Im Jahre 1898 soll die polnische Textilindustrie wenigstens 50 Prozent ihrer Erzeugnisse im Werte von etwa 135 Millionen Rubel nach Russland ausgeführt haben. Nach Zukowski haben die eisenverarbeitenden Industrien Dreifünftel ihrer Produktion nach den russischen Märkten exportiert. Dieser Ausfuhr von industriellen Erzeugnissen steht eine beträchtliche Einfuhr von Lebensmitteln und industriellen Rohstoffen aus Russland nach Polen gegenüber. Wenn Polen von Russland durch eine Zollgrenze getrennt würde, so würde dies den Untergang zahlreicher Unternehmungen, für einen großen Teil der Kapitalistenklasse in Polen den wirtschaftlichen Untergang, auch für die Arbeiter verminderte Arbeitsgelegenheit und Verteuerung der Lebensmittel bedeuten. Daraus schließt man, dass für die Dauer der kapitalistischen Gesellschaft an eine Losreißung Polens von Russland nicht zu denken sei; die Befreiung Polens von russischer Herrschaft würde die Interessen der Kapitalisten und Arbeiter schädigen, die kapitalistische Entwicklung des Landes hemmen, die Verbreiterung der nationalen Kulturgemeinschaft aufhalten. Die Polen müssen daher, so meint man, die Hoffnung, noch in der kapitalistischen Gesellschaft einen selbstständigen Nationalstaat zu begründen, dauernd aufgeben.
Ich halte diesen Gedankengang für außerordentlich wichtig und beachtenswert. Trotzdem ist damit noch bei weitem nicht alles gesagt, was die Wissenschaft zur polnischen Frage zu sagen hat. Es genügt nicht, festzustellen, dass durch die kapitalistische Entwicklung Polens Klassen geschaffen wurden, deren Interesse der Wiederherstellung eines polnischen Staates in der kapitalistischen Gesellschaft widerstreitet; es gilt vielmehr zu forschen, wie durch die veränderten Produktionsbedingungen das geistige Wesen der Menschen, ihre Stimmungen, Wünsche, Ideen verändert worden sind, und zu fragen, wie die veränderte geistige Beschaffenheit der Nation die Stellung der Massen zur Frage des polnischen Nationalstaates verändert. Die Politik jeder Klasse ist nicht nur durch ihre Klasseninteressen, sondern auch durch die ihr eigentümliche, von ihren sozialen Daseinsbedingungen erzeugte Klassenideologie bestimmt.
Die kapitalistische Entwicklung bewirkt auch hier schnelle Verschiebung der Volksmassen vom Lande in die Städte und Industrieorte. Das Königreich Polen hatte 1857 eine Bevölkerung von 4.734.000, 1897 eine Bevölkerung von 9.457.000 Einwohnern. Während dieser 40 Jahre wuchs die städtische Bevölkerung von 1,130.600 auf 2,978.000, also von 23,5 Prozent auf 31,5 Prozent der gesamten Bevölkerung. Innerhalb der Städte wachsen aber am schnellsten die eigentlichen Industrieorte. Das Königreich hatte
Jahr |
|
Städte mit mehr als |
|
Einwohnerzahl |
---|---|---|---|---|
1857 |
7 |
246.000 |
||
1872 |
15 |
524.000 |
||
1897 |
35 |
1.756.000 |
Ein schnell wachsender Teil der gesamten Bevölkerung lebt also in den größeren Städten, den eigentlichen Sitzen der polnischen Industrie.
Gleichzeitig verändert sich aber auch die Zusammensetzung der städtischen Bevölkerung. Es betrug die Zahl der [4]:
Jahr |
|
Handwerker |
|
Fabriksarbeiter |
---|---|---|---|---|
|
Tausende |
|||
1855 |
85,9 |
|
56,4 |
|
1866 |
94,9 |
69,2 |
||
1880 |
104 bis 110 |
121,8 |
||
1888 |
124 |
161 bis 168 |
||
1900 |
130 bis 140 |
300 |
Seit 1880 ist die Zahl der Fabriksarbeiter also bereits größer als die der Handwerker, heute ist sie schon mindestens doppelt so groß. Erinnern wir uns noch, dass auch innerhalb der hier als Handwerker gezählten sich sehr viele proletarische und kapitalshörige Existenzen befinden, so sehen wir, dass den Städten und Industriegebieten mehr und mehr die Proletarier ihr Wesen einprägen.
Wie wirken nun diese sozialen Veränderungen auf die Stellungnahme des polnischen Volkes zu der Forderung des polnischen Nationalstaates? Hier interessiert uns zunächst die Stellung der industriellen Arbeiterklasse zur polnischen Frage. Wir haben gesehen, wie der revolutionären Stimmung bei den Arbeitern der historischen Nationen der naive Kosmopolitismus, bei den Arbeitern der geschichtslosen Nationen der naive Nationalismus entspringt (§ 20). Die polnische Nation befindet sich nun in einer merkwürdigen Zwischenstellung: sie ist einerseits eine historische Nation, umfasst nicht nur unterdrückte und ausgebeutete, sondern auch herrschende und ausbeutende Klassen, den polnischen Adel und heute auch schon die polnische Bourgeoisie. Andererseits aber ist die polnische Nation eine geknechtete Nation, die unter der russischen Fremdherrschaft leidet. Daraus ergibt sich nun die zwiespältige Stellung der polnischen Arbeiter zur nationalen Frage.
Einerseits ist sich der polnische Arbeiter seines Klassengegensatzes gegen den polnischen Adel und das polnische Großbürgertum bewusst. Die Ausbeutung fällt hier nicht mit der Fremdherrschaft zusammen: während der tschechische Arbeiter einem deutschen Unternehmer front, erscheint dem polnischen Arbeiter sein unmittelbarer Klassengegner – immer der Großgrundbesitzer, häufig auch schon der Fabrikant – als Pole. Das national-staatliche Ideal erscheint hier zunächst als Ideal des Adels und des Bürgertums. Mit ihnen hat der Arbeiter nichts gemein. Dagegen sieht er im russischen, deutschen, jüdischen Arbeiter seinen Leidens- und Kampfgenossen. So treibt den polnischen Arbeiter, wie jeden Arbeiter einer historischen Nation, sein revolutionärer Instinkt zum naiven Kosmopolitismus.
Andererseits aber lebt die polnische Nation unter russischer Fremdherrschaft. Der Klassenstaat, der die Ausbeutung sichert und den kämpfenden Arbeitern seine Polizisten und Soldaten entgegenschickt, erscheint als fremde, russische Macht. Die Freiheitssehnsucht des revolutionären Arbeiters erzeugt notwendig den Drang. das Joch des fremden Staates abzuwerfen. So treibt den polnischen Arbeiter, wie jeden Arbeiter einer unterdrückten Nation, sein revolutionärer Instinkt zum naiven Nationalismus.
So kämpfen zwei Grundbestimmungen in den Köpfen der polnischen Arbeiter. Indem jede dieser allgemeinen Stimmungen, die beide dem revolutionären Instinkt der Arbeiterklasse entspringen. sich zum politischen Programm verdichtet, entstehen die beiden sozialistischen Arbeiterparteien Polens, die „polnische sozialistische Partei“ (PPS) und die „Sozialdemokratie des Königreiches Polen“ (SD). Der Widerspruch der Stimmungen des polnischen Proletariats malt sich im Widerstreit der beiden sozialistischen Arbeiterparteien. Der innere Widerspruch, dass die Polen nicht eine geschichtslose, sondern eine historische Nation und trotzdem eine unterdrückte Nation sind, tritt im äußeren Gegensatz der beiden sozialistischen Parteien in Erscheinung.
Es ist töricht, in der Spaltung des polnischen Sozialismus persönliche Schuld der kämpfenden Genossen zu sehen – sie als das Erzeugnis „marxistischer Unduldsamkeit“, wie die einen meinen, als das Ergebnis ökonomischer Unwissenheit, wie die anderen sagen, zu beklagen. Die beiden Arbeiterparteien in Polen sind gleich notwendig entstanden, indem jede zum Ausdruck einer der widerstreitenden Stimmungen der polnischen Arbeiterklasse wurde. Aber indem jede dieser beiden Seiten des Bewusstseins des polnischen Proletariats sich in einer besonderen Partei verkörperte, erhielt der Gegensatz eine Schroffheit, die nicht mehr dem Bewusstseinszustande des Proletariats, sondern dem Doktrinarismus der Intelligenz entspricht. Die polnische Arbeiterklasse, der immer noch der Zarismus die Schulung in einer öffentlich arbeitenden Organisation unmöglich macht, bedarf wie jedes junge, eben erst erwachende Proletariat der Leitung der sozialistischen Intelligenz. Aber diese Intelligenz ist durch eine harte Schule gegangen: Jahrzehntelang ausgeschlossen von unmittelbarer praktischer Wirksamkeit, von den Schergen des Zaren in das Ausland vertrieben, ward ihr jener merkwürdige Doktrinarismus angezüchtet, den wir Deutsche so gut aus unserer eigenen Geschichte kennen. Die polnische Intelligenz hat alle Vorzüge des deutschen Rationalismus der Vierzigerjahre, das leidenschaftliche Streben nach Wissen, nach theoretischer Vertiefung aller Probleme, die heilsame Verachtung für den kleinlichen Geist bürgerlicher „Realpolitik“, der in jedem Augenblicke die großen Gedanken der Arbeiterklasse um ein Linsengericht zu verkaufen bereit ist, die männliche Entschlossenheit zum opfervollen Kampfe für das einmal als richtig erkannte Ziel, aber auch die Laster dieser Tugenden, die Unfähigkeit zur Vereinigung aller Kräfte auf das nächste Ziel, die Neigung, im Streit um Lehrmeinungen, die erst für die Entschließungen kommender Jahrzehnte von Bedeutung sein werden, heute schon die Kräfte der Arbeiterklasse zu zersplittern, die Neigung, der Kritik theoretischer Irrtümer die Notwendigkeiten des Klassenkampfes zu opfern. Die Intelligenz, der das Elend der Verbannung, der erzwungenen Untätigkeit diese Tugenden und Laster angezüchtet, bemächtigte sich nun des inneren Widerstreites der Grundstimmungen der Arbeiterklasse. Nur so können wir Jene seltsamen Erscheinungen erklären, die den westeuropäischen Arbeitern kaum verständlich sind: in einer Zeit, da die Macht des Zarismus noch nicht gebrochen ist, in der noch täglich die Kämpfer der Arbeiterklasse eingekerkert, erschossen, gehenkt werden, streiten die Arbeiter von Warschau und Lodz darum, ob das Verhältnis zwischen Russland und Polen von der konstituierenden Versammlung in Petersburg oder vom konstituierenden Landtag in Warschau geregelt werden soll, ob sie den Achtstundentag von der russischen Duma oder vom polnischen Landtag verlangen sollen, ob Polen Russlands Absatzmärkte braucht oder nicht. In steter Gefahr für Freiheit und Leben werden Versammlungen abgehalten, werden in geheimen Druckereien Zeitungen und Flugschriften gedruckt, die nicht den Zarismus, nicht den Kapitalismus bekämpfen, sondern – die sozialistische Gegenpartei.
Die polnischen Arbeitermassen aber verstehen diesen Kampf nicht. Die Berichte beider Parteien stimmen darin überein, dass oft genug dieselben Arbeiter heute dem Redner der SD, morgen den Wortführern der PPS Beifall spenden. Das liegt nicht, wie die Parteien klagen, an der Unreife, an der noch geringen Schulung des polnischen Proletariats. Wie könnte der einzelne Arbeiter den Kampf der Parteien begreifen, von denen doch die eine so gut wie die andere eine Seite seines Wesens ausdrückt: Wohl aber liegt es an der durch kapitalistische Ausbeutung und staatliche Unterdrückung verschuldeten Unreife der polnischen Arbeiter, dass sie nicht imstande sind, dem Bruderkampf ein Ende zu machen, der die Macht ihrer Klasse verringert. Aber je mehr das Proletariat durch den Kampf selbst geschult wird, je schneller die proletarischen Organisationen wachsen. Je mehr die Intelligenz gezwungen wird, die in der Verbannung vergangener Zeit scharf gemeißelten Formeln im täglichen Klassenkampfe zu erproben, desto mehr erstarkt auch das Bedürfnis nach einer einheitlichen Klassenpolitik des polnischen Proletariats. Das Entstehen des „neuen Kurses’“ innerhalb der PPS war, mag es auch zunächst zu weiterer Spaltung geführt haben, gewiss ein deutliches Zeichen für das Erstarken der Einheitsbewegung in der polnischen Arbeiterklasse. Das nächste Ziel dieser einheitlichen proletarischen Politik in der nationalen Frage kann aber gar kein anderes sein als die Autonomie der Polen im Rahmen des russischen Reiches. Diese Autonomie ist notwendig geworden durch die kulturelle Entwicklung der polnischen Nation unter dem Einfluss des Kapitalismus. Die Entwicklung des Kapitalismus hat auch hier die Tendenz, die Kulturgemeinschaft zu verbreitern. Der polnische Arbeiter ist durch ganz andere Bande mit der Nation verknüpft als der polnische Bauer im Jahre 1863. Und auch der polnische Bauer wird allmählich der Nation eingegliedert werden: der seit einer Reihe von Jahren beobachtete Fortschritt des mittleren Grundbesitzes auf Kosten der kleinen Häusler und der Schlachta wird auch hier die Grundlage sein zur kapitalistischen Umgestaltung der Landwirtschaft, zur engeren Eingliederung des Bauern in die Warenproduktion, zum Übergang zu intensiverer Kultur. So wenig der Bauer Russisch-Polens heute etwa als moderner Landwirt im westeuropäischen Sinne betrachtet werden kann, die kapitalistische Entwicklung wird auch hier zweifellos den modernen Landwirt schaffen. So verbreitert sich der Kreis der Nationsgenossen hier wie bei allen kapitalistischen Nationen, indem einerseits aus Bauernsöhnen Arbeiter werden, indem andererseits das Wesen der bäuerlichen Wirtschaft und dadurch auch die bäuerliche Psychologie sich verändert. Damit aber werden erst die Wirkungen der nationalen Unterdrückung den breiten Volksmassen fühlbar. Nun hat nicht mehr der Adel allein, sondern haben wirklich die breiten Massen des Volkes ein Interesse an der Entwicklung der nationalen Kultur, am Ausbau eines nationalen Schulwesens. Gleichzeitig steigert sich aber auch das Selbstbewusstsein der breiten Volksmassen. Sie, die alle Unterdrückung hassen, werden am allerwenigsten die Unterdrückung in ihrer anschaulichsten Gestalt, die Fremdherrschaft, ertragen. Der Kampf um die Rechte der polnischen Sprache wird nun auch ihr nationaler Kampf. Die polnischen Sozialisten müssen selbst Wortführer dieser Forderungen werden, die, einst nur Forderungen des Adels, durch die Verbreiterung der Kulturgemeinschaft und durch die Steigerung des Selbstbewusstseins der Massen infolge der kapitalistischen Entwicklung nun auch zu Forderungen der Arbeiter geworden sind, bald auch zu Forderungen der Bauern werden. Täten sie dies nicht, so würden bürgerlich-nationale Parteien die Arbeiter ihrer Gefolgschaft einreihen. Eine sozialistische Partei, die sich nicht zur Wortführerin der aus der Klassenlage der Arbeiterschaft entspringenden nationalen Forderungen machen wollte, würde ihre erste Pflicht vernachlässigen: die Konstituierung der Arbeiterklasse als selbstständige politische Partei.
Wollen aber die polnischen Sozialisten ihrer Nation die freie Entwicklung ihrer nationalen Kultur sichern, so können sie dies nicht durch eine atomistisch-zentralistische Verfassung nach österreichischem Muster, sondern nur durch die nationale Autonomie. So gut wie die Arbeiter aller Nationen in Österreich werden auch die polnischen Arbeiter in Russland zunächst für die nationale Autonomie kämpfen müssen.
Auch die sehr verschiedenartige Kulturstufe der einzelnen Teile des russischen Reiches zwingt die polnischen Arbeiter zum Kampfe um die nationale Autonomie. Die soziale Zusammensetzung Polens ist wesentlich anders als die der anderen, kapitalistisch minder hoch entwickelten Teile des Reiches. Würde das ganze große russische Reich ein einheitliches Verwaltungsgebiet bilden, so wäre Polen bei jedem Schritt durch das Schwergewicht der großen Bauernmasse des Reiches gehemmt, es würde künstlich auf einer niedrigeren Kulturstufe, als seiner eigenen wirtschaftlichen Entwicklung entspricht, erhalten. Gerade der Umstand, dass Polen kapitalistisch vorgeschrittener ist als die meisten anderen Teile des russischen Reiches, wird also zur Triebkraft des Kampfes um Polens Autonomie.
Es ist nicht unsere Aufgabe, zu erforschen, welche staatsrechtlichen Formen dieses Bedürfnis der polnischen Arbeiter nach nationaler Autonomie befriedigen könnten. Uns interessiert vielmehr die Frage, ob wir uns die nationale Autonomie wirklich als einen Abschluss der polnischen Entwicklung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft denken können oder ob die Entwicklung noch darüber hinaus treiben wird zur völligen Losreißung Polens von Russland.
Nehmen wir zunächst an, es gelinge den polnischen Arbeitern, sich die nationale Autonomie innerhalb des russischen Reiches zu erkämpfen. In diesem Falle würde die Entwicklung Russisch-Polens die polnische Frage innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft wohl kaum mehr aufrollen. Den Bedürfnissen der Klassenideologie der Arbeiter und Bauern wäre genug getan; das Klasseninteresse würde Bourgeoisie und Arbeiterklasse zwingen, das Band, das Polen mit Russland noch verknüpft, nicht ganz zu zerschneiden. Der Traum der polnischen Einheit würde auch dann nicht vergessen werden. so wenig wie die Deutschen Österreichs an den großdeutschen Gedanken vergessen haben. Aber er würde in Russisch-Polen zunächst seine unmittelbare politische Kraft verlieren. Nicht in Russisch-, sondern in Preußisch-Polen läge dann der Schwerpunkt der polnischen Frage. An dem Tage, an dem das russische Reich den Polen nationale Selbstverwaltung gewähren muss, ist die Unterdrückung der Polen in Preußen nicht mehr erträglich. Dies hat vielleicht niemand früher durchschaut als Bismarck. der schon im Jahre 1863 die polenfreundliche Partei in Petersburg bekämpfte, weil er im Frieden zwischen Russen und Polen schon damals die Gefahr für Preußen erkannte. Am Tage, nachdem die nationale Autonomie in Russland verwirklicht ist, ist die polnische Frage wesentlich nicht mehr eine Frage der inneren Entwicklung Russlands, sondern eine Frage der inneren Entwicklung Preußens. Wie diese Entwicklung sich gestalten wird, wissen wir nicht. Undenkbar ist es gewiss nicht, dass etwa im Augenblicke eines großen Weltkrieges, in den das Deutsche Reich durch seine imperialistische Politik verwickelt würde, ein polnischer Aufstand entsteht, der auch breite Massen in den polnischen Teilen des russischen Reiches und Österreichs mit sich reißt. Ob dies geschehen wird, ob in einem solchen Augenblicke kriegerischer Umwälzung die Polen auch die Möglichkeit haben werden, den nationalen Einheitsstaat zu schaffen, kann heute niemand wissen. Darüber können geistreiche Essais über das Thema, dass jede Nation notwendig nach selbstständigem staatlichen Dasein strebt, ebensowenig entscheiden, wie scharfsinnige ökonomische Untersuchungen der Klasseninteressen der Bourgeoisie in Russisch-Polen.
Ganz anders, wenn es den polnischen Arbeitern in Russland nicht gelingt, sich die nationale Autonomie zu erkämpfen. Dann hört der Kampf des polnischen Volkes um die nationale Autonomie nicht auf. Man mag die polnischen Arbeiter mit Kerker und Galgen ein paar Jahre lang niederhalten, ihr Kampf wird immer wieder aufleben. Der Widerspruch der unerträglichen Satzung und der kulturellen Entwicklung der Nation treibt immer wieder zur Revolution. Wohin aber dieser Kampf um die nationale Autonomie führen wird, kann niemand sagen. Der Kampf selbst macht den Gedanken der nationalen Freiheit zum sicheren Eigentum der Massen. Es mag sein, dass sie in einem günstigen Augenblicke sich die nationale Freiheit im Rahmen Russlands erkämpfen. Aber wer will leugnen, dass sie einmal daran verzweifeln könnten, in Russland ihre Freiheit zu erkämpfen und dass sie im geeigneten Augenblicke, vielleicht wiederum im Zeitpunkt eines Krieges, mit den Waffen in der Hand die endliche Antwort auf die Fragen der nationalen Freiheit und nationalen Einheit zugleich suchen? In einem solchen Augenbhcke wird das Proletariat nicht berechnen, ob es die russischen Absatzmärkte braucht; die im jahrzehntelangen Kampfe entwickelte Klassenideologie ist dann stärker als alle nüchterne Erwägung des Klasseninteresses. Und wenn polnische Bauern und polnische Arbeiter einmal, an der russischen Demokratie verzweifelnd, den blutigen Kampf für Polens Freiheit nochmals wagen müssten, dann würde auch der Widerstand der Bourgeoisie nichts fruchten. Im Augenblicke einer vom Proletariat getragenen Revolution kann keine Bourgeoisie es wagen, der allmächtig gewordenen Ideologie der gesamten Nation entgegenzutreten.
Die russische Revolution ist für Österreich vor allem eine polnische Frage. Diese Erwägungen zeigen daher, dass die Meinung Engels’, nach dem Siege der Demokratie in Russland werde Österreich von selbst zerfallen, nicht haltbar ist. Wenn die russische Demokratie siegt, die nationale Autonomie im russischen Reiche verwirklicht wird, so wird Österreich um seiner Polen und Ruthenen willen die eigene Entwicklung zur nationalen Autonomie beschleunigen müssen; zu den uns schon bekannten Tendenzen zur organischen Regelung der nationalen Verhältnisse in Österreich gesellt sich dann eine neue Kraft. Aber in diesem Falle kann sich nicht mehr in Russland, sondern nur noch in Preußen ein polnischer Aufstand entzünden. Wenn man sich vorstellt, dass der Zerfall Österreichs durch einen Aufstand seiner Polen eingeleitet wird, dann droht diese Gefahr ihm nicht von der russischen, sondern von einer preußischen Revolution. Anders wenn die Revolution in Russland unterliegt. Dann kann der Kampf des polnischen Volkes in Russland allerdings in eine nationale Revolution umschlagen, die unter Umständen auch nach Österreich übergreifen könnte. Nicht vom Siege, sondern von der Niederlage der russischen Revolution droht also dem Bestände der Monarchie eine Gefahr. Aber auch in diesem Falle besteht diese Gefahr doch nur dann, wenn eine eigenartige weltpolitische Konstellation einen polnischen Aufstand denkbar macht.
Man begegnet freilich sehr oft anderen Vorstellungen. In Österreich spielen einzelne Politiker noch mit dem Gedanken, die polnische Frage in den Dienst der österreichischen Politik zu stellen, wie dies manche Diplomaten während des Krimkrieges und während des polnischen Aufstandes von 1863 befürworteten. Manche polnischen Politiker setzen ihre Hoffnung darauf, dass Österreich im Zeitpunkt eines polnischen Aufstandes Russland den Krieg erklären, Polen befreien und mit Galizien zu einem polnischen Königreich. von einem österreichischen Erzherzog beherrscht, vereinigen werde. In diesem Falle würde also die polnische Frage nicht nur nicht die Auflösung des Donaureiches einleiten, sondern ihm beträchtlichen Machtzuwachs bringen. Ich halte diesen Plan, an dem sich manchmal noch österreichische Patrioten und polnische Revolutionäre erfreuen, für völlig aussichtslos. Zunächst vergesse man nicht, dass, wie wir wissen, die Monarchie noch vor harten Kämpfen zwischen den beiden Reichshälften und zwischen den einzelnen Nationen steht, ehe sie die nationale Autonomie wird verwirklichen können, dass also ihre inneren Verhältnisse ihr eine so kühne auswärtige Politik kaum gestatten werden. Auch vergesse man nicht an die Stärke des dynastischen Sohdaritätsgefühls, das es den Habsburgern kaum erlauben wird, sich mit der polnischen und russischen Revolution zu verbünden. Weiter machen wir uns klar, dass, wenn Österreich ein selbstständiges Polen wieder herstellen wollte, es zweifellos nicht nur Russland, sondern gleichzeitig auch das Deutsche Reich als seinen Gegner sehen würde, dass gleichzeitig für Italien der Augenblick gekommen wäre, die Frage des Besitzes Albaniens und des Trentino aufzurollen, dass, wenn Russland und Österreich im Kampfe miteinander stehen, gewiss gleichzeitig der Krieg auf dem Balkan entbrennt. Und wie wird dies alles auf die Nationen Österreichs einwirken? Werden die Deutschen willig in den Krieg ziehen, der mittelbar oder unmittelbar auch ein Krieg gegen das Deutsche Reich wäre? Werden die Südslaven im Kampfe gegen die slavischen Balkanstaaten ihren Mann stellen? Es mag sehr beklagenswert sein, dass wir nicht hoffen dürfen, dass Österreich sein Schwert der Revolution im russischen Reiche zur Verfügung stellen wird. Aber es musste einmal gesagt werden, dass wir diese Hoffnung fahren lassen müssen, da unbegreiflicherweise immer noch sonst ganz besonnene Politiker an diesen Traum ihre Hoffnung knüpfen.
Nicht viel wahrscheinlicher ist auch die andere, gelegentlich noch erwähnte Eventualität, dass Russland seine Polen befreien, Galizien erobern und dann aus Russisch-Polen und Galizien ein polnisches Königreich bilden wird. Bekanntlich hat die russische Regierung in den Siebzigerjahren – vor dem russisch-türkischen Kriege – mit diesem Plan gespielt. Aber dieser Weg ist für Russland nicht gangbar, ehe es seinen Polen nicht Autonomie gewährt und das Freiheitsbegehren der eigenen Völker wenigstens einigermassen befriedigt hat. Heute könnte diesen Weg gewiss kein absolutistisches, gewiss nur ein, wenn schon nicht demokratisches. so doch wenigstens konstitutionelles Russland betreten. Aber ein konstitutionelles Russland wird wohl für geraume Zeit ganz andere Sorgen haben als den Krieg gegen Österreich. Von allen anderen Gründen abgesehen, ist schon die finanzielle Not Russlands ein Hindernis dieser Politik. Und auch für Russland wäre diese Politik nicht ungefährlich; zweifellos würde es diesen Krieg nicht nur gegen Österreich, sondern auch gegen das Deutsche Reich führen müssen. Immerhin ist die Vorstellung, dass das russische Reich seine Armeekorps einmal marschieren lassen wird, um Polens Freiheit und Einheit zu verwirklichen, so unwahrscheinlich dies auch heute klingt, weit eher denkbar als die Hoffnung mancher Polen auf eine österreichische Intervention zu ihren Gunsten. Aber einer solchen russischen Politik wäre die Befreiung der in Österreich lebenden Polen und Ruthenen gewiss nicht Zweck, sondern Mittel: sie würde die Leidenschaften des Volkes mit dem Programm nationaler Freiheit erhitzen, um das Volk in einen Eroberungskrieg zu treiben: man würde von Polen und Ruthenen sprechen und Konstantinopel und Salonik meinen. Wir sehen, dass bei einer solchen Politik gar nicht mehr das alte, von uns bisher erörterte, sondern ein ganz neues, anderen Kräften entsprungenes, anderen Zwecken dienendes Nationalitätsprinzip wirksam wäre.
Die Niederlage der russischen Revolution kann den Kampf der Polen im russischen Reiche um ihre Autonomie in eine Revolution für ihre völlige Freiheit und Einheit umschlagen lassen, wenn die weltpolitische Konstellation einem neuen polnischen Aufstand Sieg verspricht. Der Sieg der russischen Revolution macht die polnische Frage vor allem zu einer preußischen Frage; auch dann noch bleibt ein polnischer Aufstand möglich, aber möglich doch nur – solange die kapitalistisch-militärische Herrschaft in Preußen aufrecht steht – im Augenblicke, in dem die Kräfte des Deutschen Reiches durch weltpolitische Verwicklungen gebunden sind. Endlich ist es für eine fernere Zukunft auch denkbar, dass ein demokratisches oder konstitutionelles Russland einen Krieg gegen Österreich unternimmt, um Polen und Ruthenen von der Monarchie loszureißen. Aber auch dies wäre nur möglich, wenn Russland sich der polnischen und ukrainischen Frage bediente, um einen kapitalistischen Expansionskrieg als nationalen Freiheitskrieg erscheinen zu lassen. Die russische Revolution innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft treibt also noch nicht zur Losreißung der österreichischen Polen und Ruthenen von Österreich, sie allein wird also auch nicht, wie Engels meinte, Österreichs Zerfall herbeiführen, wozu ja die Loslösung Galiziens vielleicht der erste Schritt wäre. Nicht an sich bedeutet die russische Revolution eine Gefahr für den Bestand der Monarchie, sondern nur dann, wenn die Spannung der Nationen im Osten durch eine große weltpolitische Umwälzung zur Lösung kommt. Nicht die polnische, nicht die ruthenische Frage wird Österreich auseinanderreißen, vielmehr wird die polnische und ukrainische Frage gelöst werden, wenn Österreich auseinandergerissen wird, durch die Umwälzungen auseinandergerissen wird, die die kapitalistische Expansionspolitik möglich macht. So sehen wir uns denn vor eine neue Aufgabe gestellt. Wir müssen das Wesen der modernen imperialistischen Politik und damit das Wesen der modernen auswärtigen Politik überhaupt untersuchen. Zu dieser schwierigen Untersuchung können wir hier freilich nur in einer flüchtigen Skizze einiges beitragen. Es wird sich aber zeigen, dass die Untersuchung die Mühe wohl lohnt. Indem wir den Wurzeln der modernen auswärtigen Politik nachforschen, indem wir die inneren sozialen Gegensätze aufdecken, die sie erzeugt, werden wir zugleich zeigen, wie die auswärtige Politik der hochkapitalistischen Staaten dem Nationalitätsprinzip einen neuen Sinn gibt. Indem wir diese Frage aufrollen, werden wir sehen, wie weit die kapitalistische Gesellschaft das Nationalitätsprinzip überhaupt zu verwirklichen, das Bedürfnis der Nationen nach selbständigem staatlichen Dasein zu befriedigen vermag. Erst auf dieser Grundlage kann die sozialistische Nationalitätenpolitik restlos bestimmt werden.
1. Palacký, Österreichs Staatsidee, Prag 1866, S.85.
2. Engels, Gewalt und Ökonomie bei der Herstellung des neuen Deutschen Reiches, Neue Zeit, XIV, I, S.687.
3. Luxemburg, Die industrielle Entwicklung Polens, Leipzig 1898.
4. Koszutski, Rozwoj ekonomiczny krolestwa Polskiego, Warschau 1905, S.201.
Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008