Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


III. Der Nationalitätenstaat


§ 17. Das Erwachen der geschichtslosen Nationen


Der deutsche Charakter des österreichischen Staates wurde schon durch die politischen Umwälzungen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen, sehr wesentlich beeinträchtigt. Die Zahl der deutschen Untertanen wurde durch den Verlust Schlesiens und Vorderösterreichs verringert, andererseits wurde die Zahl der Slaven und Romanen durch die Erwerbung Galiziens und der Bukowina, der Lombardei und Venedigs, Trients, des südlichen Istrien und Dalmatiens vermehrt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zählte Österreich, wenn wir zunächst von Ungarn absehen, drei historische Nationen: die Deutschen und Italiener, die einen Adel und ein Bürgertum hatten, und die Polen, die durch ihren Adel den Charakter einer historischen Nation trugen; Tschechen, Ruthenen, Slovenen und Serben konnten noch als geschichtslose Nationen in dem uns bekannten Sinne gelten. In Ungarn waren nur die Magyaren und Kroaten wegen ihres Adels, die Deutschen wegen ihres Bürgertums historische Nationen; dagegen hatten Slovaken, Serben, Rumänen und Ruthenen keinen Anteil an den herrschenden Klassen, waren kulturell geschichtslose Nationen, politisch ohne alle verfassungsmäßigen Rechte. Der slovakische Adel war längst magyarisch, wie der tschechische deutsch, der ruthenische polnisch geworden.

Dieses Bild hat nun die Entwicklung der letzten 120 Jahre vollständig verändert. Der Kapitalismus und in seinem Gefolge der moderne Staat bewirken überall Verbreiterung der Kulturgemeinschaft, indem sie die Massen aus den Banden einer allmächtigen Überlieferung lösen und sie zur Mitarbeit an der Umschaffung nationaler Kultur berufen. Bei uns bedeutet dies das Erwachen der geschichtslosen Nation. Wir werden diesen Prozess, den tiefsten Grund unserer nationalen Kämpfe, an dem Beispiel derjenigen Nation darzustellen suchen, die ihn am schnellsten und erfolgreichsten zurückgelegt hat, am Beispiel der Tschechen. Dass die Tschechen den Weg von einer geschichtslosen zu einer historischen Nation schneller als die anderen Völker zurückgelegt haben, danken sie nicht etwa der Tatsache, dass sie zwei Jahrhunderte früher schon eine historische Nation gewesen sind, während beispielsweise die Slovenen schon seit einem Jahrtausend den herrschenden Klassen deutscher Nationalität unterworfen waren, sondern sie verdanken dies der günstigen geographischen Lage ihrer Siedlungen, der Tatsache, dass gerade die von ihnen bewohnten Länder die wirtschaftlich höchst entwickelten Länder Österreichs sind .und sie daher schneller als die anderen geschichtslosen Nationen in den Prozess kapitalistischer Kulturentwicklung hineingerissen wurden.

Wir wissen bereits, dass in der Zeit von 1620 bis 1740 die tschechische Nation für den Staat kaum existierte: Adel und Bürgertum waren deutsch; die Masse des tschechischen Volkes bestand aus Bauern, Häuslern, Taglöhnern, Dienstboten; sie hatten weder als Staatsbürger irgend einen rechtlichen Einfluss auf die Gesetzgebung, noch waren sie als Untertanen Gegenstand staatlicher Verwaltung; vielmehr hatte der Staat sie als Untertanen den Gutsherrschaften überlassen, die – bezeichnend genug – noch immer ihre „Obrigkeiten“ hießen. Allmählich beginnt nun der Staat an diesem Zustande der Dinge zu rütteln. Der Staat des 18. Jahrhunderts stellt eine merkwürdige geschichtliche Zwischenstufe dar: Er ist noch ein gutsherrlich-adeliger Staat, denn dem Adel sind alle einflussreichen Stellungen in der Verwaltung und im Heerwesen vorbehalten und über die großen Massen der Bevölkerung gebietet noch fast unbeschränkt der adelige Gutsherr; er ist aber doch schon ein bürgerlicher Staat, denn um seines eigenen Interesses willen muss er die Interessen des Bürgertums – und zwar die seiner kapitalistischen Oberschichte, der Bourgeoisie – fördern, wenn er bestehen will. In ganz Europa schreitet der Kapitalismus schnell vorwärts: Jeder Staat bedarf seiner, bedarf einer reichen Kapitalistenklasse als Steuerträgerin, wenn er die straffe bürokratische Verwaltungsorganisation und das zahlreiche Heer erhalten will, deren er in jener kämpfereichen Zeit nicht entraten kann. Keine Sorge wird in den Beratungen der obersten staatlichen Gesetzgebungs- und Verwaltungskollegien häufiger besprochen als die für die Steuerträger, die „k. k. Kontribuenten“. Mag der Staat noch immer fast ausschließlich adeliger Gutsherren sich als seiner Organe bedienen, um seiner selbst willen muss er doch schon bürgerliche Interessen fördern, die Geschäfte der Bourgeoisie besorgen. So ist dieser gutsherrlich-bürgerliche Klassenstaat eine jener interessanten Mischbildungen, die große weltgeschichtliche Übergangsepochen häufig erzeugen.

Dass der „aufgeklärte Absolutismus“ die Klasseninteressen der Bourgeoisie förderte, zeigt sich zunächst in seiner gewerblichen und industriellen Politik, der Politik des Merkantilismus. Der Staat schuf ein großes Wirtschaftsgebiet, um die kapitalistische Entwicklung zu beschleunigen; er gewährte den Fabrikanten hohe Schutzzölle und „ausschließliche Privilegien“, häufig auch Geldunterstützungen; er veranlasste den Adel zur Errichtung von Fabriken und zog fremde Unternehmer und Arbeiter in das Land; er beseitigte die Zunftgesetze, soweit sie die kapitalistische Entwicklung hemmten; er suchte durch Koalitionsverbote, durch Festsetzung von Maximallöhnen und Minimalarbeitszeit die Unternehmer gegen die schon damals gefürchtete „Begehrlichkeit’“ der Arbeiter zu schützen; er wollte den Unternehmern die qualifizierte Arbeitskraft bereitstellen, deren sie bedürfen, indem er die Kenntnis gewerblicher Tätigkeit selbst mit polizeilichem Zwang verbreitete. So suchte der Staat mit allen Mitteln die kapitalistische Manufaktur und die kapitalistische Hausindustrie in Österreich einzubürgern. Die Staatsverwaltung gewinnt dadurch eine Fülle neuer Aufgaben; sie kann sich nun nicht mehr vornehm auf den Verkehr mit dem Adel und allenfalls mit einer schmalen bürgerlichen Oberschichte beschränken, sondern sie will und muss in das tägliche Leben breiter Massen, der Kaufleute, Handwerker und Arbeiter eingreifen, sie erziehen, lenken, reglementieren. So wurden zunächst breite Massen der Gewerbe und Handel treibenden Bevölkerung Objekt staatlicher Verwaltangstätigkeit.

Aber darauf kann sich der Staat nicht beschränken. Weit folgenschwerer als seine Regelung der gewerblichen Verhältnisse wird es, dass er nun auch an die überlieferte Verfassung der Landwirtschaft zu rühren beginnt. Eine Fülle von Gründen treibt ihn dazu. Zunächst lenken die Bauern durch eine Unzahl nur mühsam blutig niedergeworfener Aufstände die Aufmerksamkeit der Machthaber auf ihre drückende Lage. Das „Bauernlegen“ erscheint dem Staate als eine arge Gefahr: mit Jedem „gelegten“ Bauern verliert er einen Steuerträger. Der harte Druck, der auf den Bauern lastet, verlangsamt die Vermehrung der Bevölkerung, die der Regierung aus militärischen und steuerpolitischen Gründen am Herzen liegt. Die gutsherrschaftliche Verfassung ist ein Hemmnis der industriellen Entwicklung; denn einerseits verweigern die Gutsherren, indem sie die Bauern an die Scholle binden und die Zuwendung zu einem Gewerbe von ihrer Erlaubnis und von der Erlegung zuweilen nicht geringer Taxen abhängig machen, der Industrie den Zufluss der notwendigen Arbeiter, andererseits kann kein breiter Markt für die Industrieerzeugnisse entstehen, solange die Masse der Bevölkerung, die Bauern, durch Robot und Abgaben verarmt ist, zu intensiver Bewirtschaftung ihres Landes unfähig bleibt, regelmäßig kaum wesentlich mehr ihrem Boden abgewinnen kann als sie selbst verbraucht und. da sie nicht dem Kreise der Warenverkäufer angehört, auch nicht auf dem Markt als Warenkäufer auftreten kann. Endlich erscheint die Reform der Gutsherrschaft als ein Bedürfnis der staatlichen Verwaltung selbst: Nur wenn der Bauer unmittelbar dem staatlichen Beamten unterworfen wird, der Staat nicht mehr des nicht immer willigen Armes des Gutsherren bedarf, ist eine straffe und einheitliche Verwaltung des ganzen Staatsgebietes möglich. [1] Sehr bald spielt man mit dem Gedanken, ob es nicht das beste wäre, die gutsherrschaftliche Verfassung ganz zu beseitigen, das Herrenland den Bauerngütern zuzuschlagen und die Fronarbeit abzuschaffen. Bezeichnenderweise taucht dieser Gedanke zuerst in einem Vortrage des Hofkriegsrats über die Reform des Rekrutierungswesens auf. [2] Indessen konnte sich der Staat zu einem so radikalen Schritt begreiflicherweise nicht entschließen. So gipfelt denn der Bauernschutz in der Theresianischen Robotregulierung und in dem berühmten Patent Josefs II. vom 1. November 1781. Diese ganze Reformtätigkeit des Staates ist aber von größter Bedeutung für sein Verhältnis zu den breiten Massen der Bevölkerung: Er überlässt die Bauern jetzt nicht mehr der ausschließlichen Entscheidung der einzelnen Gutsherren; er greift selbst in ihre Lage ein, regelt sie durch seine Gesetze, wacht über deren Befolgung durch seine Beamten; in den Kreisämtern schafft er sich ein Organ, das unmittelbar, ohne Vermittlung des Gutsherrn, dem Bauern gegenübertritt. So wird durch die Agrarreformen die Masse der landwirtschaftlichen Bevölkerung, wie durch die merkantilistische Gewerbe- und Industriepolitik die Masse der städtischen Bevölkerung, zum Objekt staatlicher Verwaltungstätigkeit.

Diese Entwicklung der Staatsaufgaben ist nichts, was Österreich eigentümlich wäre. Aber sie gewinnt bei uns sofort nationale Bedeutung. Denn die Massen, mit denen der Staat jetzt erst recht eigentlich zusammentrifft, gehören teilweise nichtdeutschen Nationen an; die Handwerker und Arbeiter, die Bauern und Häusler sind in Böhmen teilweise Tschechen. So tritt zunächst die Sprachenfrage an den Staat heran: er muss für Beamte sorgen, die der Sprache der unteren Klassen mächtig sind. Es wurde daher nicht nur bestimmt, dass die herrschaftlichen Justiziäre bei den Patrimonialgerichten und die städtischen Magistrate der Volkssprache kundig sein mussten [3], sondern man verlangt auch von den staatlichen Beamten in tschechischen Bezirken Kenntnis der tschechischen Sprache. Maria Theresia befahl, dass „ohne besondere Ursache und ceteris paribus keine anderen als solche subjecta, welche böhmisch reden und schreiben, in Vorschlag zu bringen seien“. Allerdings war dies bei dem tiefen Verfall der tschechischen Sprache nicht leicht durchzuführen. So wurde bei der Neuordnung des königlichen Tribunals in Brunn der Kaiserin berichtet, dass außer einem einzigen Beamten „kein subjectum subalternum vorhanden, welches der böhmischen Sprache so mächtig wäre, um aus böhmischen actis ein Argumentum auszuziehen“. Man musste daher daran denken, bei der Ausbildung der Beamten auch für die Pflege der tschechischen Sprache zu sorgen. 1747 wurde dem Piaristenorden aufgetragen, dem Unterricht in der tschechischen Sprache an seinen Gymnasien größere Aufmerksamkeit zu schenken. Der Unterricht in der tschechischen Sprache wurde 1752 in der Militärakademie in Wiener-Neustadt, 1754 in der Wiener Ingenieur-Akademie, 1765 an den Prager Gymnasien eingeführt. 1775 wird an der Wiener Universität ein Lehrstuhl der tschechischen Sprache errichtet. 1778 wird der Unterricht in dieser Sprache bei den adeligen Stiften in Wien und Brunn eingeführt. Dass es sich bei dieser Pflege des tschechischen Unterrichtes der Regierung nur darum handelte, eine genügende Zahl von Beamten zu erziehen, die der tschechischen Sprache mächtig wären, zeigt am besten ein Gutachten der Studienhofkommission gelegentlich der Errichtung eines Lehrstuhles der tschechischen Sprache an der Prager Universität im Jahre 1791. Die Studienhofkommission hielt diese Lehrkanzel für entbehrlich, weil die Studenten in Prag auch außerhalb der Universität Gelegenheit hätten, die tschechische Sprache zu erlernen:

„In Wien hat die böhmische Sprache einen Lehrstuhl gebraucht, weil sonst kein Mittel da wäre, selbe zu erlernen; in Prag wäre diese Anstalt wirklich überflüssig.“ [4]

Die Regierung pflegt die tschechische Sprache eben nur, soweit sie ihrer als eines Verwaltungsmittels bedarf: die erhöhte Aufmerksamkeit, die der tschechischen Sprache geschenkt wird, dankt sie bloß der Erweiterung der Verwaltungsaufgaben des Staates.

Gleichzeitig wird aber noch von anderer Seite her das Interesse für die tschechische Nation geweckt. Das Bürgertum der höher entwickelten Länder des Westens – Englands und Frankreichs vor allem – hatte in seinem Kampfe gegen die Gutsherrenklasse und den absolutistischen Staat die Ideen der Humanität und des Naturrechtes, wenn nicht neu geschaffen, so doch neu belebt. Aber eine Ideologie, den Klassenkämpfen eines bestimmten Landes zu bestimmter Zeit erwachsen, wirkt zeitlich und örtlich immer über den Kreis hinaus, in dem sie geboren wurde. So sind auch die Gedanken des revolutionären französischen Bürgertums des 18. Jahrhunderts in Österreich eingedrungen. Sie waren zweifellos in der Industrie- und Sozialpolitik des österreichischen Staates eine der treibenden Kräfte. Geistig ist ein Mann wie Josef II. ein Kind des revolutionär-rationalistischen französischen und englischen Bürgertums.

In seinem Klassenkampfe gegen den Adel kann sich der Bürger nicht auf seine vornehme Abstammung, nicht auf die Verdienste seiner Ahnen berufen wie der Adel; er erfreut sich nicht jener verfeinerten Kultur, wie die vornehmen Damen und Herren in den Palästen; er kann sein Verlangen nicht darauf stützen, dass er weite Ländereien sein eigen nennt und Hunderte von Bauern ihm fronpflichtig sind. Und doch hält er seine Ansprüche für berechtigt und verlangt, dass die staatliche Verwaltung sich seiner annehme. Wenn der Adel sich seiner vornehmen Abstammung, seines Reichtums, seiner feinen Gesittung rühmt, so kann das junge Bürgertum ihm nicht anders erwidern, als dass der Bürger doch auch Mensch ist. Der Bürger erneuert so den alten Gedanken von der natürlichen Gleichheit aller Menschen, mögen sie nun von vornehmer oder geringer Abstammung sein, in prachtvollen Schlössern oder in schlichten Bürgerhäusern wohnen, den alten Gedanken, dass alle Menschen gleich und alles Menschliche als solches wertvoll ist. Die Idee der Menschlichkeit, der Humanität, ist die Ideologie des jungen Bürgertums.

Schon in Deutschland war dem Gedanken der Humanität Teilnahme für das Schicksal der minder entwickelten Nationen entsprossen. Man begann, die geschichtslosen Nationen liebevoll zu studieren, ihre Kulturdenkmäler, ihre Volkslieder und Sagen zu sammeln. Und man sammelte diese Erzeugnisse einer primitiven Kultur nicht mehr bloß als Kuriositäten, sondern in dem das Zeitalter Rousseaus erfüllenden Glauben an die Glückseligkeit und Vollkommenheit des Naturzustandes, in dem Glauben an den Wert alles Menschlichen, mögen die Menschen welcher Abstammung immer sein, welche Kulturstufe immer erreicht haben, in dem Gedanken an die Gleichheit und Verwandtschaft aller Menschen. Von solchem Geiste ist beispielsweise Herders Teilnahme für die geschichtslosen Nationen getragen. [5] Diese Gedankengänge mussten in dem an geschichtslosen Nationen so reichen Österreich naturgemäß fruchtbar werden. Hier entsteht eine ganze Literatur, die die Aufmerksamkeit der Gebildeten der tschechischen Nation zuwenden will und zur Pflege der tschechischen Sprache auffordert. Wie der verachtete Bauer, Arbeiter, Dienstbote vor dem Humanitätsgedanken der Aufklärung als Mensch Wert bekommt, so auch seine verachtete Nationalität, seine Sprache. Diese ganze Literatur gipfelt in den Schriften Dobrovskys. Er hat die tschechische Nation gleichsam für die Wissenschaft entdeckt, indem er die Gesetze der tschechischen Sprache erforschte, tschechischer Literatur und Geschichte nachging. Er selbst ist deutsch erzogen – wie alle Gebildeten seiner Zeit in Böhmen – und verfasst seine Schriften in deutscher Sprache; auch glaubt er noch nicht an die Möglichkeit, die tschechische Nation zu neuem Leben wiederzuerwecken. Aber er pflanzt in die Herzen seiner Hörer liebevolles Interesse für die tschechische Nationalität, für ihre Kultur, ihre Sprache, ihre Geschichte – eine Saat, die später reiche Ernte getragen hat.

In der Geschichtsepoche der Manufaktur, der merkantilistischen Politik und der Reform der Gutsherrschaft hat das Bürgertum noch keinen Klassenkampf um die Herrschaft über den Staat geführt, aber seine Interessen bestimmten die staatliche Verwaltung und seine Ideologie wurde zur herrschenden Ideologie der Zeit. So sind auch die geschichtslosen Nationen auf jener Entwicklungsstufe nicht erwacht, aber sie fanden doch schon als geschichtslose Nationen, als Nationen, die nur aus den ausgebeuteten und unterdrückten Klassen bestanden, das Interesse des Staates und die Teilnahme der Gebildeten.

Diese Stufe nationaler Entwicklung drückt auch den großen Schulreformen der Theresianischen und Josefinischen Zeit ihren Charakter auf. In diese Zeit fällt zunächst die Reform der höheren Schulen. Es galt, aus der uns schon aus unserer Geschichte der deutschen Nation bekannten Tatsache, dass infolge des Aufsteigens des deutschen Bürgertums die lateinische Sprache in der Wissenschaft von der deutschen Sprache verdrängt wurde, auch für den Lehrplan der österreichischen mittleren und höheren Schulen die Konsequenzen zu ziehen. Schon im Jahre 1735 wurde den niederösterreichischen Gymnasien vorgeschrieben, sie sollten am Anfang des Unterrichtes im Lateinischen sich der deutschen Sprache bedienen. Seit 1764 ist die deutsche Dichtkunst in den Lehrbüchern vertreten; in demselben Jahre wird an den Jesuitengymnasien der deutsche Aufsatz eingeführt. Nach der Aufhebung des Jesuitenordens (1773) werden zahlreiche Lateinschulen aufgelassen und durch deutsche Hauptschulen ersetzt; so sank die Zahl der Gymnasien in Böhmen von 44 auf 13, in Mähren von 15 auf 8. [6] An den übriggebliebenen Gymnasien aber wird die deutsche Sprache als Unterrichtssprache eingeführt. „Übrigens ist,“ schreibt Josef II. im Jahre 1783 in einem Reskript an die Studienhofkommission, „die deutsche Sprache die wahre Landes- und Muttersprache, in welcher man so gut Rezepte schreibt in der Medizin als Syllogismos und Moralsätze anführen kann in der Philosophie und in Jure machen die Advokaten Ja ohnedies alle Schriften in deutscher Sprache und wird auch also von den Richtern gesprochen.“ [7] Als das Lateinische aufhörte, Unterrichtssprache zu sein und zu einem bloßen Lehrgegenstand wurde, konnte es nur durch die deutsche Sprache ersetzt werden; denn nur das deutsche Volk hatte ein Bürgertum, eine Intelligenz, eine Bürokratie; wer von den geschichtslosen Nationen höhere Bildung erwarb, wurde dadurch gerade so germanisiert, wie der, der hohen Besitz oder sonst eine angesehene Stellung in der Gesellschaft erlangte. Durch diese Schulreform werden aber tatsächlich die Sprachen der geschichtslosen Nationen aus den höheren Schulen verdrängt. Denn solange das Lateinische die Unterrichtssprache war und man sich einer anderen Sprache nur bediente, um die Schüler der untersten Jahrgänge im Lateinischen so weit zu unterweisen, bis sie dem lateinischen Vortrage folgen konnten, war es eine bloße Zweckmäßigkeitsfrage, in welcher Sprache diese erste Unterweisung im Lateinischen geschehen sollte; sie geschah daher nicht selten auch in slavischen Sprachen. Sobald aber die deutsche Sprache Unterrichtssprache der höheren Lehranstalten wird, ergeht für Mähren ein Gubernialzirkular, dass die lateinische Sprache nicht mehr in der „mährischen“, sondern in der deutschen Sprache gelehrt werden solle [8] und Josef II. bestimmt, dass nur der deutschen Sprache mächtige Kinder in die höheren Schulen aufgenommen werden dürfen. Gleichzeitig aber werden, wie wir bereits wissen, die slavischen Sprachen als Unterrichtsgegenstand in den höheren Schulen eingeführt, da der Staat Beamte, die diese Sprachen beherrschen, braucht. So entspricht diese ganze Reform des höheren Schulwesens dem uns schon bekannten Bilde: die tschechische Nation ist noch eine geschichtslose Nation, hat keinen Teil an den Klassen, die die Träger der geistigen Kultur sind, ihre Sprache kann daher Unterrichtssprache an den höheren Schulen nicht sein; dagegen haben die neuen Verwaltungsaufgaben die Augen des Staates doch schon der Masse der tschechischen Bevölkerung zugewendet, die staatlichen Beamten mit ihr in Berührung gebracht und die tschechische Sprache muss daher als Unterrichtsgegenstand im Lehrplan der höheren Schulen erscheinen.

Während die Reform des höheren Schulwesens nur den erreichten Stand nationaler Entwicklung widerspiegelt, weist die Reform des Volksschulwesens in die Zukunft. Die allgemeine Schulordnung von 1774 führt in den Hauptstädten der Kronländer die Normalschulen, in den anderen Städten die Hauptschulen, auf dem Lande die Trivialschulen ein. Jetzt erst erhalten überhaupt breitere Massen einen Schulunterricht. Von 1775 bis 1789 stieg die Zahl der Schulen in Böhmien von 1.000 auf 2.294, die Zahl der Schüler von 30.000 auf 162.000. [9] Natürlich wurde in den Volksschulen der Unterricht in der Volkssprache erteilt und es wurden in tschechischen Orten tschechische Schulbücher benützt. 1783 befiehlt Josef II. darauf zu sehen, dass in tschechischen Ortschaften die Lehramtskandidaten beider Landessprachen mächtig seien und dass auch die Schulkommissäre die tschechische Sprache beherrschen. [10] Freilich wurde in diesen Volksschulen der Unterricht nur in sehr beschränktem Umfange erteilt und niemand konnte von ihnen das Aufblühen einer tschechischen geistigen Kultur erwarten; aber indem sie die Kinder der Handwerker und Bauern lesen und schreiben lehrten, schufen sie doch die Möglichkeit, dass, als die neue Kultur der tschechischen Nation anderer Wurzel entsprossen war, ihre Denker und Dichter breitere Massen bestimmen, ihre Werke zum Eigentum breiter Massen werden und diese zur Nation in einem neuen Sinne, zu einer historischen Nation zusammenschließen konnten.

Für die nationale Entwicklung bedeutet das Zeitalter der Manufaktur eine Übergangsepoche. Die geschichtslosen Nationen bleiben als solche bestehen, haben noch immer keinen Teil an den herrschenden und besitzenden Klassen, die allein Träger und Schöpfer höherer Kultur sein konnten; aber die geschichtslosen Nationen lenken die Augen des Staates und der Gesellschaft auf sich, ihre Sprache dringt in die Schulen und Ämter, ihre Sprache und ihre Kultur werden Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung, ihr Geschick erringt die Teilnahme der durch die Aufklärungsideen beeinflussten Schichte der Gebildeten. Ein weiterer, gewaltiger wirtschaftlicher Fortschritt musste vorausgehen, ehe die bisher geschichtslosen Nationen selbst auf die Bühne der Geschichte treten konnten.

Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts sieht auch in Österreich den schnellen Fortschritt der kapitalistischen Betriebsformen. Kennt das 18. Jahrhundert nur die ländliche kapitalistische Hausindustrie und die auf Arbeitsteilung innerhalb der Werkstätte beruhende Manufaktur, so sieht die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts die Verbreitung der auf der kapitalistischen Verwendung der Maschine beruhenden Fabriken. Auch in Österreich bemächtigt sich der Kapitalismus der neuen Produktivkräfte. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts stand in Österreich erst eine Dampfmaschine in Benützung, 1841 bereits 231 Maschinen mit 2.939 Pferdekräften, 1852: 671 Maschinen mit 9.128 Pferdekräften. In der Baumwollindustrie wird die Dampfmaschine zuerst im Jahre 1815 verwendet; in demselben Jahre wird in Brunn die erste Dampfmaschine zum Betriebe einer Tuchwalke aufgestellt. Die erste Dampfmühle wird erst 1842 erbaut, der erste Dampfhammer gar erst im Jahre 1844. Die ersten Versuche mit der Dampfschifffahrt auf der Donau werden schon im Jahre 1818 unternommen. Der Ausbau des österreichischen Eisenbahnwesens beginnt im Jahre 1825, der Bau der ersten großen Dampfeisenbahn 1837. 1835 wird auch schon mit der Erzeugung von Eisenbahnschienen begonnen; die ersten österreichischen Schienen sind noch aus Herdfrischeisen erzeugt, werden aber bald durch Schienen aus Puddeleisen ersetzt. Das Puddlingverfahren war schon 1830 in Witkowitz eingeführt worden. Die Heizung der Dampfkessel mit Holz wurde wegen des Steigens der Holzpreise bald unwirtschaftlich; daher hatte die häufigere Verwendung der Dampfkraft eine schnelle Steigerung der Steinkohlenförderung zur Folge. Der Wert der geförderten Mineralkohle betrug 1826 erst 400.000 Gulden, 1868 bereits 20,5 Millionen Gulden.

Mit der Einführung der neuen Kraftmaschine geht die fortschreitende Entwicklung der Arbeitsmaschinen Hand in Hand. Weitaus am wichtigsten war die Entwicklung in der Textilindustrie. Im Jahre 1799 gründet Leitenberger die erste englische Baumwollmaschinenspinnerei in Österreich; binnen kurzem folgen viele Betriebe seinem Beispiel. In der Schafwollspinnerei wird die Mule-Jenny erst 1837 eingeführt, die erste mechanische Flachsgarnspinnerei wird in den Zwanzigerjahren in Mähren gegründet. Die Jaquard-Maschine findet in der Baumwoll- und Seidenweberei im Jahre 1820, in der Schafwollweberei 1839 Eingang. Die Brünner Schafwollweberei stellt 1851 mechanische Webstühle auf. Der Walzendruck und die Erzeugung von Türkischrot wurden jedenfalls vor 1835 in Österreich eingeführt. Die erste Schalfabrik wurde im Jahre 1810 in Wien gegründet.

Auch die Lebensmittelindustrie wälzt ihre Verfahrensweisen um. Im dritten Jahrzehnt des Jahrhunderts geht das Mühlengewerbe von der Flachmüllerei zur Grieß- und Hochmüllerei über, in den Jahren 1840 bis 1850 werden die sogenannten französischen Mühlsteine in Österreich eingeführt, die erste Dampfmühle wird, wie schon erwähnt, im Jahre 1842 erbaut. 1829 entsteht in Mähren, 1830 in Böhmen die erste Rübenzuckerfabrik. Im Jahre 1836 gab es in Österreich bereits 17, im Jahre 1850 schon 84 Rübenzuckerfabriken. Die verarbeitete Rübenmenge stieg in den Jahren 1835 bis 1850 von 374.080 auf 1.958.746 Zollzentner. Die Kartoffelbrennerei wurde im Jahre 1825 in Österreich eingeführt. Im Jahre 1822 wurde in Prag die erste Ölfabrik errichtet.

Ähnliche Fortschritte sehen wir in den holzverarbeitenden Industrien. Die erste Möbelfabrik wurde schon 1804, die erste fabriksmäßige Bautischlerei 1826 gegründet. Im Jahre 1837 beginnen die böhmischen Gutsherrschaften die Dampfsäge einzuführen. Auch die Papiererzeugung gewinnt erst seit Ende des 18. Jahrhunderts an Bedeutung. Im Buchdruckgewerbe wird in den Dreißigerjahren mit der Ersetzung der alten Handpresse durch die Schnellpresse begonnen. Die Bleistiftfabrikation erlebt seit 1795 neuen Aufschwung, mit der Erzeugung von Stahlfedern wird 1843 begonnen.

Hat die heimische Industrie größeren Umfang erlangt, so wird es auch möglich, ihre Arbeitsmittel im Lande selbst zu erzeugen. So wird beispielsweise in Brunn bereits im Jahre 181 3 eine mechanische Werkstätte zur Erzeugung der Cockerillschen Spinnmaschinen gegründet, 1836 werden bereits Maschinen für Zuckerfabriken in Österreich gebaut. Schließlich kommt der Fortschritt der maschinellen Produktion der Eisenerzeugung zugute. Der Wert des in Österreich erzeugten Roheisens stieg 1826 bis 1868 von 4 Millionen Gulden auf 22-2 Millionen Gulden. Auch die technischen Grundlagen der Eisenproduktion wurden vollständig verändert. Im Jahre 1 826 wird in Witkowitz der erste Kokshochofen der Monarchie gebaut. In den Eisengießereien wurde 1830 der Cupolofen eingeführt. Dass dasselbe Jahr auch für die Schmiedeeisenerzeugung einen Wendepunkt bedeutet, da der erste Puddelofen in Betrieb kommt, wurde bereits erwähnt. Mit der Zementstahlerzeugung wurde 1815 in Böhmen, mit der Gussstahlerzeugung in größerem Umfange erst 1825 in St. Ägidy begonnen. [11]

Der Übergang von der Manufaktur zur Fabrik verstärkt und veranschaulicht die verheerenden Wirkungen, die das unablässige Fortschreiten des Kapitalismus hervorruft.

Ganz unmittelbar trifft der technische Fortschritt die Arbeiterklasse. Sie lernt damals zuerst am eigenen Leibe den Widersinn kennen, dass unter kapitalistischer Herrschaft jeder neue Sieg des Menschen über die Natur für die Arbeiter vermehrte Arbeitslosigkeit, gesteigertes Elend bedeutet. Die Fabriksarbeiterschaft, zu beträchtlichem Teile aus unmündigen Kindern bestehend, ohne das Recht auf Organisation und Arbeitseinstellung, lernt in jener Zeit furchtbarer als jemals vorher und nachher die Segnungen des Kapitalismus kennen. In wilden Tumulten lehnt sie sich vergebens gegen die maßlose Ausbeutung auf. Im Jahre 1843 wird Brunn durch Arbeiterunruhen geschreckt, als die Kapitalisten Arbeiter vom Lande heranziehen, um die Löhne zu drücken und so die Arbeiter den Sinn kapitalistischer Freizügigkeit verstehen lehren. In den Jahren 1844 bis 1846 ruft die Einführung der Perotinemaschine in den Baumwolldruckereien Arbeiterunruhen in Prag, Pilsen, Königgrätz, in Reichenberg, Böhm.-Leipa, Leitmeritz, Komotau, Eger hervor. In das Jahr 1847 fallen Brottumulte in Wien, die Bäckerläden in Fünfhaus, Sechshaus und Gaudenzdorf werden geplündert. Längst fürchtet sich die Gesellschaft vor den „Proletariern“, vor dem „Kommunismus“.

Aber nicht nur die Arbeiter hatte die kapitalistische Entwicklung revolutioniert. Auch die Handwerksmeister, deren Nahrungsspielraum jeder weitere Schritt kapitalistischer Entwicklung verengte, waren andere geworden. Schon im 18. Jahrhundert klagten die Handwerker mancher Berufe sehr bitter über die kapitalistische Konkurrenz. Die Reichenberger Tuchmacher jammern schon 1765 darüber, dass die Fabriken das Gewerbe zugrunde richten und die Sternberger Webermeister protestieren schon im Jahre 1771 gegen die Errichtung von Fabriken. Die Wiener „Leineweber“ beschäftigen sich mit Baumwollweberei, weil sie mit der Rumburger, Schönberger und Sternberger Leinenindustrie nicht konkurrieren können, aber bald werden sie von den Kapitalisten auch aus der Baumwollweberei verdrängt. In einer Enquete aus dem Jahre 1833 wird geklagt:

„Viele Meister und Befugte müssen sich als Gesellen verdingen und einige von ihnen durch Arbeiten als Taglöhner ihr Brot verdienen.“

Aber noch bedeutsamer wurde es, dass der Kapitalismus die soziale Umwälzung auf das Land hinaustrug. Die Maschine im Dienste des Kapitalisten greift den Bauern und Häusler an, indem sie ihnen den Verdienst aus ihrer alten Hausindustrie raubt. Am schnellsten erliegt auch in Österreich die Handspinnerei der Konkurrenz der Fabrik. In Niederösterreich gab es am Ende des 18. Jahrhunderts noch mehr als 100.000 Handspinner, im Jahre 1811 nur noch 8.000. In dem offiziellen Bericht über die Gewerbeausstellung vom Jahre 1835 heißt es

„In den böhmischen Grenzgegenden von Nachod bis Tetschen beschäftigt sich der vierte Teil der Bevölkerung wenigstens zeitweise mit der Spindel oder dem Spinnrad und davon sind die Hälfte beständige Spinner, deren Zahl etwa 80.00 beträgt. Auf der Herrschaft Hohenelbe allein leben 7.000, auf der Herrschaft Nachod über 8.000 Spinner. Bei den niedrigen Preisen der Leinwand und der wachsenden Konkurrenz des für die Verwebung sich vorteilhafter zeigenden Maschinengarns ist der Spinnlohn auf eine so niedrige Stufe gesunken, dass er nur noch 2 bis 3 Kreuzer täglich, manchmal auch weniger beträgt.“

Im Erzgebirge verdingen sich die Leute gegen einen Taglohn von 4 bis 6 Kreuzern. Der Mensch hat durch die Erfindung der Spinnmaschinen seine Macht über die Natur gewaltig vermehrt; aber diesen Sieg bezahlen die böhmischen Bauern und Häusler mit der Verbreitung des Hungertyphus! [12]

Der Kapitalismus hat die revolutionäre Unzufriedenheit in die Massen des Landvolkes getragen. Aber sie findet auch in der ländlichen Verfassung selbst ihre Nahrung. Seit dem Ausbruch der französischen Revolution hat der Staat keinen Finger mehr gerührt, um die Lage der von den gutsherrlichen Abgaben und der Fronpflicht hart gedrückten Bauern zu verbessern; war es doch zum obersten Regierungsprinzip geworden, an das alte Bestehende nicht zu rühren, um nur ja nicht den gefürchteten Geist der Revolution zu beschwören! Wie groß die Verbitterung der Bauern geworden war, zeigte sich im Jahre 1846, als die Bauern dem revolutionären polnischen Adel in den Rücken fielen. Nach der Niederwerfung, des polnischen Adels verbreitete sich unter den Bauern die Nachricht der Kaiser habe sie zum Dank für ihre Treue von der Fron befreit. Die Erregung verbreitete sich auch auf die Bauern der anderen Kronländer und selbst in Niederösterreich mussten die Bauern zur Leistung der Robot mit militärischer Gewalt gezwungen werden.

So hatte die soziale Umwälzung die Köpfe revolutioniert. Äußerlich verbarg sich die Unzufriedenheit wohl noch hinter den überlieferten Verkehrsformen: aber in die Geister war eine Welt neuer Werte, neuer Gedanken, neuer Wünsche eingezogen. Es war, als ob der tosende Lärm der Dampfmaschinen, der Spinnmaschinen und der mechanischen Webstühle, der Zuckerfabriken und Dampfsägen, der Eisenbahnen die schlafenden Menschen erweckt, ihnen die Augen aufgerissen hätte. Hatte man bisher sich seines Berufes und seiner sozialen Stellung geschämt, die Herrschaft der anderen demütig als Erbteil der Jahrhunderte, als Gottes Fügung getragen, so fühlt sich nun der Handwerker, der Arbeiter, Ja selbst der Bauer als ein Mensch, so gut wie der stolze Gutsherr, der hochnäsige Bürokrat, der profitgierige Kapitalist und sein Elend dünkt ihm ein Verbrechen, das die Gesellschaft an ihm begeht.

Dieses Erwachen des Selbstbewusstseins der unteren Klassen gewinnt nun, wie jede soziale Wandlung, in Österreich nationale Bedeutung. Dass die Sprache der Bauern und Dienstboten neben der Sprache des Staates kein Recht hatte, hinter ihr zurücktreten musste, war einst selbstverständlich gewesen, und jeder, der auch nur eine Sprosse auf der sozialen Leiter aufsteigen konnte, ahmte, wie die vornehme Art der Herren, so auch ihre vornehme Sprache nach und schämte sich, dass die verachtete Domestikensprache seine Muttersprache war. Jetzt aber will der zum Selbstbewusstsein erwachte Handwerker und Arbeiter gar nicht mehr die Art der Herren nachahmen; jetzt fühlt er sich bewusst anders als die, die ihn ausbeuten und unterdrücken, er will ihnen nicht mehr gleichen und trägt stolz seine Nationalität zur Schau, die Nationalität derer, die seine Feinde geknechtet und verelendet haben: indem er sich stolz zu einer anderen Nationalität bekennt als die verhassten Herren, ohne Scheu laut die Sprache des Volkes spricht, wo sonst nur die Sprache der Herren ertönte, gibt er dem Klassengegensatz anschauliche, greifbare Gestalt. Alle sozialen Gegensätze im Lande erscheinen als nationale Gegensätze, denn die herrschenden Klassen sind längst deutsch geworden [13]; der unter dem allmächtigen Eindruck einer gewaltigen wirtschaftlichen Umwälzung auflodernde Hass gegen die Bürokraten, den Adel und die Kapitalistenklasse musste notwendig als Hass der Tschechen gegen die Deutschen erscheinen; waren die unteren Massen selbstbewusst geworden und dünkten sich ebensoviel wie die Reichen und Mächtigen, so musste dies notwendig dazu führen, dass man der deutschen Nationalität die tschechische, der deutschen Herrensprache die tschechische Volkssprache als gleichwertig entgegensetzte. Es ist kein Zufall, dass auf jener Stufe des Wiedererwachens kein Schlagwort häufiger gebraucht wird als das, man soll sich seiner Muttersprache nicht schämen! So ist in den Stürmen einer schnellen sozialen Umwälzung aus dem demütigen schüchternen Gewerbsmann, der sich seiner Sprache geschämt, ein Patriot, ein „vlastenec“ geworden.

Die revolutionäre Umwälzung der Geister, die die kapitalistische Entwicklung hervorgerufen, übte die mächtigste Wirkung auf die Intelligenz. Wo diese Klasse nicht zum bevorrechteten volksfremden Berufsstande geworden ist, gleicht ihr Denken und Fühlen stets der empfindlichen Saite, deren feiner Ton jeden Luftzug wiedergibt, der ihr aus ihrer Umgebung entgegenweht. Was als halb verstandene Stimmung in den Massen der tschechischen Nation lebte, das wurde in den Köpfen der Intelligenz zu klarem Gedanken, zu bewusstem Wollen. Vor allem waren es die untersten und doch mächtigsten Berufsstände der Intelligenz, die die neue Stimmung der Massen in sich aufnahmen, in sich verarbeiteten, die zu ihren Stimmführern wurden: die Volksschullehrer und die niedere Geistlichkeit. Diese beiden Berufe haben dem tschechischen Volke naturgemäß immer in anderer Weise angehört als die Ärzte, Advokaten und Beamten; ihr Beruf zwang sie ja zu engem Zusammenleben mit dem Volke, zu täglichem Gebrauch seiner Sprache auf der Kanzel und auf dem Katheder. Im Lehrer und im Pfarrer hatte die Bewegung, die die tschechische Nation jetzt erfasste. einen Wortführer im letzten Dorf! Es ist kein Zufall, dass unter den Männern, die die tschechische Nation als ihre Wiedererwecker feiert, eine ganze Anzahl katholischer und evangelischer Geistlicher sind. Aber auch die anderen Berufsstände der Intelligenz konnten sich der starken Kraft des erwachenden Nationalbewusstseins und Nationalgefühls nicht entziehen. Man darf sich die österreichische Intelligenz des Vormärz nicht etwa nach dem Muster der heutigen Intelligenz im Deutschen Reich vorstellen, deren Geist zu uns tagtäglich aus dem öden Treiben der studentischen Korps, aus dem albernen Hochmut des Reserveoffiziers, aus der schändlichen deutschen Klassenjustiz, aus dem Kampf der Ärzte gegen die Krankenkassen spricht. Es waren meist die Jüngeren Bauernsöhne und Söhne von Handwerkern, die sich durch die langen Studienjahre durchhungerten, mühselig genug durch schlechtbezahlte Lektionen ein paar Gulden monatlich verdienten und sich im übrigen auf den üblichen Freitisch verließen, um dann nach Jahren Geistliche, Landärzte oder kleine Beamte zu werden.

Diese Schichten waren nun vorher stets durch deutsche Erziehung deutsch geworden. Jetzt aber erwacht in ihnen ihr tschechisches Nationalbewusstsein. Sie sind ja selbst revolutionär: sie hassen den deutschen Staat, der die Freiheit der Gedanken knebelt; sie hassen den adeligen Gutsherrn, der von seinem stolzen Schlosse auf den armen Landarzt und auf den schlecht bezahlten kleinen Beamten so verächtlich herabsieht; sie hassen den Kapitalisten mit jenem Gefühle des Neides, mit dem der arme Intellektuelle so häufig protziger Unbildung gegenübertritt.

In ihrem Hass gegen die deutsche Herrenschichte beginnen sie sich mit den breiten Massen solidarisch zu fühlen, die von gleichem Hasse beseelt sind; sie beginnen sich ihrer Abstammung von diesen Massen, ihrer Nationalität zu erinnern. Der Gebrauch der deutschen Sprache in Schule und Amt erscheint ihnen nun als ein lästiger Zwang, in dem sich die Herrschaft jener verhassten sozialen Mächte veranschaulicht, unter der sie leiden. Sie sind es. die – ein unerhörtes Wagnis! – auf den Bällen der „Gesellschaft“ demonstrativ tschechisch zu sprechen beginnen und sich damit zu den verachteten, ausgebeuteten Volksmassen bekennen, die von der „Gesellschaft’“ ausgeschlossen sind. Sie werden willige Schüler Dobrovskys, beginnen die tschechische Sprache, die alte tschechische Literatur und Geschichte zu studieren und bald versucht sich einer oder der andere von ihnen in tschechischen Versen.

Aber die Intelligenz allein kann der Träger einer lebendigen geistigen Kultur nicht sein. Sie bedarf stets jener unbestimmten sozialen Schichte, die wir das „Publikum“ zu nennen gewohnt sind, für die die Denker denken und die Dichter singen und sagen. deren Bedürfnis und Geschmack ihr Schaffen bestimmt. Auch diese Schichte entsteht nun im tschechischen Volke. An dem kapitalistischen Aufschwung hat auch ein Teil des tschechischen Kleinbürgertums seinen Teil. Das Wachstum der Städte steigert die Grundrente, vermehrt das Einkommen des Hausherrn, des Krämers, des Gastwirtes. Das Entstehen einer kaufkräftigen Konsumentenschichte vermehrt das Einkommen manches Handwerkers, lässt ihn wohl gar selbst zu einem kleinen Kapitalisten werden. Am Aufschwünge des Müllergewerbes, der Bierbrauerei haben auch Tschechen ihren Teil. Die kapitalistische Entwicklung zersetzt das alte einheitliche Kleinbürgertum: während sie die Massen der Handwerker verelendet, bildet sie doch auch eine kleinbürgerliche Oberschichte, die aus der schnelleren wirtschaftlichen Entwicklung Nutzen zieht. Und diese Gesellschaftsschichte wird nun trotz ihrer wachsenden Wohlhabenheit nicht deutsch, wie sie es vordem wohl geworden wäre; denn auch sie ist ergriffen von der revolutionären Ideologie der Zeit, auch sie hasst die deutschen Machthaber in Staat und Gesellschaft, auch zu ihr dringt der Ruf, man dürfe sich der Nationalität der breiten Volksmassen, der Muttersprache des Volkes nicht schämen. So entsteht neben der tschechischen Intelligenz eine tschechische kleinbürgerliche Oberschichte, die die Trägerin einer neuen nationalen Kultur sein kann.

Dass die tschechische Kultur in ihren Anfängen durchaus kleinbürgerlich war, erwies sich am klarsten, als das tschechische Volk in den Stürmen des Jahres 1848 zu sozialen und politischen Fragen Stellung nehmen musste. Die Massen, die das Publikum der ersten tschechischen Gelehrten und Dichter waren, waren auch die Gefolgschaft der ersten tschechischen Partei. Ihre kleinbürgerliche Politik beweist den kleinbürgerlichen Charakter dieser ganzen Kultur. Kleinbürgerlichen Charakter tragen die wirtschaftlichen Forderungen der Versammlung im St. Wenzels-Bad. Palacký ist ein Gegner des allgemeinen Wahlrechts, bekämpft den Kommunismus mit dem alten Gerede von der natürlichen Ungleichheit der Menschen, redet vom Proletariat, als dem Schrecken seiner Zeit. Havlček bekämpft die Standesvorrechte des Adels und bekennt sich als Gegner der „Geldaristokratie“, aber er tritt auch dem Recht auf Arbeit entgegen, bekämpft den Sozialismus, verlangt, der Staat müsse die Freiheit und das Eigentum beschützen, und will, obwohl er grundsätzlich Anhänger des gleichen Wahlrechts ist, einen niedrigen Steuerzensus zugestehen. Als im Kremsierer Verfassungsausschuss die Frage beraten wird, ob den Abgeordneten Diäten gewährt werden sollen, erklärt Rieger, dies sei nicht nötig, denn dieses Amt würden „Fabrikanten, größere Gewerbetreibende und ähnliche“ gern unentgeltlich versehen. [14] So ist die tschechische Politik im Jahre 1848 der Gutsherrenklasse und der Bourgeoisie ebenso feind wie der Arbeiterklasse; sie ist eben kleinbürgerliche Politik. Kleinbürgertum und Intelligenz geben der ganzen neugeschaffenen Kultur der Nation ihr Gepräge.

Diese neue tschechische Kultur entdeckt zunächst die tschechische Vergangenheit wieder. An den Bildern aus der eigenen Vergangenheit, wie sie die Geschichte Palackýs dem Volke gemalt, erhebt sich das Selbstbewusstsein der zwei Jahrhunderte lang geknechteten Nation. Diese wissenschaftlichen Arbeiten bedienen sich zuerst noch der deutschen Sprache: die Schriften Dobrovskýs, das Hauptwerk Kollárs, die slavische Literaturgeschichte Šafařiks. die Geschichte Palackýs sind zuerst deutsch erschienen. Aber bald geht man daran, die eigene Sprache, die so lange eine Sprache der Dienstboten und Bauern gewesen war, zu wissenschaftlicher und künstlerischer Arbeit zu gebrauchen. Hier war noch die Aufgabe zu lösen, die einst Dante für die Italiener, Luther für die Deutschen gelöst: aus bäuerlichen Mundarten musste eine Einheitssprache, aus der rohen und verderbten Sprache des täglichen Lebens eine Sprache entstehen, die der Wissenschaft als Werkzeug gefügig, dem Schaffen des Dichters ein kostbares Material sein konnte. Diese Arbeit haben die tschechischen Schriftsteller der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollbracht: die Entwicklung der tschechischen Einheitssprache beginnt etwa mit Jungmanns Übersetzung des Verlorenen Paradies und gipfelt in den Dichtungen Kollárs. Wer diesen ganzen Entwicklungsgang geschichtlich begreifen will, wird nicht über den literarischen Wert dieser Schöpfungen rechten, er wird die Liebe begreifen, mit der eine Nation, die den Weg vom Elend der Geschichtslosigkeit zu historischem Dasein in wenigen Jahrzehnten zurückgelegt hat, der Männer gedenkt, in deren Bewusstsein zuerst die allgemeine Revolution der Geister sich zu individuellem Kunstwerk verdichtet hat. Und diese neue Kultur wird nun zum einigenden Band, das die neu erstandene Schichte der Gebildeten aller tschechischen Stämme eng verknüpft. Dem alten Differenzierungsprozess, der in unsichtbarer Zerstörungstätigkeit durch die Jahrhunderte hindurch die Einheit der Nation zernagt hatte, macht die neue Einheitssprache, die Gemeinschaft der neuen Dichtung und des neuen Wissens, des neuen Bewusstseins der Zusammengehörigkeit und des neuen Nationalgefühls, bald auch die Gemeinschaft politischen Wollens ein Ende: Tschechen, Mährer und Slovaken umschlingt wieder ein neues, von Tag zu Tag stärker werdendes Band und eint sie zu einer Nation.

Aus einem Volk gedrückter Bauern und Dienstboten, die sich ihrer Sprache geschämt, war eine Nation mit einer ziemlich breiten Schichte Intellektueller und wohlhabender Kleinbürger geworden, die ihrer Nationalität sich bewusst geworden, von lebhaftem Nationalgefühl beseelt waren. Dieser neuen Lage der Dinge passte sich der Staat nicht an. Er herrschte noch immer wie er getan, als die Nation noch den Schlaf der geschichtslosen Nation schlief. Das Österreich Kaiser Franz’ erschien noch immer als ein deutscher Staat. Die Praxis der Theresianischen und Josefinischen Zeit wurde fortgesetzt: man verlangte von den Beamten, die dienstlich mit den unteren Volksschichten verkehren mussten, die Kenntnis der Volkssprachen und sorgte dafür, dass in den Gymnasien aller tschechischen und gemischtsprachigen Orte auch die tschechische Sprachlehre und der tschechische Aufsatz als Unterrichtsgegenstand gelehrt werde, um „dem einreißenden Mangel an beider Landessprachen mächtigen Kompetenten zu den politischen Stellen abzuhelfen“. [15] Aus demselben Grunde wurden an den theologischen und medizinischen Fakultäten gewisse Übungen in tschechischer Sprache vorgenommen. Der Staat pflegte die tschechische Sprache, weil er Beamte, Ärzte und Geistliche brauchte, die mit den Bauern, Handwerkern und Arbeitern in ihrer Sprache verkehren konnten. Die tschechische Nation hat kein Recht auf die Pflege ihrer Sprache, sondern der Staat bedient sich ihrer nur, soweit die Fürsorge für seine Untertanen ihm das nützlich oder notwendig erscheinen lässt. Gelegentlich spielen wohl schon die Machthaber mit dem Gedanken, die Tschechen zu fördern, um sie gegen die revolutionäre deutsche Bourgeoisie und Intelligenz auszuspielen, aber im wesentlichen bleibt doch Österreich ein deutscher Staat: deutsch ist die Sprache der Ämter und Gerichte, der Gesetze und des Heeres. Dieser Zustand hatte der nationalen Entwicklungsstufe des tschechischen Volkes im Zeitalter Maria Theresias entsprochen. Im 19. Jahrhundert erscheint er als ein Anachronismus. Der zu nationalem Bewusstsein erwachten Nation erscheint die Herrschaft Österreichs über die Tschechen als Fremdherrschaft. Notwendig musste die bürgerliche Revolution in Österreich auch eine nationale Revolution sein.

Diese Revolution hatte sich lange angekündigt. Wenn unter Josef II. 33 „Original-Böhmen“ eine Petition an die böhmischen Stände richten, in der sie sich über die Unterdrückung der tschechischen Sprache beklagen, so ist das noch eine vereinzelte Erscheinung, die nur als Kuriosum Interesse erregen mag. Anders wurde es, als die gewaltige wirtschaftliche Umwälzung der folgenden Jahrzehnte die Nation aus ihrem Schlummer geweckt hatte. Die revolutionären nationalen Bewegungen der Griechen, der Italiener, der Magyaren, der Iren finden in Böhmen lebhafte Teilnahme. In den Tagen O’Connells wird Repeal bei den Tschechen ein beliebtes politisches Schlagwort, und Havlček, damals Redakteur eines offiziösen tschechisch geschriebenen Blattes, füllte, da er von der Bedrückung der Tschechen nicht schreiben durfte, die Spalten seines Blattes mit ausführlichen Berichten über den Kampf der Iren gegen England.

In den Märztagen stürzt das alte System zusammen und der Staat muss sich der neuen Entwicklung der Nation anpassen. Die Revolution beseitigt den Widerspruch zwischen dem erstarrten Recht und den veränderten nationalen Verhältnissen. So lächerlich es ist, das kaiserliche Handschreiben vom 8. April 1848, das nie Geltung erlangt hat und das in seinem unüberlegten Inhalt und in seiner unfertigen Form so recht die Verwirrung widerspiegelt, die in jenen Tagen am Hofe herrschte, als Rechtsquelle anzusehen, als die „böhmische Charte“ zu feiern, so ist es doch zweifellos als erstes Zeichen eines Systemwechsels ein historisches Dokument.

Aber die Revolution bedeutet nicht nur, dass der Staat sich der neuen Kulturentwicklung der Nation anpassen muss, sie bedeutet auch eine Stärkung und Beschleunigung dieser Kulturentwicklung selbst. Die neue Press-, Vereins- und Versammlungsfreiheit wird zum Mittel, breitere Massen in die tschechische Kulturbewegung einzubeziehen. War vor 1848 nur eine tschechische Zeitung erschienen, so blüht jetzt in wenigen Wochen eine ganze tschechische Presse auf. Die Prager Vereine gründen Ortsgruppen in den Landstädten und reißen so auch die Bevölkerung der kleineren Orte in die nationale Kulturbewegung hinein. Die politischen Kämpfe geben der Bewegung nicht nur neuen Inhalt, sondern erfüllen auch die Köpfe mit neuer Begeisterung, neuer Leidenschaft.

Auf diese bewegte Zeit folgen freilich die Jahre der Reaktion. Noch einmal wird der Versuch gemacht, die böhmischen Länder zu regieren, als ob die Tschechen immer noch eine geschichtslose Nation wären. Aber gerade jene Jahre stärken doch die Kraft nationaler Entwicklung. Es ist die Zeit, in der die Gutsherrschaft endgültig beseitigt, der Bauer von der Robot befreit, zum freien Eigentümer seines Landes und unmittelbar staatlicher Verwaltung und Gerichtsbarkeit unterworfen wird; es ist eine Zeit, in der die gesetzlichen Hindernisse beseitigt werden, die noch die kapitalistische Entwicklung gehemmt: eine Zeit schneller wirtschaftlicher Entwicklung Österreichs. An dem kapitalistischen Aufschwung der Fünfzigerjahre, den die kalifornischen und australischen Goldfunde einleiten, hat auch Österreich seinen bescheidenen Teil, jene Umwälzung der Produktivkräfte, jene wirtschaftliche Umgestaltung, der die tschechische Nation ihr Wiedererwachen verdankt, vollzieht sich gerade in dem Jahrzehnt der Reaktion in noch schnellerem Tempo. Der Bachsche Absolutismus ist mit dem Metternichschen Absolutismus nicht identisch: indem jener sich selbst zum Werkzeug kapitalistischer Entwicklung macht, schafft er sich selbst seine Totengräber. Der Versuch, Österreich noch einmal als deutschen Staat zu regieren, hätte schließlich misslingen müssen, auch wenn nicht ein verlorener Krieg die Entwicklung beschleunigt hätte. Nach der Schlacht bei Solferino bricht der Absolutismus zusammen. Und schon das Jahr 1859 sieht die ersten Anlange des Ausbaues des tschechischen Mittelschulwesens. Damit ist der Sieg der Nation tatsächlich entschieden. Wie sie seither ein nationales Schulwesen von der Volksschule bis zur Universität sich erkämpft, das Recht ihrer Sprache in den öffentlichen Ämtern und Gerichten durchgesetzt hat, ist allgemein bekannt und braucht hier nicht dargestellt zu werden. Unsere Aufgabe war es hier nur, den gewaltigen Strom wirtschaftlichen und sozialen Lebens aufzudecken, von dem getragen die tschechische Nation ihre neue Kultur geschaffen hat.

Von allen österreichischen Nationen, die nur die unterdrückten und ausgebeuteten Klassen umfassten, ist die tschechische Nation am schnellsten von der kapitalistischen Entwicklung erfasst worden. Sie erscheint daher zuerst auf dem Markt der Geschichte und erhebt dort am vernehmlichsten ihre Stimme. Aber wenn ihre Entwicklung den anderen einst geschichtslosen Nationen vorausgeeilt ist, angetreten haben denselben Weg doch auch die anderen Nationen. Bei den Slovenen beginnt die Entwicklung in der Napoleonischen Zeit, in der ein Teil des slovenischen Sprachgebietes unter französische Herrschaft fiel. Am langsamsten war die neue nationale Entwicklung bei den Ruthenen. Als 1846 die österreichische Regierung die ruthenischen Bauern gegen den polnischen Aufstand zu Hilfe rief, hielt die öffentliche Meinung in Österreich, von der polnischen Schlachta bewusst irregeführt, die Ruthenen für „eine Erfindung des Grafen Stadion“. Noch im Kremsierer Verfassungsausschuss wurde darüber gestritten, ob es eine ruthenische Nation überhaupt gebe! Auch heute noch hat die ruthenische Nation nicht nur keine Universität, sondern auch ein sehr dürftiges Mittelschulwesen. Wie gering ihre politische Macht ist, beweist das Unrecht, das an ihr in der neuen Wahlreform begangen wird! Das ist das Schicksal einer geschichtslosen, einer reinen Bauernnation: und doch ist es gewiss, dass auch die Ruthenen auf dem Wege sind, den die Tschechen zurückgelegt, die Slovenen längst angetreten haben. Die Volksschule, die allgemeine Wehrpflicht, das allgemeine Wahlrecht, Zeitungen und Volksversammlungen unterwerfen auch die Massen des ruthenischen Volkes gleichem Kultureinfluss; die Erregung, die die russische Revolution in den breiten Massen der Ukraina hervorgerufen, findet auch in Ostgalizien ihren Widerhall. Im Agrarstreik haben die ruthenischen Bauern ein Mittel so gut des nationalen wie des wirtschaftlichen Kampfes gefunden, fällt doch wirtschaftlicher und nationaler Gegensatz nirgends in Österreich so unmittelbar zusammen wie im Kampfe des ruthenischen Bauern gegen die polnischen Gutsherren. Die soziale Entwicklung. die das Wiedererwachen der geschichtslosen Nationen bedeutet, macht auch vor den Grenzen Galiziens nicht Halt.

Die Stufe der nationalen Entwicklung, die die einzelnen, ehemals geschichtslosen Nationen in Österreich erreicht haben, spiegelt die Höhe ihrer wirtschaftlichen Entwicklung wieder. Während im Jahre 1900 von den Tschechen nur noch 43.1 Prozent der Land- und Forstwirtschaft zugehörig waren, gehörten von den Slovenen 75.4 Prozent, von den Serbe-Kroaten in Österreich 86.9 Prozent, von den Rumänen 90.3 Prozent, endlich von den Ruthenen gar 93.3 Prozent der Land- und Forstwirtschaft an. Vergleicht man diese Zahlen mit der nationalen Kulturentwicklung der einzelnen Völker, so findet man eine auffallende Übereinstimmung. Je geringer der Teil einer Nation ist, der der Land- und Forstwirtschaft zugehört, je mehr sie also vom Industrialisierungsprozess ergriffen, kapitalistischer Einwirkung unterworfen wurde, eine desto höhere Stufe der nationalen Entwicklung hat sie erreicht; das Erwachen der geschichtslosen Nation ist eine der zahllosen Erscheinungsformen der kapitalistischen Entwicklung. Der nationale Streit, der die Grundfesten des Staates erschüttert, ist eine jener schmerzvollen Krankheitserscheinungen, die der einziehende Kapitalismus in dem Körper der alten Gesellschaft hervorruft. Die österreichische Nationalitätenfrage ist nichts als ein kleiner, ein winzig kleiner Ausschnitt aus jener großen sozialen Frage, vor die die Entwicklung des Kapitalismus alle Völker des europäischen Kulturkreises stellt.

Fußnoten

1. Über die Gründe des Bauernschutzes vgl. Grünberg, a.a.O., I. Kapitel, § 3. 

2. Grünberg, a.a.O., 3. Kapitel, § 4.

3. § 18 des Untertanspatentes von 1781; § 97 des Patentes vom 17. Juni 1788; Hofdekret vom 30. November 1787. Vgl. Fischel, a.a.O., S.XXXVI.

4. Fischel, a.a.O., S.XXVIIIf. und XXXIX.

5. Über den Einfluss Herders auf die „Erwecker“ der tschechischen Nation siehe Masaryk, Česká otázka, Prag 1895; Kaizl, Česke myšlénky, Prag 1896, S.21ff.

6. Sirakosch-Grassmann, Geschichte des österreichischen Unterrichtswesen, Wien 1905, S.110ff.

7. Fischel, a.a.O., S.XXXVI.

8. d’Elvert, a.a.O., S.510.

9. Strakosch-Grassmann, a.a.O., S.130. Das schnelle Wachstum ist damit keineswegs beendet. Im Jahre 1837 wurden in Böhmen bereits 493.229 schulbesuchende Kinder gezählt. Vgl. Johann Springer, Statistik des österreichischen Kaiserstaates, Wien 1840.

10. Fischel, a.a.O., S.XXX.

11. Beiträge zur Geschichte der Gewerbe und Erfindungen in Österreich, herausgegeben von Exner, Wien 1873. – Beiträge zur Geschichte der deutschen Industrie in Böhmen, Prag 1893.

12. E.V. Zenker, Die Wiener Revolution 1848 in ihren sozialen Voraussetzungen und Beziehungen, Wien 1897.

13. Im Jahre 1816 sagte Bolzano in seinen Vorträgen Über die Verhältnisse der beiden Volksstämme in Böhmen (herausgegeben 1849 von Mich. Jos. Fels):

„Werden nicht immer noch die deutsch Geborenen im Lande, und jene, die sich ihnen angeschlossen, in hundert sehr wichtigen Stücken bevorzugt? Ist es nicht die deutsche Sprache, in welcher alle höheren Wissenschaften im Lande vorgetragen werden? Die man auch zur Geschäftssprache in allen öffentlichen Angelegenheiten erhoben hat? ... Aber noch mehr; sind nicht die Großen und Vornehmen des Landes, sind nicht die Reichen und Begüterten im Volk, alle, alle, nur eins von beiden, entweder geborene Deutsche und wohl gar Ausländer, oder doch solche Personen, die, weil sie längst schon die böhmische Sprache und Sitten abgelegt, den Deutschen beigezählt werden? Lebt nicht der böhmisch sprechende Teil des Volkes durchgängig nur in einem bedauernswürdigen Zustand der Armut und der Unterdrückung? Und was das Empörendste ist, hat man diesen nicht allerorts zu seinen Vorgesetzten Personen gegeben, die Deutsche sind oder doch den Deutschen angehören?“ A.a.O., S.25.

14. Springer, Protokolle des Verfassungsausschusses im österreichischen Reichsrat 1848 bis 1849, Leipzig 1885, S.316. – Im übrigen siehe Masaryk, Karel Havliček, Prag 1896.

15. Fischel, a.a.O., S.XLII.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008