MIA > Deutsch > Marxisten > Bauer > Die Nationalitätenfrage
Wir können nun darangehen, aus den gesammelten Erfahrungstatsachen die allgemeinen Schlüsse zu ziehen und so den gesuchten Begriff der Nation bestimmen. Wir haben im Anfang unserer Untersuchung die Nation zunächst als relative Charaktergemeinschaft begriffen. Wir können nun das Wesen dieser Charaktergemeinschaft näher bestimmen.
Wir haben eingangs unserer Arbeit den Nationalcharakter vorläufig als die Gesamtheit der einer Nation eigentümlichen, die Volksgenossen untereinander vereinigenden, sie von anderen Nationen scheidenden körperlichen und geistigen Merkmale bezeichnet. Indessen sind diese verschiedenen Merkmale einander keineswegs gleichwertig.
Gewiss gehört zum Nationalcharakter die verschiedenartige Bestimmtheit des Willens. Der Wille äußert sich in jedem Vorgang des Erkennens als Aufmerksamkeit, die von der Masse der erfahrenen Erscheinungen nur bestimmte auswählt, nur diese apperzipiert: wenn ein Deutscher und ein Engländer dieselbe Reise machen, so werden sie mit sehr verschiedenartigem Gewinn in die Heimat zurückkehren; wenn ein deutscher und ein englischer Gelehrter denselben Gegenstand erforschen wollen, so werden die Forschungsmethoden, die Forschungsergebnisse beider sehr verschieden sein. Der Wille äußert sich noch unmittelbarer aber in jeder Entschließung: dass ein Deutscher und ein Engländer in gleicher Lage verschieden handeln werden; dass sie dieselbe Arbeit verschieden anfassen; dass sie, wenn sie sich erfreuen wollen, verschiedenartige Vergnügungen wählen; dass sie, wenn sie gleich wohlhabend sind, doch verschiedene Lebensweise vorziehen, verschiedene Bedürfnisse befriedigen, das macht gewiss das Wesen des Nationalcharakters aus.
Es ist gewiss, dass die verschiedenen Nationen auch verschiedene Vorstellungsmaßen besitzen: Verschiedene Begriffe von Recht und Unrecht, verschiedene Anschauungen vom Sittlichen und Unsittlichen, vom Anständigen und Unanständigen, vom Schönen und Unschönen, verschiedene Religion und verschiedene Wissenschaft. Aber diese Verschiedenheiten des Wissens sind den Verschiedenheiten des Willens nicht einfach beigeordnet, sondern sie bestimmen die Verschiedenheiten des Willens, sie erklären uns die Verschiedenheiten des Willens. Weil jeder Engländer anders erzogen ist, anderes gelernt hat, unter anderen Kultureinflüssen steht, deswegen löst gleicher Reiz bei ihm andere Bewegung aus als bei dem Deutschen. Der Besitz verschiedener Vorstellungen steht also zur Verschiedenheit der Willensrichtung nicht im Verhältnis der Nebenordnung, sondern im Verhältnis von Ursache und Wirkung.
Ähnliches gilt aber nun auch von den körperlichen Merkmalen. Der verschiedene Schädelbau mag den Anthropologen interessieren, dem Geschichtsforscher, dem Sozialtheoretiker, dem Politiker ist er so lange gleichgültig, so lange er nicht annehmen darf, dass verschiedener körperlicher Typus auch von einer Verschiedenheit psychischer Merkmale begleitet ist. Erfahrungsgemäß ist Verschiedenheit des körperlichen Baues begleitet entweder unmittelbar von einer Verschiedenheit der Entschließung unter gleichen Umständen oder von einer Verschiedenheit der Erkenntnisfähigkeit und der Erkenntnisart, die dann ihrerseits wieder eine Verschiedenheit der Entschließung, des Wollens erzeugt. Selbst dem Antisemiten wäre die Judennase sehr gleichgültig, wäre er nicht der Meinung, dass mit dem körperlichen Typus der Juden stets bestimmte psychische Merkmale verbunden sind. Nur dies, dass die Verschiedenheit anthropologischer Merkmale von einer Verschiedenheit psychischer Merkmale, schließlich mittelbar oder unmittelbar von der Verschiedenheit der Willensrichtung begleitet ist – mögen wir auch nicht imstande sein, das ursächliche Verhältnis zwischen Körperbau und Willensrichtung zu finden – macht uns die körperlichen Merkmale irgend eines anthropologischen Typus interessant. Also ist auch die Gesamtheit der körperlichen Merkmale der Verschiedenheit der Willensrichtung nicht beigeordnet, sondern steht mit ihr in einem funktionalen Zusammenhang, hinter dem sich wohl ein ursächliches Verhältnis verbirgt.
So gelangen wir zu einem engeren Begriff des Nationalcharakters. Er bedeutet uns also zunächst nicht Gesamtheit aller körperlichen und geistigen Merkmale, die der Nation eigentümlich sind, sondern bloß die Verschiedenheit der Willensrichtungen, die Tatsache, dass derselbe Reiz verschiedene Bewegung auslöst, dieselbe äußere Lage verschiedene Entschließung hervorruft. Diese Verschiedenheit der Willensrichtung ist aber durch die Verschiedenheit der von einer Nation erworbenen Vorstellungen oder der einer Nation im Daseinskampfe angezüchteten körperlichen Eigenart ursächlich bestimmt. [1]
Wir haben dann gefragt, wie eine solche Charaktergemeinschaft entsteht und haben die Frage dahin beantwortet, dass gleiche wirkende Ursachen die Gleichheit des Charakters erzeugt haben. So haben wir die Nation bestimmt als Schicksalsgemeinschaft.
Es gilt nun aber, den Begriff der Schicksalsgemeinschaft schärfer zu fassen. Gemeinschaft bedeutet nämlich nicht bloße Gleichartigkeit. So hat zum Beispiel Deutschland im 19. Jahrhundert die kapitalistische Entwicklung durchgemacht, geradeso wie England. Die von dieser Seite her wirkenden, den Charakter der Menschen wesentlich beeinflussenden Kräfte sind in beiden Ländern dieselben gewesen. Darum sind aber die Deutschen doch nicht Engländer geworden. Denn Schicksalsgemeinschaft bedeutet nicht Unterwerfung unter gleiches Schicksal, sondern gemeinsames Erleben desselben Schicksals in stetem Verkehr, fortwährender Wechselwirkung miteinander. Engländer und Deutsche haben die kapitalistische Entwicklung erlebt: aber zu verschiedener Zeit, an verschiedenen Orten, nur in lockerer Beziehung zueinander. So mögen die gleichen treibenden Kräfte sie einander ähnlicher gemacht haben als sie früher waren, aber nie würden sie sie zu einem Volke machen. Nicht Gleichartigkeit des Schicksals, sondern nur das gemeinsame Erleben und Erleiden des Schicksals, die Schicksalsgemeinschaft, erzeugt die Nation. Gemeinschaft bedeutet nach Kant „durchgängige Wechselwirkung untereinander“. (Dritte Analogie der Erfahrung: Grundsatz der Gemeinschaft) Nur das in durchgängiger Wechselwirkung untereinander, in steter Beziehung aufeinander erlebte Schicksal bringt die Nation hervor.
Dass nun die Nation Erzeugnis nicht bloßer Gleichartigkeit des Schicksals ist, sondern dass sie nur in der Schicksalsgemeinschaft, in der steten Wechselwirkung der Schicksalsgenossen entsteht und besteht, unterscheidet sie von allen anderen Charaktergemeinschaften. Eine solche Charaktergemeinschaft ist, beispielsweise die der Klasse. Die Proletarier aller Länder tragen gleichartige Charakterzüge. Bei aller Verschiedenheit hat doch gleiche Klassenlage dem Charakter des deutschen und des englischen, des französischen und des russischen, des amerikanischen und des australischen Arbeiters gleiche Züge eingegraben: gleiche Kampfesfreude, gleiche revolutionäre Gesinnung, gleiche Klassenmoral, gleiches politisches Wollen. Aber hier ist es nicht die Schicksalsgemeinschaft, sondern die Gleichartigkeit des Schicksals, die die Charaktergemeinschaft erzeugt hat. Denn mögen auch Beziehungen des Verkehrs zwischen deutschen und englischen Arbeitern bestehen: sie sind doch viel lockerer als die Beziehungen, die den englischen Arbeiter mit den englischen Bourgeois dadurch verknüpfen, dass sie beide in derselben Stadt leben, dieselben Plakate an den Mauern, dieselben Zeitungen lesen, an denselben politischen oder Sportereignissen Anteil nehmen, dass sie selbst gelegentlich miteinander oder doch beide mit denselben Personen – den verschiedenen Mittelspersonen zwischen Kapitalisten und Arbeitern – sprechen. Die Sprache ist das Werkzeug des Verkehrs. Bestünden mehr Verkehrsbande zwischen englischen und deutschen Arbeitern als zwischen englischen Bourgeois und englischen Arbeitern, so würden die deutschen Arbeiter und die englischen Arbeiter eine gemeinsame Sprache haben, nicht die englischen Arbeiter und die englischen Bourgeois. Dies also, dass zwischen den Gliedern einer Nation eine Verkehrsgemeinschaft besteht, eine stete Wechselwirkung im mittelbaren und unmittelbaren Verkehr miteinander, das scheidet die Nation von der Charaktergemeinschaft der Klasse. Man darf vielleicht sagen, dass die wirkenden Einflüsse der Lebensweise, des Schicksals die Arbeiter verschiedener Nationen gleichartiger bestimmen als die verschiedenen Klassen einer und derselben Nation, dass daher auch dem Charakter nach die Arbeiter verschiedener Länder einander viel ähnlicher sind als Bourgeois und Arbeiter desselben Landes. Aber das scheidet trotz alldem die Charaktergemeinschaft der Nation von der der Klasse, dass jene aus Schicksalsgemeinschaft, diese bloß aus Gleichartigkeit des Schicksals entsteht.
Die Nation kann also definiert werden als die nicht aus Gleichartigkeit des Schicksals, sondern aus Schicksalsgemeinschaft erwachsende Charaktergemeinschaft. Das ist auch die Bedeutung der Sprache für die Nation. Mit den Menschen, mit denen ich im engsten Verkehr stehe, mit denen schaffe ich mir eine gemeinsame Sprache; und mit den Menschen, mit denen ich eine gemeinsame Sprache habe, mit denen stehe ich im engsten Verkehr.
Wir haben zwei Mittel kennen gelernt, durch welche die wirkenden Ursachen, die Bedingungen menschlichen Daseinskampfes, die Menschen zur nationalen Schicksalsgemeinschaft zusammenschmieden.
Der eine Weg ist der der natürlichen Vererbung. Die Lebensbedingungen der Ahnen geben dem die Geschlechter untereinander verbindenden Keimplasma seine qualitative Bestimmtheit: auf dem Wege der natürlichen Auslese wird darüber entschieden, welche Eigenschaften vererbt, welche ausgeschieden werden. Die Lebensbedingungen der Ahnen bestimmen daher die ererbten Eigenschaften der leiblichen Nachkommen. Die Nation ist hier also Abstammungsgemeinschaft: sie wird zusammengehalten durch das gemeinsame Blut, wie das Volk sagt, durch die Gemeinschaft des Keimplasmas, wie die Wissenschaft lehrt. Aber die durch gemeinsame Abstammung verbundenen Volksgenossen bleiben nur solange eine Nation, solange sie in Verkehrsgemeinschaft miteinander bleiben, so lange sie durch Wechselheirat ihre Blutsgemeinschaft erhalten. Hört die geschlechtliche Verbindung unter den Volksgenossen auf, so entsteht sofort die Tendenz zur Entstehung neuer, untereinander verschiedener Charaktergemeinschaften aus dem bisher einheitlichen Volke. Nicht nur der Gemeinschaft des Blutes durch gemeinsame Abstammung, sondern auch der Erhaltung dieser Gemeinschaft durch fortwährende Blutvermischung bedarf es zum Bestände der Nation als Naturgemeinschaft.
Aber der Charakter des Individuums ist niemals bloß die Gesamtheit der ererbten Eigenschaften, er ist immer auch bestimmt durch die ihm überlieferte, auf ihn wirkende Kultur: durch die Erziehung, die er genießt, das Recht, dem er unterworfen ist, die Sitten, nach denen er lebt, die Anschauungen von Gott und Welt, vom Sittlichen und Unsittlichen, Schönen und Unschönen, die ihm überliefert werden, durch die Religion, die Philosophie, die Wissenschaft, die Kunst, die Politik, die auf ihn einwirkt – vor allem aber dadurch, was alle diese Erscheinungen bestimmt, durch die Art, wie er inmitten seiner Volksgenossen seinen Daseinskampf führt, seinen Lebensunterhalt erwirbt. So gelangen wir zum zweiten großen Mittel, durch das der Daseinskampf das Individuum bestimmt: zu der Überlieferung der Kulturgüter von Mund zu Mund. Die Nation ist niemals nur Natur-, immer auch Kulturgemeinschaft. Auch hier ist es zunächst das Geschick vergangener Geschlechter, das das Individuum bestimmt: das Kind unterliegt den wirkenden Einflüssen der bestehenden Gesellschaft, in deren Wirtschaftsleben, in deren Recht, in deren Geisteskultur es hineingeboren wird. Auch hier aber erhält nur die fortwährende Verkehrsgemeinschaft die Gemeinschaft des Charakters. Das große Werkzeug dieses Verkehres ist die Sprache: sie ist das Werkzeug der Erziehung, das Werkzeug alles wirtschaftlichen und alles geistigen Verkehrs. So weit die Verständigungsmöglichkeit durch die Sprache reicht, reicht der Wirkungsbereich der Kultur. Nur so weit die Gemeinschaft der Sprache reicht, ist diese Verkehrsgemeinschaft eine enge. Verkehrsgemeinschaft und Sprache bedingen einander wechselseitig: Die Sprache ist Bedingung alles engen Verkehrs und gerade darum erzeugt die Notwendigkeit des Verkehrs sich gemeinsame Sprachen, wie andererseits mit der Zerreißung der Verkehrsgemeinschaft auch die Sprache sich allmählich differenziert. Ich kann freilich auch eine fremde Sprache lernen und werde darum doch nicht Mitglied des fremden Volkes, weil die fremde Sprache mich niemals in gleicher Weise dem Kultureinfluss unterwirft wie die Muttersprache: Die durch die Muttersprache vermittelte Kultur hat meine Kindheit, die Jahre stärkster Aufnahmsfähigkeit beeinflusst, meinen Charakter zuerst gebildet; alle späteren Eindrücke werden, indem sie aufgenommen werden, der schon bestehenden Individualität angepasst, unterliegen in dem Prozess der Aufnahme selbst einer Veränderung. Dazu kommt noch, dass die fremde Sprache nur selten in gleich vollkommener Weise zum Besitztum des Individuums wird wie die Muttersprache, dass die feinsten, innigsten Wirkungen in ihr meist verloren gehen: auch auf den gebildeten Deutschen wirkt das englische und französische Kunstwerk nur selten mit gleicher Kraft wie das deutsche. Dass eine Nation sich dauernd ohne die Gemeinschaft der Sprache, dieses wichtigsten Werkzeuges menschlichen Verkehrs, als Kulturgemeinschaft: erhält, ist nicht denkbar. Dagegen ist die Gemeinschaft der Sprache noch keine Bürgschaft nationaler Einheit: auf Dänen und Norweger wirkt trotz der Sprachgemeinschaft verschiedene Kultur, die katholischen Kroaten und die griechischen Serben unterliegen trotz der Sprachgemeinschaft verschiedenem Kultureinfluss. Aber in dem Maße, in dem die kulturell trennende Wirkung der Religion verschwindet, wird aus Serben und Kroaten kraft der durch die Gleichheit der Sprache vermittelten Verkehrsgemeinschaft, kraft der gleichartigen kulturellen Einflüsse, unter denen sie stehen, eine Nation. Daraus ergibt sich auch die nationale Bedeutung des Sieges der Einheitssprache über die Mundarten: die Notwendigkeit engeren Verkehrs hat die Einheitssprache erzeugt und das Bestehen der Einheitssprache unterwirft nun alle, die sie beherrschen, gleichartigem Kultureinfluss. Gegenseitige Einwirkung aufeinander eint sie zur Kulturgemeinschaft. Deutlich zeigt sich das Verhältnis kultureller Differenzierung und Sprachgemeinschaft am Beispiele der Holländer: Sie, aus drei Splittern deutscher Stämme entstanden, gehören doch nicht mehr zum deutschen Volke; die von den Schicksalen der deutschen gänzlich verschiedenen Geschicke der niederländischen Volkswirtschaft haben dort eine anders geartete Kultur erzeugt; wirtschaftlich und kulturell von den Deutschen geschieden, haben sie die Verkehrsgemeinschaft mit den deutschen Stämmen zerrissen: das Band, das sie miteinander verband, war zu eng, das Band, das sie mit den anderen deutschen Stämmen verknüpfte, zu locker; so schufen sie sich ihre eigene Sprache als Werkzeug ihrer Kultur und hatten an dem Prozess der kulturellen Einigung der deutschen Nation durch die deutsche Einheitssprache keinen Anteil mehr.
Naturgemeinschaft und Kulturgemeinschaft können zusammenfallen: die Schicksale der Ahnen können zum Charakter der Enkel werden einerseits durch Vererbung der Eigenschaften der Ahnen, andererseits durch die Überlieferung der von den Ahnen entwickelten Kultur. Aber Natur- und Kulturgemeinschaft müssen nicht zusammenfallen: die Naturenkel und die Kulturenkel sind nicht immer dieselben. Denn zur Naturgemeinschaft sind nur die Personen gemeinsamer Abstammung vereint, während die Kulturgemeinschaft alle verbindet, die in steter Wechselwirkung aufeinander gemeinsamem Kultureinfluss unterliegen. Je stärker dieser Kultureinfluss ist, je mehr der einzelne den ganzen Reichtum der Kultur eines Volkes in sich aufnimmt und in seiner Eigenart durch ihn bestimmt wird, desto eher kann er zum Glied der Nation werden, am Nationalcharakter Anteil gewinnen, obwohl er nicht kraft der Naturgemeinschaft zu ihr gehört. So ist selbst bewusste Wahl der Zugehörigkeit zu einer anderen Nation als der Nation unserer Geburt möglich. So sagt Chamisso von sich selbst: „Durch Sprache, Kunst, Wissenschaft und Religion ward ich ein Deutscher.“
Ist nun die Menschheit wirklich so in Nationen geteilt, dass jedes Individuum zu einer Nation, keines gleichzeitig zu mehreren gehört? Die bloße natürliche Verknüpfung des Menschen mit zwei Nationen durch Abstammung ändert an der strengen Differenzierung der Nationen nichts. In Grenzländern, wo zwei Nationen aneinander stoßen, werden die Menschen vielfach untereinander vermischt, so dass das Blut beider Nationen in ganz verschiedenartiger Mischung in den Adern eines jeden fließt. Trotzdem bewirkt dies in der Regel keine Verschmelzung der Nationen. Hier ist es eben die Verschiedenheit der Kulturgemeinschaft, die die Nationen trotz der Blutvermengung scharf scheidet. Ein Beispiel bieten uns die nationalen Kämpfe in Österreich. Wer in dem Kampfe zwischen Deutschen und Tschechen einen Rassenkampf sieht, beweist nur seine historische Unwissenheit. Die Bauern mögen bei Deutschen und Tschechen vielleicht ihr Blut sich noch einigermaßen rein bewahrt haben, aber die Schichten, die den nationalen Kampf führen und die das Streitobjekt des nationalen Kampfes sind – die Intelligenz, das Kleinbürgertum, die Arbeiterschaft – haben seit Jahrhunderten durch Wechselheiraten ihr Blut derartig vermengt, dass weder von einer deutschen noch von einer tschechischen Nation als Naturgemeinschaft die Rede sein kann. Trotzdem sind die Nationen keineswegs miteinander verschmolzen. Die Verschiedenheit der durch die Sprache vermittelten Kultur lässt sie als selbständige, voneinander scharf geschiedene Nationen weiterbestehen. Ganz anders, wenn ein Individuum auch an der Kultur zweier oder mehrerer Nationen gleichmäßig oder fast gleichmäßig Anteil gewinnt. Auch solche Individuen gibt es in Grenzgebieten und Gebieten, wo mehrere Nationen nebeneinander wohnen, in nicht geringer Zahl. Sie sprechen von Kindheit an die Sprache zweier Nationen: sie sind durch die Schicksale zweier Nationen, durch die Kultureigentümlichkeiten zweier Nationen fast gleichartig beeinflusst, und so werden sie ihrem Charakter nach zu Mitgliedern beider Nationen, oder wenn man will, zu Individuen, die voll und ganz zu keiner Nation gehören. Denn das Individuum, auf das die Kultur zweier oder mehrerer Nationen einwirkt, dessen Charakter durch verschiedene nationale Kulturen gleich stark beeinflusst wird, vereinigt nicht einfach die Charaktermerkmale zweier Nationen, sondern besitzt ganz neuartigen Charakter, wie die chemische Verbindung andere Merkmale aufweist als jedes der Elemente, die sie zusammensetzen. Dies ist auch der tiefste Grund, warum das Individuum, das kulturell das Kind mehrerer Nationen ist, meist wenig beliebt, beargwöhnt, in Zeiten nationalen Kampfes selbst als Verräter, als Überläufer verachtet wird: die Mischung der Kulturelemente erzeugt einen neuen Charakter, der den kulturellen Mischling beiden Nationen als einen Fremden erscheinen lässt. ihn ebenso volksfremd erscheinen lässt wie den Zugehörigen einer anderen Nation. Aber wenn die Abneigung gegen die kulturellen Mischlinge begreiflich ist, so darf man sich doch durch sie nicht irreführen lassen. Es sind sehr oft die Allergrößten. in denen kulturell zwei oder mehr Nationen wirksam geworden sind. Auf die Männer unserer Wissenschaft, auf unsere großen Künstler wirken sehr häufig mehrere nationale Kulturkreise mit fast gleicher Stärke ein. In einem Manne wie Karl Marx ist die Geschichte von vier großen Nationen – der Juden, der Deutschen, der Franzosen und der Engländer – zu individueller Eigenart erstarrt und gerade darum konnte sein persönliches Werk in die Geschichte aller großen Nationen unserer Zeit eingehen, ist die Geschichte keiner Kulturnation während der letzten Jahrzehnte ohne sein Werk verständlich.
Die kulturelle Einwirkung mehrerer nationaler Kulturen auf dasselbe Individuum kommt aber nicht nur als individuelle, sondern auch als Massenerscheinung vor. So hat zweifellos die deutsche Kultur die ganze tschechische Nation sehr wesentlich bestimmt. Es ist gewiss nicht ganz unrichtig, wenn man sagt, die Tschechen seien tschechisch sprechende Deutsche, was natürlich – vom Standpunkt nationaler Wertungsweise – im Munde eines Deutschen nicht Tadel, sondern höchstes Lob ist. Indessen bewirkt die massenhafte Annahme fremder Kulturelemente durch eine ganze Nation doch niemals völlige Ausgleichung der Nationalcharaktere, sondern höchstens Verminderung ihrer Unterschiede. Denn die fremden Elemente wirken niemals mit gleicher Kraft auf die Individuen ein. wie die ursprüngliche nationale Kultur: sie werden nie unverändert aufgenommen, sondern unterliegen in dem Prozess der Aufnahme selbst einer Veränderung, einer Anpassung an die schon bestehende nationale Kultur. Das ist die uns schon bekannte Erscheinung der nationalen Apperzeption.
Dass dieselbe wirkende Ursache, die Bedingungen menschlichen Kampfes ums Dasein, durch zwei verschiedene Mittel, nämlich einerseits durch die Vererbung der durch den Daseinskampf angezüchteten Eigenschaften auf die leiblichen Nachkommen, andererseits aber durch die Überlieferung der menschlichen Kulturgüter auf die durch Sprach- und Verkehrsgemeinschaft verbundenen Personen, die Menschen zur Nation zusammenschließt, gibt den Erscheinungen der Nation jene verwirrende Mannigfaltigkeit, die so schwer die Einheit der wirkenden Ursachen erkennen lässt: Da haben wir Nationen, wo Natur- und Kulturgemeinschaft zusammenfallen, die leiblichen Nachkommen es sind, denen zugleich die geschichtlich entstandene Kultur überliefert wird; da haben wir natürliche Mischlinge, die doch nur einem Kulturkreise angehören; dann wieder Personen national-einheitlicher Abstammung, deren Charakter aber durch zwei- oder mehrere nationale Kulturen geformt wird; endlich Nationen, die keine Gemeinschaft der Abstammung haben und nur durch die Gemeinschaft der Kultur zu einer starken Einheit zusammengeschmolzen werden. Dagegen bilden Personen gleicher Abstammung, die keine Kulturgemeinschaft zusammenschließt, keine Nation: es gibt keine Nation ohne gegenseitige Einwirkung der Volksgenossen aufeinander, die nur durch das Werkzeug gemeinsamer Sprache, durch Überlieferung derselben Kulturgüter möglich ist. Bloße Naturgemeinschaft ohne Kulturgemeinschaft mag die Anthropologen als Rasse interessieren, bildet aber keine Nation. Die Bedingungen menschlichen Daseinskampfes können auch durch das Mittel der Naturgemeinschaft, müssen aber immer und jedenfalls durch das Mittel der Kulturgemeinschaft die Nation erzeugen.
Unsere Untersuchung hat uns gezeigt, dass die die Nation konstituierende Wirksamkeit gemeinsamer Kultur unter verschiedenen sozialen Verfassungen ganz verschieden ist. Es sind wesentlich drei Typen der nationalen Kulturgemeinschaft, die wir bisher kennen gelernt haben.
Der erste Typus, in unserer geschichtlichen Darstellung durch die Germanen im Zeitalter des Sippschaftskommunismus vertreten, zeigt uns eine Nation, wo alle Volksgenossen, wie sie durch die Gemeinschaft des Blutes verbunden sind, so auch durch die gemeinsame, von den Ahnen ererbte Kultur verknüpft sind. Wir haben wiederholt erwähnt, wie diese nationale Einheit mit dem Übergang zur Sesshaftigkeit zerfällt: die ererbten Eigenschaften differenzieren sich mit dem Aufhören der Wechselheiraten zwischen den örtlich geschiedenen, verschiedenen Bedingungen des Daseinskampfes unterworfenen Stämmen; aber auch die ererbte gemeinsame Kultur wird von den verschiedenen Stämmen verschieden weiter entwickelt. So trägt die Nation in sich den Keim des Zerfalles.
Den zweiten Typus stellt die Nation der auf der Verschiedenheit sozialer Klassen beruhenden Gesellschaft dar. Die Massen des Volkes unterliegen weiter dem uns bekannten Differenzierungsprozess: Ohne Geschlechtsverkehr miteinander werden sie schon körperlich immer verschiedener; durch kein Band des Verkehrs verbunden, entwickeln sie die ursprünglich gemeinsame Sprache zu verschiedenen Mundarten; verschiedenen Bedingungen des Daseinskampfes unterworfen, entwickeln sie verschiedenartige Kultur, die ihrerseits wieder Verschiedenheit des Charakters erzeugt. Die Massen des Volkes verlieren so immer mehr die nationale Einheit, je mehr die ursprüngliche Gemeinschaft der ererbten Eigenschaften im Laufe der Jahrhunderte verloren geht, je mehr die ursprünglich gemeinsame Kultur von den später entstandenen verschiedenen Kulturelementen überdeckt und zersetzt wird. Was die Nation zusammenhält, ist nicht mehr Bluteinheit und Kultureinheit der Massen, sondern die Kultureinheit der herrschenden Klassen, die über diesen Massen sitzen und von ihrer Arbeit zehren. Sie und ihr Anhang sind durch Geschlechtsverkehr und kulturellen Verkehr aller Art miteinander verbunden: so bilden die Ritter des Mittelalters, die Gebildeten der Neuzeit die Nation. Die breiten Massen aber, deren Hände Werk die Nation erhält – Bauern, Handwerker, Arbeiter – sind nichts als die Hintersassen der Nation.
Einen dritten Typus endlich stellt die sozialistische Gesellschaft der Zukunft dar, die wieder alle Volksgenossen zu einer autonomen nationalen Einheit vereint. Hier ist es nun aber nicht mehr die gemeinsame Abstammung, sondern die Gemeinschaft der Erziehung, der Arbeit, des Kulturgenusses, die die Nation zusammenschließt. Darum ist diese Nation nicht mehr von der Gefahr des Zerfalles bedroht, sondern die Gemeinschaft der Erziehung, die Teilnahme am Kulturgenuss, die enge Verbindung im Gemeinwesen und in der gesellschaftlichen Arbeit gibt der Nation die sichere Gewähr nationaler Einheit.
So ist uns die Nation kein starres Ding mehr, sondern ein Prozess des Werdens, in ihrem Wesen bestimmt durch die Bedingungen, unter denen die Menschen um ihren Lebensunterhalt und um die Erhaltung der Art kämpfen. Und da die Nation noch nicht in einem Zustande entsteht, wo die Menschen ihre Nahrung nur suchen, nicht erarbeiten, wo sie ihren Lebensunterhalt durch bloße Inbesitznahme, Okkupation gefundenen herrenlosen Gutes gewinnen, sondern erst auf der Stufe, wo der Mensch die Güter, deren er bedarf, der Natur durch Arbeit abgewinnt, so ist das Entstehen der Nation, so ist die besondere Eigenart jeder Nation bedingt durch die Arbeitsweise der Menschen, durch die Arbeitsmittel, deren sie sich bedienen, durch die Produktivkräfte, die sie beherrschen, durch die Verhältnisse, die sie in der Produktion untereinander eingehen. Die Entstehung der Nation, Jeder einzelnen Nation, als ein Stück des Kampfes der Menschheit mit der Natur zu begreifen – das ist die große Aufgabe, zu deren Lösung uns die historische Methode Karl Marx’ befähigt hat.
Dem nationalen Materialismus ist die Nation ein Stück eigenartiger materieller Substanz, die die geheimnisvolle Kraft hat, aus sich die nationale Charaktergemeinschaft zu erzeugen. Darum wird ihm die Geschichte der Menschheit zu einer Geschichte der Kämpfe und der Vermischungen der beharrenden, unveränderlichen Rassensubstanzen, Vererbungssubstanzen untereinander. Hat diese unwissenschaftliche Betrachtungsweise auch in den letzten Jahren – insbesondere unter dem Einflüsse Gobineaus – eine merkwürdige Wiedergeburt erlebt, so hat doch der Darwinismus ihr wirksam entgegengearbeitet. Auch unter Jenen, die auf die Bedeutung ererbter Rassencharaktere besonderes Gewicht legen, dringt die Ansicht durch, „dass es nicht genügt, eine Verschiedenheit der Rassen bloß zu konstatieren, man muss sie auch zu erklären suchen.“ [2] Macht man mit diesem Gedanken aber nur Ernst, so wird die Rasse nichts anderes mehr als eines jener Mittel, durch die die Bedingungen des Kampfes ums Dasein ihre Wirksamkeit entfalten, durch die die Produktivkräfte, deren sich die Menschen im Kampfe mit der Natur bedienen, die nationale Charaktergemeinschaft bilden.
Der nationale Spiritualismus hat die Nation zu einem geheimnisvollen Volksgeist, die Geschichte der Nation zur Selbstentwicklung des Volksgeistes, die Weltgeschichte zu einem Kampfe der durch ihre Eigenart zu Freundschaft miteinander, Feindschaft gegeneinander bestimmten Volksgeister gemacht. Aber wenn beispielsweise auch Lamprecht noch die Entwicklung des Nationalbewusstseins in den Mittelpunkt seiner Geschichte der Nation stellt und ein allgemeines Gesetz der Entwicklung des Volksgeistes finden zu können glaubt, so erklärt er doch schon die Wandlungen des Nationalbewusstseins, die Entwicklungen der Volksseele vom symbolistischen Zeitalter bis zu dem der Reizsamkeit aus den Veränderungen der Wirtschaft des Volkes; die Entwicklung der Volksseele ist ihm nicht mehr die treibende Kraft der Entwicklung, sondern das Ergebnis der Veränderungen der Arbeitsweise des Volkes. Wenn er trotzdem sich damit nicht begnügt, die Nation in ihrem Werden aus der Entwicklung menschlicher Produktivkräfte, aus den Wandlungen menschlicher Produktionsverhältnisse unter Gesetzen zu verstehen, wenn er überdies auch noch die Entwicklung des Nationalbewusstseins, der Volksseele unter allgemeine Gesetze bringen will, die keine einzelne historische Tatsache mehr erklären, sondern nur noch das Allgemeine der Entwicklung beschreiben können, so handelt es sich da gar nicht um Gesetze mehr, sondern, wie Simmel meint, um „Vorbereitungen auf Gesetze“, um „vorläufige Zusammenfassungen der typischen Erscheinungen der Geschichte, erste Orientierungen über die Masse der einzelnen Tatsachen“. [3]
So vorbereitet einerseits durch den Darwinismus, der den nationalen Materialismus überwunden hat, andererseits durch die historische Forschung, die an die Stelle der Erklärung geschichtlichen Werdens aus dem mystischen Volksgeist die Aufzeigung der wirtschaftlichen Prozesse gesetzt hat, die das Werden der Nation bestimmen, kann die materialistische Geschichtsauffassung die Nation als das nie vollendete Produkt eines stetig vor sich gehenden Prozesses begreifen, dessen letzte Triebkraft die Bedingungen des Kampfes des Menschen mit der Natur, die Wandlungen menschlicher Produktivkräfte, die Veränderungen menschlicher Arbeitsverhältnisse sind. Diese Auffassung macht die Nation zu dem Historischen in uns. Der Darwinismus hat uns die Zeichen deuten gelehrt, die die Geschichte des organischen Lebens unserem lebendigen Körper eingegraben: In Bölsches reizvollen Plaudereien mag man nachlesen, wie unsere eigenen Organe die Geschichte unserer tierischen Ahnen erzählen. Ähnlich lernen wir nun auch den Nationalcharakter deuten. In der individuellen Eigenart, die jedes Individuum mit den anderen Individuen seines Volkes gemein hat, durch die es also mit diesen anderen Individuen zu einer Gemeinschaft zusammengeschweißt wird, ist die Geschichte seiner (leiblichen und kulturellen) Ahnen niedergeschlagen, sein Charakter ist erstarrte Geschichte. Dass die persönliche Eigenart jedes einzelnen von uns geworden ist im Daseinskampfe vergangener Gemeinschaften, das bildet aus uns eine nationale Charaktergemeinschaft.
Begreifen wir aber den Nationalcharakter als ein Stück geronnener Geschichte, so verstehen wir auch, warum uns die Geschichtswissenschaft die Meinung jener zu widerlegen vermag, die den Nationalcharakter für unveränderlich, für konstant halten. Die Geschichte einer Nation ist in keinem Augenblick vollendet. Das sich wandelnde Schicksal unterwirft ihren Charakter, der ja nichts anderes als ein Niederschlag vergangenen Schicksals ist, fortwährenden Wandlungen. Was die Nationsgenossen desselben Zeitalters verknüpft, ist die Gemeinschaft des Charakters; was die Nationsgenossen verschiedener Zeitalter verknüpft, ist nicht Gleichartigkeit des Charakters, sondern die Tatsache, dass sie aufeinander folgen, aufeinander wirken, dass die Schicksale der früheren den Charakter der späteren bestimmen, nicht etwa dass die früheren mit den folgenden Geschlechtern im Charakter übereinstimmen. Dieses Verhältnis malt sich auch in der Geschichte der Sprache. [4] Die Zeitgenossen, die die Verkehrsgemeinschaft verknüpft, stehen im Sprachgemeinschaft, nicht die aufeinander folgenden Geschlechter. Die Nachkommen sind durch die Schicksale der früheren in ihrer Eigenart bestimmt, aber sie sind nicht ein Ebenbild der früheren.
Indem wir aber die Charaktergemeinschaft aus der Schicksalsgemeinschaft erstehen lassen . wird uns erst die Bedeutung der Charaktergemeinschaft ganz verständlich. Wir sind in unserer Untersuchung ausgegangen von ihrer unmittelbaren empirischen Erscheinungsweise: von der Gleichartigkeit des Charakters der Volksgenossen, davon also, dass der Durchschnitts-Deutsche vom Durchschnitts-Engländer verschieden, jedem anderen Durchschnitts-Deutschen ähnlich ist. Aber das ist ein Satz von nur relativer Allgemeinheit: Kennt nicht jeder von uns Deutsche, die doch nichts von dem zu eigen haben, was sonst als deutscher Nationalcharakter gilt: Sind wir aber von der empirischen Gleichartigkeit zur Schicksalsgemeinschaft aufgestiegen, die die Charaktergemeinschaft erzeugt, so gelangen wir zu einem anderen, tieferen Begriff der Charaktergemeinschaft im Gegensatz zur bloßen Gleichartigkeit des Charakters.
Der individuelle Charakter ist eine Resultante verschiedener Kräfte: Unter ihnen finden wir den auf jedes Individuum wirkenden Einfluss der nationalen Schicksalsgemeinschaft, daneben aber eine Reihe von anderen, individuell verschiedenen charakterbildenden Kräften. Nur sofern die Stärke dieser letzteren Kräfte nicht allzu groß ist, wird die Einwirkung der nationalen Schicksalsgemeinschaft ähnliche individuelle Charaktere erzeugen können; wirken dagegen auf den Charakter des einzelnen besonders starke Kräfte ein, die von den die Charaktere seiner Volksgenossen bestimmenden Kräften wesentlich verschieden sind, so wird ein individueller Charakter entstehen, der, obwohl auch ihn die nationale Schicksalsgemeinschaft gestaltet hat, den anderen Individuen seiner Nation nicht mehr ähnlich ist. Trotzdem ist aber auch er ein Glied der nationalen Charaktergemeinschaft: denn, mag er auch seinen Nationsgenossen noch so unähnlich sein, er ist doch dadurch mit ihnen verbunden, dass eine der Kräfte, die ihn gebildet haben, identisch ist mit einer jener Kräfte, die alle andern Individuen derselben Nation geschaffen haben; er ist ein Kind seiner Nation, weil er ein anderer geworden wäre, wenn ihn zwar dieselben individuellen Kräfte, aber das Blut und die Tradition einer anderen Nation geformt hätten. So gelangen wir zu einem anderen, tieferen Begriff der Charaktergemeinschaft: Sie bedeutet uns nun nicht mehr dies, dass die Individuen derselben Nation einander ähnlich sind, sondern dass auf den Charakter jedes Individuums dieselbe Kraft eingewirkt hat – mögen die anderen, neben ihr wirkenden Kräfte noch so verschieden sein. Jetzt erst rechtfertigt sich der Begriff der Charaktergemeinschaft, während die bloße Erfahrung uns nur eine relative Charakterähnlichkeit erkennen lässt. Während aber diese Charakterähnlichkeit nur bei der Mehrzahl der Nationsgenossen beobachtet werden kann, ist die Charaktergemeinschaft, die Tatsache, dass sie alle Erzeugnis einer und derselben wirkenden Kraft sind, ihnen allen ausnahmslos gemein. Diese wirkende Kraft, das Historische in uns, ist das Nationale in uns, ist es, was uns zur Nation zusammenschmiedet.
Verstehen wir aber das Nationale in unserem Charakter als das Historische in uns, so können wir die Nation noch tiefer als eine soziale Erscheinung, als eine Erscheinung des vergesellschafteten Menschen begreifen. Dem Individualisten ist der Mensch ein Atom und die Atome sind ihm nur äußerlich zusammengehalten durch die Satzung. Uns aber ist der Mensch kein Atom, sondern das Erzeugnis der Gesellschaft; der Robinson selbst, der einsam auf seiner Insel den Daseinskampf führt, kann ihn nur führen, weil er schon als Erbe seiner Ahnen, als Produkt seiner Erziehung die durch die Gesellschaft entwickelten Fähigkeiten, wie Marx sagt, „die Gesellschaftskräfte“’ besitzt. [5] So ist uns auch die Nation nicht etwa eine Anzahl von Individuen, irgendwie äußerlich zusammengehalten, sondern die Nation besteht in jedem Individuum als ein Stück seiner individuellen Eigenart, als seine Nationalität. Das nationale Charaktermerkmal tritt nur als Charaktermerkmal von Individuen in Erscheinung, ist aber gesellschaftlich erzeugt: es ist das Produkt ererbter Eigenschaften und überlieferter Kulturgüter, die die Ahnen jedes Volksgenossen in steter Wechselwirkung mit anderen Gesellschaftsgenossen erzeugt haben, es ist selbst gesellschaftliches Produkt. Und was die Individuen, die zu einer Nation gehören, zusammenschließt, ist das, dass sie alle Erzeugnis derselben wirkenden Kräfte, derselben Gesellschaft sind, dass in ihren individuellen, ererbten Eigenschaften die auslesenden Wirkungen des Daseinskampfes gemeinsam lebender Menschen auf sie übertragen sind, dass ihren individuellen Charakter dieselbe, im Daseinskampfe derselben Menschengemeinschaft gewordene Kultur geformt hat. Darum, nicht durch irgend eine äußere Satzung, ist die Nation eine soziale Erscheinung. Die Nation ist nicht eine Summe von Individuen, sondern jedes Individuum ist das Produkt der Nation; dass sie alle das Produkt derselben Gesellschaft sind, macht sie zu einer Gemeinschaft. Dass die Eigenschaften, die nur als Merkmal des Individuums in Erscheinung treten, gesellschaftliches Erzeugnis sind, und zwar bei allen Gliedern der Nation Erzeugnis einer und derselben Gesellschaft – das eint die Individuen zur Nation. So besteht die Nation nicht kraft äußerer Satzung, sondern ist – logisch, nicht historisch – vor aller Satzung da. [6]
Aber freilich, wenn die eine Gemeinschaft bildenden Menschen nun zueinander in Beziehung treten, miteinander zusammenwirken wollen, so bedürfen sie dazu der Sprache. Die Sprache ist das wichtigste Werkzeug menschlichen Verkehrs: Die Arbeiter der Bibel konnten den Turm von Babel nicht weiter bauen, als Gott ihre Sprache verwirrte. Darum bilden noch nicht alle, die eine Sprache sprechen, eine Nation, aber keine Nation ist möglich ohne gemeinsame Sprache. Die Sprache ist aber nichts anderes als eine „primitive Konvention“ [7], besteht kraft „äußerer Regelung“ – wenn wir diesen Begriff in jenem weiten Sinne nehmen, in dem ihn Rudolf Stammler in die Wissenschaft eingeführt hat. Nicht so, natürlich, als ob sie ϑἐσει, durch Satzung entstanden wäre, als ob etwa ein weiser Gesetzgeber oder ein Gesellschaftsvertrag sie geschaffen hätte, aber ihrer Geltung nach beruht sie doch nur auf äußerer Regelung. Denn dass wir mit einem Begriff ein bestimmtes Wort verbinden, mit der Vorstellung eines Dinges die Vorstellung einer bestimmten Lautverbindung verknüpfen, beruht nur auf Konvention. Es ist diese wichtigste Satzung, die das Kind von den Lippen der Mutter lernt. Stammler irrt also zwar, wenn er in der äußeren Regelung das konstituierende Merkmal sozialer Erscheinungen zu finden glaubt; die Nation zeigt uns klar, wie das Substrat aller sozialen Erscheinungen die Gemeinschaft ist, das heißt die Tatsache, dass die Eigenart des Individuums zugleich Eigenart aller anderen zur Gemeinschaft zusammengeschlossenen Individuen ist, weil der Charakter jedes Individuums in steter Wechselwirkung mit allen anderen Individuen gebildet, der individuelle Charakter eines jeden das Erzeugnis derselben gesellschaftlichen Kräfte ist, aber durch äußere Regelung können die so zu einer Gemeinschaft verbundenen Individuen erst miteinander zusammenwirken, eine Gesellschaft bilden, ihre Gemeinschaft erhalten, neue Gemeinschaft erzeugen. Äußere Regelung ist die Form gesellschaftlichen Zusammenwirkens der durch die Gemeinschaft verbundenen Individuen. [8]
Die Verschiedenheit der Nationalcharaktere ist eine empirische Tatsache, die nur jener Doktrinarismus zu leugnen vermag, der nur sieht, was er sehen will, und darum nicht sieht, was alle sehen. Trotzdem hat man immer wieder die Verschiedenheit des Nationalcharakters zu leugnen gesucht und behauptet, dass sich die Nationen durch nichts anderes unterscheiden als durch ihre Sprache. Diese Meinung finden wir bei vielen Theoretikern, die auf dem Boden der katholischen Glaubenslehre stehen. Sie wurde übernommen von der Humanitätsphilosophie der bürgerlichen Aufklärung. Sie ward auch das Erbe mancher Sozialisten, die sie verwenden wollten, um auf sie den proletarischen Kosmopolitismus zu stützen, der, wie wir noch sehen werden, die erste und primitivste Stellungnahme der Arbeiterklasse zu den nationalen Kämpfen der bürgerlichen Welt darstellt. Diese vermeintliche Einsicht in die Wesenlosigkeit der Nation lebt in Österreich heute noch fort im Sprachgebrauch der sozialdemokratischen Presse, die es liebt, von Genossen deutscher und tschechischer „Zunge“, statt von deutschen und tschechischen Genossen zu reden. Die Ansicht, die nationalen Verschiedenheiten seien nichts als die Verschiedenheiten der Sprache, beruht auf der atomistisch-individualistischen Gesellschaftsauffassung, der die Gesellschaft als bloße Summe äußerlich verbundener Individuen, daher auch die Nation als die bloße Summe äußerlich, nämlich durch die Sprache, verbundener Menschen erscheint. Wer sich zu dieser Ansicht bekennt, der wiederholt den Irrtum Stammlers, der in äußerer Regelung, in Rechtssatzungen und Konventionen, das konstitutive Merkmal sozialer Erscheinungen zu linden glaubt. Uns aber ist die Gesellschaft nicht bloße Summe von Individuen, sondern jedes Individuum Erzeugnis der Gesellschaft. So ist uns auch die Nation keine Summe von einzelnen, die zueinander durch eine gemeinsame Sprache in Beziehung treten, sondern der einzelne ist selbst ein Erzeugnis der Nation; sein individueller Charakter ist gar nicht anders entstanden als in fortwährender Wechselwirkung mit anderen Individuen, wie der Charakter dieser Individuen in Wechselwirkung mit jenem. Dieser Verkehr hat den Charakter jedes dieser Individuen bestimmt und dadurch diese Individuen zu einer Charaktergemeinschaft verknüpft. Die Nation tritt in Erscheinung in der Nationalität des einzelnen Volksgenossen, das heißt in der Tatsache, dass der Charakter jedes Volksgenossen durch das in Gemeinschaft, in steter Wechselwirkung erlebte Schicksal aller Volksgenossen bestimmt ist. Die Sprache aber ist nicht mehr als ein Mittel dieser Wechselwirkung, freilich immer und überall ein unentbehrliches Mittel, wie die äußere Regelung überhaupt die Form des Zusammenwirkens der zu einer Gemeinschaft verknüpften Individuen ist. Wer seinen Augen nicht traut, die ihn doch die Verschiedenheit der Nationalcharaktere tagtäglich sehen lassen, der muss doch wohl der theoretischen Erwägung glauben, die ihn ursächlich verstehen lehrt, dass aus der Verschiedenheit der in steter Verkehrsgemeinschaft erlebten Schicksale notwendig verschiedene Charaktergemeinschaften hervorgehen müssen.
Aber unsere Einsicht in das Wesen der Nation macht nicht nur die individualistische Leugnung der Realität des Nationalcharakters fürderhin unmöglich, sondern auch den viel gefährlicheren Missbrauch dieses Begriffes. Der Nationalcharakter ist ja nichts anderes als die Bestimmtheit der Willensrichtung des einzelnen Volksgenossen durch seine Schicksalsgemeinschaft mit allen Volksgenossen. Einmal entstanden, erscheint der Nationalcharakter als selbständige geschichtliche Macht. Verschiedenheit der Nationalcharaktere bedeutet Verschiedenheit der Willensrichtungen. Jede Nation wird sich also unter denselben äußeren Bedingungen anders verhalten als andere Nationen. So hat beispielsweise die Entwicklung des Kapitalismus bei Engländern, Franzosen, Deutschen zwar sehr ähnliche, aber im einzelnen doch verschiedene Bewegungen ausgelöst. Der Nationalcharakter erscheint also als historische Potenz. Wenn ihn die Theorie als Erzeugnis der Geschichte begreift, so sieht ihn die Erfahrung des Alltags vielmehr als schöpferische Kraft die Geschichte bestimmen. Wenn die Theorie ihn als den Niederschlag der Beziehungen der Menschen zueinander verstehen lehrt, so sieht ihn die unmittelbare Erfahrung vielmehr diese Beziehungen bestimmen, regeln. Das ist der Fetischismus des Nationalcharakters. Unsere Theorie verscheucht diesen Spuk mit einem Schlage. Dass der Nationalcharakter scheinbar das Wollen und Handeln jedes Volksgenossen bestimmt, ist nichts Geheimnisvolles mehr, wenn wir erkennen, dass jeder Volksgenosse ein Erzeugnis seiner Nation und der Nationalcharakter nichts anderes ist als jene bestimmte Willensrichtung, die die Gemeinschaft des Schicksals in jedem Volksgenossen als dessen individuelle Eigenart hervorbringt. Und der Nationalcharakter erscheint auch nicht mehr als selbständige Kraft, sobald wir ihn als den Niederschlag der Geschichte der Nation begreifen. Nun verstehen wir, dass in der scheinbar selbständigen geschichtlichen Wirksamkeit des Nationalcharakters nichts anderes verborgen ist als die Tatsache, dass die Geschichte der Ahnen, die Bedingungen ihres Daseinskampfes, die Produktivkräfte, die sie beherrschten, die Produktionsverhältnisse, die sie eingingen, auch noch das Verhalten ihrer natürlichen und kulturellen Nachkommen bestimmen. Wenn wir früher die natürliche Vererbung und die Überlieferung der Kulturgüter als bloße Mittel kennen gelernt haben, durch die das Schicksal früherer Geschlechter den Charakter der Nachkommen bestimmt, so erscheint uns nun weiter der Nationalcharakter selbst als bloßes Mittel, durch das die Geschichte der Ahnen auch noch auf das Leben der Nachkommen, auf ihr Denken, Fühlen, Wollen, Handeln einwirkt. Gerade indem wir die Realität des Nationalcharakters anerkannt haben, haben wir ihm seine scheinbare Selbständigkeit genommen, ihn als bloßes Mittel der Wirksamkeit anderer Kräfte begreifen gelernt. Dadurch aber verliert der Nationalcharakter auch seinen scheinbar substantiellen Charakter, das heißt den Schein, als sei er das Dauernde, Beharrende in der Erscheinungen Flucht. Nichts als ein Niederschlag der Geschichte, ändert er sich mit jeder Stunde, mit jedem neuen Ereignis, das die Nation erlebt, ist veränderlich wie das Geschehen selbst, das er widerspiegelt. Mitten hineingestellt in das Weltgeschehen, ist er kein beharrendes Sein mehr, sondern stetes Werden und Vergehen.
Wir wollen schließlich unseren Versuch, das Wesen der Nation zu bestimmen, noch dadurch stützen, dass wir ihn den bisherigen Theorien über das Wesen der Nation gegenüberstellen. [9] Von den metaphysischen Theorien der Nation – dem nationalen Spiritualismus und nationalen Materialismus – war bereits die Rede, von den psychologischen Theorien der Nation, die das Wesen der Nation entweder in dem Bewusstsein der Zusammengehörigkeit oder in dem Willen zur Zusammengehörigkeit finden wollen, wird noch in einem späteren Zusammenhange die Rede sein. Hier erübrigt es uns also nur noch, unserer Theorie der Nation die Versuche jener gegenüberzustellen, die eine Anzahl von Elementen aufgestellt haben, die durch ihr Zusammentreffen die Nation konstituieren sollen. Als solche Elemente führen die italienischen Soziologen die folgenden an:
Es ist nun klar, dass diese Theorie eine Anzahl von Merkmalen zusammenstellt, die einander keineswegs beigeordnet werden dürfen, sondern nur im Abhängigkeitsverhältnis voneinander verstanden werden können. Wenn wir zunächst von dem ersten angeblichen Element der Nation, dem gemeinsamen Wohngebiet, absehen, so tritt uns aus den übrigen Elementen das fünfte heraus: die gemeinsame Geschichte. Sie ist es, welche die anderen bestimmt, die anderen erzeugt. Die gemeinsame Geschichte gibt der gemeinsamen Abstammung erst ihre inhaltliche Bestimmtheit, indem sie darüber entscheidet, welche Eigenschaften vererbt, welche ausgeschieden werden. Die gemeinsame Geschichte erzeugt die gemeinsamen Sitten und Gebräuche, die gemeinsamen Gesetze und die gemeinsame Religion, also – um bei unserem Sprachgebrauch zu bleiben – die Gemeinschaft der Kulturüberlieferung. Die gemeinsame Abstammung wie die gemeinsame Kultur sind bloß die Werkzeuge, deren sich die gemeinsame Geschichte zu ihrer Wirksamkeit, ihrer Arbeit am Bau des Nationalcharakters bedient. Das dritte Element, die gemeinsame Sprache, kann aber wieder nicht den anderen beigeordnet werden; es stellt vielmehr ein Mittel zweiter Ordnung dar. Denn wenn die gemeinsame Kultur eines der Mittel ist, durch die die gemeinsame Geschichte für die Formung des Nationalcharakters wirksam wird, so ist die gemeinsame Sprache wieder ein Mittel der Wirksamkeit der gemeinsamen Kultur, das Werkzeug, durch das die Kulturgemeinschaft geschaffen und erhalten wird, als äußere Regelung die Form des gesellschaftlichen Zusammenwirkens der eine Gemeinschaft bildenden und aus sich immer wieder eine Gemeinschaft erzeugenden Individuen. [11] So setzen wir zunächst an die Stelle der bloßen Aufzählung der Elemente der Nation ein System: die gemeinsame Geschichte als die wirkende Ursache, gemeinsame Kultur und gemeinsame Abstammung die Mittel ihrer Wirksamkeit, die gemeinsame Sprache wieder Vermittlerin der gemeinsamen Kultur, gleichzeitig ihr Erzeugnis und sie erzeugend. Nun verstehen wir aber auch das Verhältnis dieser Elemente zueinander. Denn was den Theoretikern der Nation bisher so große Schwierigkeiten gemacht hat. dass diese Elemente in sehr verschiedenartiger Verbindung miteinander auftreten können, dass bald dieses, bald jenes fehlt, wird nun verständlich. Wenn gemeinsame Abstammung und gemeinsame Kultur Mittel desselben wirkenden Faktors sind, so kommt es für den Begriff der Nation offenbar nicht darauf an, dass beide Mittel wirksam sind: daher kann die Nation zwar auf Abstammungsgemeinschaft beruhen, muss es aber nicht, während bloße Abstammungsgemeinschaft immer nur eine Rasse, niemals eine Nation bildet. Daraus ergibt sich ferner auch das Verhältnis der verschiedenen Elemente der Kulturgemeinschaft zueinander: gemeinsame Gesetze sind sicher ein wichtiges Mittel zur Bildung der Charaktergemeinschaft, aber die Charaktergemeinschaft kann auch bestehen und entstehen ohne sie, wenn nur die Wirksamkeit der anderen Elemente stark genug ist, die Individuen zu einer Kulturgemeinschaft zusammenzuschließen. Die Verschiedenheit der Konfession kann aus gleichsprachigen Völkern zwei Nationen machen, Wo die Verschiedenheit der Religion Kulturgemeinschaft verhindert, die gemeinsame Religion Grundlage gemeinsamer Kultur ist, wie bisher bei Serben und Kroaten; aber die Deutschen blieben ein Volk trotz ihrer religiösen Zerrissenheit, weil die konfessionelle Spaltung das Entstehen und den Bestand einer allgemeinen deutschen Kulturgemeinschaft nicht verhindern konnte. Endlich begreifen wir so auch das Verhältnis der Sprache zu den anderen Elementen der Nation: ohne Gemeinschaft der Sprache keine Kulturgemeinschaft, also auch keine Nation. [12] Aber die Gemeinschaft der Sprache erzeugt noch keine Nation, wo die Verschiedenheit in anderer Hinsicht – zum Beispiel die Verschiedenheit der Religion, wie bei Kroaten und Serben, oder die Verschiedenheit der Abstammung, der sozialen und politischen Verhältnisse, wie bei den Spaniern und den spanisch sprechenden Südamerikanern – verhindert, dass die Sprachgemeinschaft zur Kulturgemeinschaft werde.
Es erübrigt uns jetzt noch, des zuerst angeführten „Elementes“ der Nation zu gedenken, des gemeinsamen Wohnsitzes. Wir haben wiederholt davon gesprochen, wie territoriale Absonderung die einheitliche Nation zerreißt. Die Nation als Naturgemeinschaft wird durch die nationale Absonderung allmählich vernichtet, weil die verschiedenen Bedingungen des Daseinskampfes den örtlich geschiedenen Teilen der Nation verschiedene Merkmale anzüchten und diese Verschiedenheit durch keine Blutvermengung ausgeglichen wird. Die Nation als Kulturgemeinschaft wird gleichfalls durch die örtliche Absonderung vernichtet, weil die örtlich geschiedenen Teile der Nation, die abgesondert voneinander ihren Daseinskampf führen, auch die ursprünglich einheitliche Kultur differenzieren und mangels des Verkehres unter ihnen die ursprünglich einheitliche nationale Kultur in eine Anzahl verschiedenartiger Kulturen zerfällt, was in der Differenzierung der einheitlichen Sprache in verschiedene Sprachen infolge des allzu lockeren Verkehrsbandes zwischen den örtlich geschiedenen Teilen der ursprünglich einheitlichen Nation recht augenfällig in Erscheinung tritt. Zerreißt also örtliche Verschiedenheit die Nationen, so bedeutet die Gemeinsamkeit des Wohnsitzes gewiss eine der Daseinsbedingungen der Nation: aber nur insofern, als sie Bedingung einer Schicksalsgemeinschaft ist. Soweit trotz örtlicher Scheidung Kulturgemeinschaft, denkbarerweise selbst Naturgemeinschaft erhalten werden kann, ist die örtliche Trennung kein Hindernis nationaler Charaktergemeinschaft. Der Deutsche, der in Amerika durch die deutsche Kultur beeinflusst bleibt – mag dies selbst auch nur durch das deutsche Buch und die deutsche Zeitung geschehen – der seinen Kindern eine deutsche Erziehung gibt, bleibt trotz aller örtlichen Scheidung ein Deutscher. Nur so weit die Gemeinsamkeit des Bodens Bedingung der Gemeinschaft der Kultur ist, ist sie Daseinsbedingung der Nation. Im Zeitalter des Buchdruckes, der Post und des Telegraphen, der Eisenbahnen und Dampfschiffe ist dies aber in viel geringerem Umfang der Fall als früher. Begreift man also die Gemeinsamkeit des Wohnsitze nicht als eines der „Elemente’“ der Nation neben den anderen, sondern als eine Bedingung der Wirksamkeit der anderen Elemente, so wird man dem oft gehörten Satz notwendig seine Grenzen weisen, dass Gemeinschaft des Wohnsitzes Bedingung des Bestehens einer Nation ist. Uns dünkt diese Erkenntnis kein geringer Gewinn: beruht doch auf unserer Vorstellung von dem Verhältnis der Nation zum Boden unsere Erkenntnis des Verhältnisses der Nation zur wichtigsten Gebietskörperschaft, dem Staat. Wir werden daher gerade auf diese Frage noch zurückkommen müssen und unsere Antwort dann auch an einzelnen Beispielen veranschaulichen können. Hier aber handelte es sich uns nur darum, zu zeigen, wie unsere Theorie der Nation jene Faktoren, die die ältere Theorie als „Elemente“ der Nation unvermittelt nebeneinander gestellt hat, als die wirkenden Kräfte eines Systems zu begreifen, in ihrer Abhängigkeit voneinander, in ihrem Zusammenwirken miteinander zu verstehen vermag.
Aber unsere Theorie hat sich noch an einer Aufgabe zu bewähren, an der die bisherigen Versuche, das Wesen der Nation zu bestimmen, gleichfalls gescheitert sind. Es handelt sich um die Abgrenzung des Begriffes der Nation von den engeren örtlichen und Stammesgemeinschaften innerhalb der Nation. Gewiss, Schicksalsgemeinschaft hat die Deutschen zu einer Charaktergemeinschaft verknüpft. Aber gilt dies nicht auch von den Sachsen oder den Bayern? Von den Tirolern und Steirern? Ja, von den Bewohnern jedes einzelnen Alpentales? Haben nicht die verschiedenen Schicksale der Ahnen, die Verschiedenheiten der Siedlung und Bodenverteilung, der Fruchtbarkeit des Bodens und des Klimas aus Zillertalern und Passeirern, aus „Vintschgern“ und „Pusterern“ scharf ausgeprägte Charaktergemeinschalten gebildet? Wo liegt die Grenze zwischen jenen Charaktergemeinschaften, die als selbstständige Nationen betrachtet werden, und jenen, die wir als engere Verbände innerhalb der Nation ansehen?
Hier müssen wir uns nun daran erinnern, dass wir diese engeren Charaktergemeinschaften bereits kennen gelernt haben als die Zersetzungsprodukte der auf der Abstammungsgemeinschaft beruhenden Nation. Seitdem die Nachkommen des germanischen Stammvolkes voneinander örtlich geschieden, durch den Ackerbau an die Scholle gefesselt sind, ohne Verkehr. ohne Wechselheiraten miteinander abgesondert ihr Leben führen, werden sie voneinander immer verschiedener. Sie sind wohl ausgegangen von einer gemeinsamen Natur- und Kulturgemeinschaft, aber sie sind auf dem Wege, selbstständige, voneinander scharf geschiedene Natur- und Kulturgemeinschaften zu bilden. Es besteht die Tendenz, dass aus jedem dieser engeren, aus einer Nation hervorgegangenen Verbände eine besondere Nation wird. Die Schwierigkeit, den Begriff dieser engeren Charaktergemeinschaften von dem der Nation abzugrenzen, rührt also daher, dass sie selbst Entwicklungsstufen zur Nation darstellen.
Dieser Tendenz zur nationalen Zersplitterung arbeitet nun, wie wir bereits wissen, eine Gegentendenz entgegen, die die Nation enger zu verknüpfen strebt. Aber diese Gegentendenz wird zunächst nur für die herrschenden Klassen wirksam. Sie verknüpft die ritterlich Lebenden des Mittelalters, die Gebildeten der frühkapitalistischen Periode zu einer engen, von allen anderen Kulturgemeinschaften scharf geschiedenen Nation, bringt sie in engen wirtschaftlichen, politischen, geselligen Verkehr miteinander, schafft für sie eine Einheitssprache, lässt dieselbe Geisteskultur, dieselbe Gesittung auf sie wirken. Dieses enge Band der Kulturgemeinschaft verknüpft zunächst die herrschenden Klassen zu einer Nation. Niemand kann darüber im Zweifel sein, ob irgend ein Gebildeter Deutscher oder Holländer, Slovene oder Kroate ist: die nationale Erziehung, die nationale Einheitssprache grenzt auch die nächstverwandten Nationen voneinander scharf ab. Ob dagegen die Bauern irgend eines Dorfes noch als Niederdeutsche oder schon als Niederländer, noch als Slovenen oder schon als Kroaten gelten sollen, lässt sich nicht ohne Willkür entscheiden. Scharf umgrenzt ist nur der Kreis der Nationsgenossen, nicht der Kreis der Hintersassen jeder Nation.
Der moderne Kapitalismus grenzt allmählich auch die unteren Volksklassen der Nationen schärfer gegeneinander ab, denn auch sie gewinnen teil an der nationalen Erziehung, am Kulturleben ihrer Nation, an der nationalen Einheitssprache. Die Einheitstendenz ergreift auch die arbeitenden Massen. Aber erst die sozialistische Gesellschaft wird ihr zum Siege verhelfen. Sie wird die gesamten Völker durch die Verschiedenheit nationaler Erziehung und Gesittung so scharf gegeneinander abgrenzen, wie heute nur die Gebildeten der verschiedenen Nationen gegeneinander abgegrenzt sind. Wohl wird es auch innerhalb der sozialistischen Nation engere Charaktergemeinschaften geben; aber es wird in ihrer Mitte keine selbständigen Kulturgemeinschaften geben können, da selbst jede örtliche Gemeinschaft unter dem Einflüsse der Kultur der Gesamtnation, im kulturellen Verkehr, im Austausch der Vorstellungen mit der Gesamtnation stehen wird.
So gelangen wir erst zur vollständigen Begriffsbestimmung der Nation. Die Nation ist die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Charaktergemeinschaft verknüpften Menschen. Durch Schicksalsgemeinschaft: dieses Merkmal scheidet sie von den internationalen Charaktergesamtheiten des Berufes, der Klasse, des Staatsvolkes, die auf Gleichartigkeit des Schicksals, nicht auf Schicksalsgemeinschaft beruhen. Die Gesamtheit der Charaktergenossen: das scheidet sie von den engeren Charaktergemeinschaften innerhalb der Nation, die niemals eine sich selbst bestimmende, durch eigenes Schicksal bestimmte Natur- und Kulturgemeinschaft bilden, sondern m engem Verkehr mit der Gesamtnation stehen und daher auch durch ihr Schicksal bestimmt werden. So war die Nation scharf abgegrenzt im Zeitalter des Sippschaftskommunismus: die Gesamtheit aller derer, die von dem Stammvolk an der Ostsee abstammten und deren geistiges Wesen kraft natürlicher Vererbung und kultureller Überlieferung durch die Schicksale jenes Stammvolkes bestimmt war, bildete damals die Nation. So wird die Nation wiederum scharf abgegrenzt sein in der sozialistischen Gesellschaft: die Gesamtheit aller derer, die die nationale Erziehung, die nationalen Kulturgüter genießen und deren Charakter daher durch das diese Kulturgüter inhaltlich bestimmende Schicksal der Nation gestaltet wird, wird die Nation bilden. In der auf dem Sondereigentum an Arbeitsmitteln beruhenden Gesellschaft bilden die herrschenden Klassen – einst die ritterlich Lebenden, heute die Gebildeten – die Nation als die Gesamtheit derer, in denen gleiche, durch die Geschichte der Nation geformte Bildung, vermittelt durch die Einheitssprache und die nationale Erziehung, Verwandtschaft der Charaktere hervorbringt. Die breiten Volksmassen aber bilden nicht die Nation – nicht mehr, weil die uralte Abstammungsgemeinschaft sie nicht mehr eng genug aneinander schließt, noch nicht, weil die werdende Erziehungsgemeinschaft sie noch nicht voll erfasst. Die Schwierigkeit, eine befriedigende Begriffsbestimmung der Nation zu finden, an der alle bisherigen Versuche gescheitert sind, ist also historisch bedingt. Man hat die Nation entdecken wollen in unserer Klassengesellschaft, in der die alte scharf umgrenzte Abstammungsgemeinschaft in eine Unzahl örtlicher und Stammesgruppen zersetzt ist und die werdende neue Erziehungsgemeinschaft diese kleinen Gruppen noch nicht zu einem nationalen Ganzen vereinigen konnte.
So enthüllt unser Suchen nach dem Wesen der Nation uns ein grandioses geschichtliches Bild. Am Anfang – im Zeitalter des Sippschaftskommunismus und des nomadisierenden Ackerbaues – die einheitliche Nation als Abstammungsgemeinschaft. Dann seit dem Übergang zum sesshaften Ackerbau und der Entwicklung des Sondereigentums die Spaltung der alten Nation in die Kulturgemeinschaft der herrschenden Klassen auf der einen, die Hintersassen der Nation auf der anderen Seite – diese eingeschlossen in enge örtliche Kreise, die Zersetzungsprodukte der alten Nation. Weiter, seit der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion in kapitalistischer Form die Verbreiterung der nationalen Kulturgemeinschaft – die arbeitenden und ausgebeuteten Klassen bleiben noch die Hintersassen der Nation, aber die Tendenz zur nationalen Einheit auf Grund der nationalen Erziehung wird allmählich stärker als die partikularistische Tendenz der Zersetzung der alten auf Abstammungsgemeinschaft beruhenden Nation in immer schroffer geschiedene örtliche Gruppen. Endlich, sobald die Gesellschaft die gesellschaftliche Produktion ihrer kapitalistischen Hülle entkleidet, das Wiedererstehen der einheitlichen Nation als Erziehungs-, Arbeits-, Kulturgemeinschaft. Die Entwicklung der Nation spiegelt die Geschichte der Produktionsweise und des Eigentums wieder. Wie aus der Gesellschaftsverfassung des Sippschaftskommunismus das Privateigentum an Produktionsmitteln und die individuelle Produktion, und aus dieser wieder die genossenschaftliche Produktion auf Grund des gesellschaftlichen Eigentums entsteht, so spaltet sich die einheitliche Nation in Nationsgenossen und Hintersassen und zerteilt sich in kleine örtliche Kreise, die sich seit der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion wieder einander nähern, um schließlich in der einheitlichen sozialistischen Nation der Zukunft aufzugehen. Die in Nationsgenossen und Hintersassen der Nation geschiedene, in zahlreiche engere örtliche Gruppen gespaltene Nation des Zeitalters des Privateigentums und der individuellen Produktion ist das Zersetzungsprodukt der kommunistischen Nation der Vergangenheit und das Material der sozialistischen Nation der Zukunft.
In doppelter Hinsicht erweist sich also die Nation als eine historische Erscheinung. Sie ist ihrer materialen Bestimmtheit nach eine historische Erscheinung, da der in jedem Volksgenossen lebendig wirksame Nationalcharakter der Niederschlag einer geschichtlichen Entwicklung ist, in der Nationalität des einzelnen Volksgenossen die Geschichte der Gesellschaft sich widerspiegelt, deren Erzeugnis das Individuum ist. Und sie ist ihrer formalen Bindung nach eine historische Erscheinung, da auf den verschiedenen Stufen geschichtlicher Entwicklung verschieden weite Kreise durch verschiedene Mittel in verschiedener Weise zu einer Nation verknüpft werden. Die Geschichte der Gesellschaft entscheidet nicht nur darüber, welche konkreten Merkmale der Nationsgenossen den Nationalcharakter bilden; vielmehr ist auch die Form, in der die geschichtlich wirksamen Kräfte eine Charaktergemeinschaft hervorbringen, historisch bedingt.
Die nationale Geschichtsauffassung, die in den Kämpfen der Nationen die treibende Kraft des Geschehens sieht, strebt nach einer Mechanik der Nationen. Die Nationen erscheinen ihr als nicht weiter auflösbare Elemente, als starre Körper, die im Räume aufeinander stoßen. durch Druck und Stoß aufeinander wirken. Wir aber lösen die Nation selbst auf in einen Prozess. Uns spiegelt nicht mehr die Geschichte die Kämpfe der Nationen wieder, vielmehr erscheint uns die Nation selbst als Spiegelbild der geschichtlichen Kämpfe. Denn die Nation tritt nicht anders in Erscheinung als im Nationalcharakter, in der Nationalität des Individuums; und die Nationalität des Individuums ist nichts anderes als eine Seite seiner Bestimmtheit durch die Geschichte der Gesellschaft, seiner Bestimmung durch die Entwicklung der Arbeitsverfahren und Arbeitsverhältnisse.
1. Noch enger will Harry Graf Kessler den Begriff des Nationalcharakters fassen. Auch er scheidet die Fähigkeit zu verschiedener Stellungnahme zu denselben äußeren Erscheinungen von dem Besitz verschiedener Vorstellungen. Aber er sieht das Merkmal, das die Nationen unterscheidet, nur in der verschiedenen Schnelligkeit der Reaktion auf irgend einen äußeren Reiz, der Nationalcharakter wird ihm zum eigenartigen „Tempo der Seele“. (Zukunft vom 7. April 1906.) Nun ist die verschiedene Beweglichkeit des Willens gewiss eines jener Merkmale, die wir unter dem Begriff der Willensrichtungen zusammenfassen und als den Nationalcharakter im engeren Sinn verstanden haben wollen; die leichte Beweglichkeit des Franzosen, die Schwerfälligkeit des Holländers sind bekannt genug. Aber es kommt natürlich nicht nur darauf an, wie schnell irgend ein äußerer Reiz in uns eine Bewegung auslöst, sondern auch, welche Richtung diese Bewegung einschlägt und welche Kraft sie hat. Kessler fasst also den Begriff des Nationalcharakters zu eng.
2. Schallmayer, Vererbung und Auslese im Lebenslaufe der Völker, Jena 1903. S.174.
3. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, Leipzig 1905, S.84ff.
4. Richtig sagt Fichte:
„Lasset immer nach einigen Jahrhunderten die Nachkommen die damalige Sprache ihrer Vorfahren nicht verstehen, weil für sie die Übergänge verloren gegangen sind; dennoch gibt es vom Anbeginn einen stetigen Übergang, ohne Sprung, immer unmerklich in der Gegenwart und nur durch Hinzufügung neuer Übergänge bemerklich gemacht und als Sprung erscheinend. Niemals ist ein Zeitpunkt eingetreten, da die Zeitgenossen aufgehört hätten, sich zu verstehen.“ Fichte, Reden an die deutsche Nation, Reclam, S.53.
5. Marx, Einleitung zu einer Kritik der politischen Ökonomie, Neue Zeit, XXI., I, S.711.
6. Vergl. Dr. Max Adler, Kausalität und Teleologie im Streit um die Wissenschaft, Marx-Studien, I. Bd., S.369ff.
7. Stammler, Wirtschaft und Recht, Leipzig 1896, S.103.
8. Ich gebrauche die Begriffe der Gemeinschaft und Gesellschaft in einem anderen Sinne als Tönnies in seinem vortrefflichen Werke Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1887. Das Wesen der Gesellschaft sehe ich in dem Zusammenwirken der Menschen unter einer äußeren Satzung; das Wesen der Gemeinschaft darin, dass das Individuum seinem geistigen und körperlichen Sein nach Erzeugnis unzähliger Wechselwirkungen zwischen ihm und den anderen zu einer Gemeinschaft verbundenen Individuen und daher in seinem individuellen Charakter Erscheinungsform des Gemeinschaftscharakters ist. Gemeinschaft kann freilich nur entstehen unter der Bedingung, dass äußere Satzung – wenigstens, wie Stammler uns lehrt, die Sprache – also Gesellschaft gegeben ist; andererseits setzt aber die (Gesellschaft wieder Gemeinschaft, zum mindesten, wie Max Adler gezeigt hat, die Gemeinschaft des „Bewusstseins überhaupt“, voraus. Der Staat endlich ist nur eine der Formen der Gesellschaft, wie das auf äußere Macht gestützte Recht nur eine der Arten der Satzung ist. Noch enger ist der Begriff des modernen Staates, der mit der Warenproduktion entstanden ist und mit ihr verschwinden wird.
9. Eine Sammlung verschiedener Definitionen der Nation gibt Fr. J. Neumann, Volk und Nation, Leipzig 1888.
10. Neumann, a.a.O., S.54.
11. Die Sprache ist allerdings nicht nur ein Mittel der Überlieferung der Kulturgüter, sondern selbst ein Kulturgut. Der Franzose ist nicht nur darum vom Deutschen verschieden, weil ihm seine Sprache andere Kulturgüter überliefert, sondern auch darum, weil die Sprache selbst ein ihm überliefertes Kulturgut ist, das durch seine Eigenart sein Reden, sein Denken, seinen Charakter bestimmt. Wenn die französische Rhetorik von der deutschen Redekunst verschieden ist, so hat daran gewiss auch die Verschiedenheit der Sprache selbst ihren Teil.
12. Wenn man von einer schweizerischen Nation redet, so beruht das entweder – wenn man bloß die Zugehörigkeit der Schweizer zu einem Staat im Auge hat – auf einer Verwechslung von Staatsvolk und Nation oder aber, wenn eine Charaktergemeinschaft zwischen den deutschen, französischen, italienischen und rhätoromanischen Schweizern behauptet werden soll, auf der irrigen Meinung, dass jede Charaktergemeinschaft schon Nation ist.
Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008