Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


I. Die Nation

§ 9. Die Verwirklichung der nationalen Kulturgemeinschaft durch den Sozialismus


Wie das Bürgertum, einst nicht mehr als der an Zahl ärmste, bedeutungsloseste unter den Ständen der feudalen Gesellschaft, in dieser Gesellschaft emporgewachsen ist, sie schließlich gesprengt und sich seine eigene Gesellschaft aufgebaut hat, so regt sich auch in der heutigen Gesellschaft eine Klasse, mit deren Interessen unsere gesellschaftlichen Einrichtungen unvereinbar sind, die Arbeiterklasse; Schritt für Schritt gewinnt sie Boden im Klassenkampfe und wird schließlich eine neue Gesellschaft an Stelle der heutigen setzen. Wie wird aber diese Gesellschaft aussehen? Dass wieder, wie in kleinbürgerlich-zünftlerischen Tagen, jeder Arbeiter Eigentümer seiner Arbeitsmittel werde, das macht die technische Entwicklung unmöglich; im Zeitalter der Maschinen, der riesenhaften Verkehrsmittel, der sich immer gewaltiger ausdehnenden Großbetriebe können die Produktionsmittel nicht dem einzelnen Arbeiter gehören; wohl aber kann die ganze Gesellschaft, die Gesamtheit der Arbeitenden, Eigentümerin der Produktionsmittel sein. Die Gesellschaft, die das Proletariat aufbauen wird, wird daher eine sozialistische Gesellschaft sein. Es wird sie aufbauen wollen, denn die heutige Gesellschaft widerspricht seinen Interessen, beruht auf der Ausbeutung der Arbeiterklasse; es wird sie aufbauen können, denn durch die Konzentration des Kapitals, die Zusammenballung der Arbeitsmittel unter dem Kommando verhältnismäßig weniger Unternehmungen wird die Möglichkeit der Überführung der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum vom Kapitalismus selbst geschaffen; es wird sie aufbauen, denn die Arbeiterklasse bildet die von Tag zu Tag wachsende Mehrheit der Bevölkerung, ihr Wille wird daher schließlich über das Geschick der Völker entscheiden.

Wenn die Gesellschaft sich der Herrschaft über die Arbeitsmittel bemächtigt und die Gütererzeugung planmäßig leitet, so bedeutet dies zunächst eine gewaltige Steigerung der Ergiebigkeit der Arbeit. Wohl hat der Kapitalismus zuerst die modernen Produktivkräfte zur Entwicklung gebracht; aber die kapitalistische Produktionsweise ist doch eine Schranke ihrer vollen Nutzung.

Zunächst vermindert die kapitalistische Produktionsweise die Menge der in der Gesellschaft geleisteten produktiven Arbeit, oder vielmehr sie vermindert die Zahl der Arbeitenden, die produktive Arbeit leisten, und indem sie ein Heer von Nichtarbeitenden und von nicht produktive Arbeit Leistenden unterhält, wälzt sie auf die Schultern der produktiven Arbeiter desto schwerere Last. [1]

Zunächst schaltet der Kapitalismus eine beträchtliche Menge von Menschen aus der gesellschaftlichen Arbeit überhaupt aus, indem ihr Eigentum es ihnen möglich macht, zu leben, ohne Arbeit zu leisten. Die großen und kleinen Kapitalisten, die wachsende Zahl der Rentner, sind aus der gesellschaftlichen Arbeit völlig ausgeschaltet, zehren von ihrem Ertrag, ohne ihn zu vermehren. Dazu kommt der große Anhang aller jener, die ihr Gefolge darstellen: ihre Frauen, ihre Dienstboten, das stehende Heer, dessen der kapitalistische Staat bedarf. Sie alle vermindern die Zahl der produktiven Arbeiter. Aber wenn in der kapitalistischen Gesellschaft die einen am gesellschaftlichen Arbeitsprozess nicht teilnehmen, weil ihr Eigentum es für sie überflüssig macht, zu arbeiten, so sind die anderen aus dem gesellschaftlichen Arbeitsprozess ausgeschaltet, weil das Eigentum der anderen sie von der Arbeit ausschließt. Der Kapitalismus erhält fortwährend eine industrielle Reservearmee, eine Armee von Arbeitslosen. In den Zeiten günstiger Konjunktur zieht er wohl einen Teil der Arbeitslosen an sich, gibt ihm Beschäftigung; völlig verschwindet aber die Arbeitslosigkeit selbst in den Zeiten günstigsten Geschäftsganges niemals; sobald die Krise hereinbricht oder auch nur eine schwere Depression die Volkswirtschaft niederdrückt, wächst sofort die Zahl der Arbeitslosen, vermindert sich die Menge der geleisteten Arbeit. Aber noch mehr! Ganzen großen Arbeiterschichten gibt der Kapitalismus überhaupt nur während bestimmter Jahreszeiten Beschäftigung oder doch volle Beschäftigung (Landwirtschaft! Saisongewerbe!), er vermag die Aufgabe nicht zu lösen, die Arbeiter, die eine Arbeit verrichten, die aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen nur während bestimmter Jahreszeiten möglich ist, während des Restes des Jahres anderen Produktionszweigen zuzuführen.

Der Kapitalismus vermindert aber nicht nur die Zahl der Menschen, die am gesellschaftlichen Arbeitsprozess werktätigen Anteil nehmen, er vermindert insbesondere auch die Zahl jener, die Gebrauchswerte erzeugen. Denn er bedarf einer Riesenarmee fleißiger Arbeiter, die er zu schwerer Mühe vom frühen Morgen bis zum späten Abend zwingt, und deren Werk doch trotz alledem den Reichtum der Gesellschaft an Gütern um nichts vermehrt. Welcher Armee bedarf der Kapitalismus, um die Kämpfe der Konkurrenz zu führen! Die Arbeit aber, die dem Zwecke dient, die Kundschaft dem Konkurrenten abzutreiben, vermehrt den Reichtum der Gesellschaft um keinen Deut. Die Arbeit des Kaufmannes und seines Gehilfen trägt zwiespältigen Charakter: in ihr ist die Arbeit der Verteilung des gesellschaftlichen Güterertrages auf die Gesellschaftsmitglieder enthalten, deren jede Gesellschaft bedarf; in ihr liegt aber auch die Arbeit des Konkurrenzkampfes, die Arbeit der Anlockung, der Überredung, die nur die auf der Konkurrenz der privaten Produzenten beruhende Gesellschaft braucht. Welche Unmenge von Arbeit verschlingt die Reklame, von der Zeitungsannonce bis zur Weltausstellung!

Die sozialistische Gesellschaft wird die Zahl der produktiven Arbeiter ungeheuer vermehren. Kein erwachsener, gesunder Mensch kann in ihr leben, ohne zu arbeiten, denn das Eigentum gibt kein Recht auf den Ertrag fremder Arbeit mehr; und für jeden, der arbeiten will, hat sie eine Arbeitsstelle, denn jeder Arbeiter ist ihr willkommen als Mehrer des gesellschaftlichen Reichtums. Keine Arbeit aber dient mehr anderem Zwecke als der Gütererzeugung und Güterverteilung, der Vermehrung des Güterreichtums der Gesellschaft.

Die kapitalistische Produktionsweise vermindert aber nicht nur die volle Ausnützung der verfügbaren menschlichen Arbeitskräfte, sie verhindert auch die Anwendung der möglichst ergiebigen Betriebsweise. Die Errungenschaften der modernen Technik vermag die kapitalistische Produktionsweise niemals voll auszunützen. Die sozialistische Gesellschaft wird eine Maschine anwenden können, wenn sie mehr Arbeit erspart, als zu ihrer Herstellung notwendig ist; die kapitalistische Produktionsweise dagegen vermag eine Maschine nur zu nutzen, wenn sie mehr Arbeitslohn erspart, als sie kostet. Je niedriger die Arbeitslöhne sind, desto schwerer ist die Einführung neuer Maschinen, die Nutzung des technischen Fortschrittes. Da der Arbeitslohn immer nur Erscheinungsform des Wertes der Arbeitskraft, niemals Erscheinungsform des Wertes des Arbeitsproduktes sein kann, so kann die kapitalistische Gesellschaft niemals alle jene Maschinen anwenden, die eine sozialistische Gesellschaft bereits in ihren Dienst stellen könnte. Aber noch mehr! Der gesellschaftliche Mehrwert wird in der kapitalistischen Produktionsweise auf die einzelnen Produzenten im Verhältnis zur Menge des aufgewendeten Kapitals verteilt, der individuelle Profit steht nicht zur Menge der geleisteten Arbeit, sondern zur Menge des aufgewendeten Kapitals in unmittelbarem Verhältnis. Kapital ist aber nicht nur variables Kapital, das zur Entlohnung der Arbeiter verwendet wird, sondern auch konstantes Kapital, Sachkapital. Die Erzeugung des Eisens, der Maschinen, sind nun Produktionszweige mit hoher organischer Zusammensetzung des Kapitals: auf eine bestimmte Menge Lohnkapital entfällt hier mehr als in anderen Produktionszweigen an Sachkapital. Die Produzenten des Eisens und der Maschinen empfangen daher mehr an Profit, als dem Mehrwert entspricht, der in ihren Werkstätten erzeugt wurde, sie eignen sich einen Teil des Mehrwertes der anderen Produktionszweige an. Die Erscheinungsform dafür ist der Preis des Eisens, der Maschine. Der Produktionspreis der Maschine steht dauernd über ihrem Wert, er ist zu hoch, um ein getreuer Ausdruck der in ihr verkörperten Menge gesellschaftlicher Arbeit zu sein, weil in ihm ein Stück des in anderen Produktionszweigen erzeugten, von den Eisen- und Maschinenproduzenten kraft der Größe ihres Sachkapitals angeeigneten Mehrwertes enthalten ist. Nun kann die kapitalistische Gesellschaft Maschinen nur verwenden, wenn sie an Lohn mehr ersparen, als sie kosten; wir wissen schon, dass darum der niedrige Arbeitslohn ein Hemmnis des Fortschrittes maschineller Produktion ist. Wir können jetzt hinzufügen, dass der höhere Produktionspreis der Maschine, der immer höher ist als ihr Wert (der durch die zu ihrer Herstellung gesellschaftlich erforderliche Arbeitszeit bestimmt ist), ein weiteres Hemmnis der Ersetzung der Handarbeit durch produktivere Maschinenarbeit ist. Dazu kommt schließlich noch ein Grund! Die Kartelle und Trusts im Kohlen- und Eisengewerbe steigern den Preis der Kohle, des Eisens, der Maschine noch über den in freier Konkurrenz sich bildenden Produktionspreis, verteuern also noch w^eiter die maschinelle Produktion, sind ein weiteres Hemmnis des technischen Fortschrittes. Die sozialistische Produktionsweise beseitigt alle diese Schranken mit einem Schlag: für sie ist jede Maschine verwendbar, die mehr an Arbeit erspart, als sie selbst an Arbeit kostet.

Hemmen die Gesetze der Lohn- und Preisbildung den technischen Fortschritt in der Industrie, so hemmt die kapitalistische Produktionsweise aber noch mehr den Fortschritt der Landwirtschaft zu rationeller Technik. Der Kapitalismus ist unverträglich mit rationeller Landwirtschaft. [2] Der bäuerliche Betrieb ist zu klein, der Bauer technisch zu wenig geschult, als dass er die Errungenschaften der Wissenschaft in seinem Betriebe voll ausnützen könnte; dem Großbetrieb aber raubt die industrielle Entwicklung durch die Erscheinung der Landflucht seine Arbeiter und ist die Arbeitsunlust und geringe Arbeitsintensität der Lohnarbeiter ein Hemmnis rationeller Kultur. Erst die sozialistische Produktionsweise wird darangehen können, die großen Errungenschaften der Wissenschaft dem Landbau voll nutzbar zu machen.

Schließlich verringert die kapitalistische Produktionsweise die Ergiebigkeit der Arbeit, indem sie rationellen Güteraustausch zwischen den verschiedenen Wirtschaftsgebieten verhindert. Der Reichtum jedes einzelnen Landes wird gewaltig steigen, wenn es seine Arbeitskraft jenen Produktionszweigen zuwendet, in denen die natürlichen und sozialen Bedingungen seine Arbeit möglichst ergiebig machen und die anderen Güter durch Austausch seiner Produkte von jenen Ländern erwirbt, die ihrerseits für die Erzeugung der einzutauschenden Güter besonders geeignet sind. Wollen wir die Ergiebigkeit unserer Arbeit steigern, so müssen wir die landwirtschaftlichen Erzeugnisse von den Ländern mit dem besten Boden, das Eisen von den Ländern mit den reichsten Erzen beziehen und als Gegengabe diesen Ländern jene Güter geben, die wir mit geringerem Arbeitsaufwand herstellen können, als sie selbst es imstande wären. Aber in der kapitalistischen Produktionsweise entscheidet darüber, ob wir Güter selbst produzieren oder durch Austausch mit anderen Ländern uns erwerben wollen, nicht die Erwägung, wie unser Volksreichtum am meisten gesteigert werden kann, sondern das Sonderinteresse der herrschenden Klassen. Darum ist freier Warenaustausch – das beweist die Geschichte eines Jahrhunderts! – in der kapitalistischen Gesellschaft nur ein Zufall: Nur dort, wo zufällig das Gesamtinteresse mit dem Interesse der herrschenden Klassen zusammenfällt, beteiligt sich ein Land am freien Warenaustausch und steigert dadurch seinen Volkswohlstand. Erst in der sozialistischen Produktionsweise wird für die Frage, in welchen Produktionszweigen unsere Arbeit aufzuwenden, welche Güter vom Ausland einzutauschen sind, kein anderer Gesichtspunkt mehr entscheidend sein als die möglichste Steigerung des Reichtums des Landes, die möglichste Steigerung der Ergiebigkeit der Arbeit des Volkes.

Aber nicht nur durch die Schranken, die sie der Steigerung menschlicher Arbeitsproduktivität setzt, verringert die kapitalistische Produktionsweise den Reichtum der Gesellschaft, sondern auch dadurch, dass sie fortwährend menschliche Arbeit an die Erzeugung von Sachen wendet, von denen sie zu spät erfährt, dass sie kein wirksames gesellschaftliches Bedürfnis befriedigen, dass sie keine Waren sind. In einem einsamen Bauernhof in der Wildnis verteilt der Hausvater die gesellschaftliche Arbeit: er schickt einen Sohn auf das Feld, den anderen auf die Jagd, den dritten setzt er an den Webstuhl. In einer sozialistischen Gesellschaft würde die die Produktion leitende Zentrale die Arbeit auf die verschiedenen Produktionszweige verteilen. In der kapitalistischen Gesellschaft aber bleibt die Wahl der Arbeit dem einzelnen überlassen und nur durch Krisen und Katastrophen setzt sich die notwendige Anpassung der Arbeitsverteilung an die Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse durch. So erzeugen wir Produktionsmittel und setzen sie dann still, weil wir für sie keine Verwendung haben; so erziehen wir qualifizierte Arbeitskräfte und können ihnen dann keine Beschäftigung geben; so erzeugen wir Güter und können sie dann an keinen Käufer absetzen. Welche ungeheuerliche Verschwendung menschlicher Mühe!

Aber selbst dort, wo das Arbeitsprodukt zum Gut wird und als Ware Absatz findet, selbst dort noch zeigt sich der Wahnsinn unserer Produktionsweise! Welch ungeheure Arbeitsopfer weiht sie Zwecken, die die Gesellschaft nicht reicher, sondern ärmer machen! Was kostet uns alljährlich die Geburt und die Ernährung jener armen Kinder, die dank unserem Wohnungselend, dank der Fabriksarbeit schwangerer Frauen, dank der elenden Kinderernährung noch im ersten oder zweiten Lebensjahre sterben! [3] Dieses ganze wirtschaftliche Opfer vermehrt unsere Kultur um nichts, bringt niemandem Freude, wohl aber Tausenden von Vätern bitterste Not, Tausenden von Müttern furchtbare körperliche und seelische Leiden!

So bedeutet die Überführung der Arbeitsmittel aus dem Sondereigentum in das Eigentum der Gesellschaft zunächst eine ungeheure Steigerung gesellschaftlichen Reichtums. Freilich, man behauptet gewöhnlich das Gegenteil. Der bürgerliche Ökonom, der sieht, dass der Lohnarbeiter nur unter der Peitsche des Kapitahsten arbeitet, meint, alle fleißige Arbeit würde aufhören, wenn der Kapitalist aus der Werkstätte verschwindet. Aber der bürgerliche Ökonom vermengt da die Funktion der Leitung der gesellschaftlichen Produktion mit dem Rechte auf Ausbeutung des Arbeiters. Der Leiter der Produktion, der für Ordnung und Fleiß in der Werkstätte sorgt, wird auch in der künftigen Gesellschaft nicht fehlen, nur wird er nicht ein Kapitalist sein, der zu seinem Nutzen die Arbeitssklaven antreibt, sondern der Vertreter der Arbeiter selbst, freilich nicht etwa nur der Arbeiter der Werkstätte, deren Aufsicht ihm zugewiesen, sondern der Vertreter der ganzen Gesellschaft, der Gesamtheit der Arbeitenden. [4]

Die Steigerung der Ergiebigkeit der Arbeit durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die planmäßige Beherrschung der Arbeitsmittel seitens der Gesellschaft selbst bedeutet nun für die Gesamtheit einmal Herabsetzung der notwendigen Arbeitszeit, also mehr Muße, und andererseits Vermehrung des Güterreichtums, vollere Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Und da mit dem Eigentum an Produktionsmitteln die Tatsache der Ausbeutung, der Mehrarbeit verschwindet, so wird die Verkürzung der Arbeitszeit wie die Vermehrung des Güterreichtums zum Vorteil aller. Die arbeitenden Menschen der kommenden Gesellschaft werden weniger lang arbeiten müssen als die heutigen Lohnarbeiter, weil ihre Arbeit keine Klasse von Kapitalisten ernähren muss; und sie werden ihre Bedürfnisse reicher befriedigen als heute, weil die planmäßige Leitung der gesellschaftlichen Produktion die Ergiebigkeit der Arbeit erhöht, jede Arbeitsstunde mit reicherem Güterertrag lohnt. Müsse und sichere Befriedigung der unmittelbaren Lebensbedürfnisse ist aber die erste Voraussetzung aller geistigen Kultur. Erst durch den demokratischen Sozialismus kann darum die ganze Bevölkerung in die nationale Kulturgemeinschaft einbezogen werden.

Die Teilnahme des gesamten Volkes an der Kultur der Nation ist aber in der sozialistischen Gesellschaft nicht nur möglich. sondern wird in ihr notwendig. Die Demokratie fordert die Erziehung jedes einzelnen, da sie jeden einzelnen zur Mitentscheidung beruft. Die erste Aufgabe sozialistischer Kulturarbeit wird also der Aufbau eines nationalen Erziehungswesens sein. Die Schule ist entstanden in der Stadt als Bürgerschule; der moderne Kapitalismus hat sie zur Volksschule erweitert. Aber noch trägt sie deutlich die Spuren ihres Ursprunges. Sie, die die Schule der arbeitenden Massen geworden ist, lehrt das Volk noch immer nichts von seiner Arbeit, sondern erzieht es, „als ob alle Deutschen für die Kanzlei bestimmt wären“. [5]

Die Schule der Zukunft wird zunächst eine Schule arbeitender Menschen sein: darum wird die Erziehung zur Arbeit im Mittelpunkt des Unterrichtes stehen. Aber sie wird nicht nur eine Schule von Arbeitenden sein, sondern auch eine Schule der Genießenden, denn Arbeit und Genuss trennt künftig keine Schranke mehr. Darum wird sie den ganzen großen Reichtum unserer geistigen Kultur zum Besitztum ihrer Schüler machen. Erst die sozialistische Gesellschaft kann vollbringen, was die mit den Schulmitteln kargende, die Schulung der Massen fürchtende kapitalistische Gesellschaft nie vermag, eine wahrhaft nationale Erziehung zu schaffen, wie sie Johann Gottlieb Fichte geträumt, eine Erziehung, die ihre Bildung „keineswegs wie bisher zu einem Besitztum, sondern vielmehr zu einem persönlichen Bestandteil des Zöglings macht“ und so in ihrem Zögling, und das heißt nun: in jedem Kinde der Nation durch die Vermittlung der nationalen Kultur wahrhaft den Nationalcharakter hervorbringt, „ein beharrliches Sein, das nun nicht mehr wird, sondern ist, und nicht anders sein kann denn so, wie es ist“. [6]

Auf der Grundlage der nationalen Erziehung erwächst nun die nationale Kultur. Gewiss, die Kultur der Glieder der künftigen Gesellschaft wird eine neuartige Kultur sein. Ist es doch zum ersten Mal, dass die Arbeitenden und die Genießenden identisch sind! Dass die Schöpfer der Kultur gleichzeitig ihre Nutzniesser sind! So werden ganz neue Persönlichkeiten entstehen, Menschen, gleich verschieden von den müßig Genießenden wie von den kulturlosen Arbeitenden des letzten Jahrtausends. Sie tragen in sich die Wurzeln ihres Ursprunges, das Volkstümliche, das Naive, sie bringen mit sich die Erinnerungen an die großen Kämpfe, in denen sie ihre Gesellschaft erkämpft. So setzen sie an die Stelle der überlieferten neue Kulturformen, neue Symbole. Und diese neuen Menschen werden die Kultur nicht isoliert genießen wie die Feudalherren des Mittelalters, wie die Fürsten der Renaissance, wie die Bourgeois von heute, sondern gesellschaftlich wie die Bürger Athens: kein Künstler schmückt mehr das Heim eines reichen Bankiers, sondern er schafft sein Werk für ihre Sitzungs- und Versammlungssäle, ihre Theater und Konzertsäle, ihre Schulen und ihre Arbeitsstätten. Aber so neuartig diese Kultur sein wird, sie wird doch die Erbin aller früheren Kulturen sein. Was je Menschen erdacht und ersonnen, gedichtet und gesungen haben, wird nun zum Erbe der Massen. Ihr Besitztum wird, was vor Jahrhunderten der Minnesänger einer stolzen Fürstin gesungen, was der Künstler der Renaissance dem reichen Kaufherrn gemalt, was die Denker der frühkapitalistischen Zeit für eine enge Schicht Gebildeter erdacht. So schaffen die Menschen der Zukunft aus dem Erbe der Alten und dem neuen Werk der Zeitgenossen ihre eigene Kultur. Und diese Kultur wird zum Besitztum aller, zum Bestimmungsgrund des Charakters eines jeden und eint so die Nation zur Gemeinschaft des Charakters. Und wie in dieser Kultur das Neue an das Alte anschließt, mit ihm verknüpft und vermengt, in seiner Wesenheit durch das Alte mitbestimmt ist, so wird jetzt erst die überlieferte Kultur der Nation, der Niederschlag der Geschichte der Nation zum Besitztum der Nation, zum Bestimmungsgrund ihres Charakters. Die Kulturgeschichte der Nation war bis heute immer die Geschichte der besitzenden Klassen; nun erst, da ihr Erzeugnis von den Massen erobert wird, wird die Geschichte der Nation zum Besitztum der Massen, nun erst baut sie mit an ihrer geistigen Eigenart.

Der Sozialismus gliedert erst die breiten Schichten des arbeitenden Volkes der nationalen Kulturgemeinschaft ein. Aber er ändert auch das Wesen dieser Kulturgemeinschaft, indem er der Nation die Autonomie, die Selbstbestimmung über die Weiterentwicklung ihrer Kultur gibt. Sie fehlt im Zeitalter der Warenproduktion der Nation. Nicht etwa nur darum, weil der Willen der Massen nicht über die Geschicke der Nation entscheidet; die kulturelle Selbstbestimmung fehlt vielmehr heute auch den herrschenden Klassen. Denn der Wille keines Mannes entscheidet heute über die weiteren Geschicke der Völker, sondern unzählige einzelne Handlungen von einzelnen Personen, hinter denen Gesetze stehen, die ohne das Bewusstsein der Beteiligten wirken. Ein Beispiel soll dies zeigen.

Wie gewaltig hat zweifellos die örtliche Umschichtung der Bevölkerung den Charakter der deutschen Nation gewandelt! Sind wir nicht andere Menschen geworden, weil wir aus dem Boden, den wir bebaut, aus den Wäldern und Fluren, die wir durchstreift haben, entwurzelt worden sind und hineingesetzt in die Großstädte mit ihren Zinskasernen, in die Industriegebiete mit ihrem Russ und ihrem Kohlenrauch, in denen die letzte Blume und der letzte Baum in der kohlengeschwängerten Luft erstickt! Welch andere Menschen wachsen in unseren Industriestädten als in den Dörfern früherer Zeit! Hat aber die Nation diese Wandlung ihres ganzen Seins, die eine Wandlung ihres Charakters bedeutet, beraten und beschlossen: Keineswegs. Gewiss, der Prozess der Umschichtung der Bevölkerung ist hindurchgegangen durch menschliches Bewusstsein, beschlossen worden von menschlichem Willen, aber nicht von dem Willen der Nation. sondern von unzähligen, voneinander unabhängigen Einzelwillen; beschlossen durch unzählige Kapitalisten, die auf dem Papier berechneten, wo die Produktionskosten am geringsten, die Profite am höchsten sein mögen; beschlossen von unzähligen Arbeitern, die erkundet, wo eine Arbeitsstelle frei ist, wo der Arbeitslohn am ehesten ihnen gestatten könnte, mit den Ihren ihr Leben zu fristen. Und das Ergebnis dieser von ganz anderen Erwägungen geleiteten Einzelentschließungen ist eine Wandlung im Dasein der ganzen Nation, eine Wandlung im Wesen ihrer Kultur, eine Wandlung in ihrem Charakter. Wer hat den einzelnen die Macht gegeben, aus der ganzen Nation ein anderes zu machen, als sie je gewesen r das Recht hat es getan; das Sondereigentum an Arbeitsmitteln bedeutet nichts anderes, als dass die Nation ihr Schicksal aus der Hand gegeben, dem Willen der einzelnen anvertraut hat. Diese einzelnen beschließen aber nicht über das Schicksal der Nation, sondern nur über ihr Einzelschicksal und sie wissen nichts von den Wirkungen, die ihr Beschluss auf das Gesamtdasein der Nation übt. Und doch! Durch nichts anderes als durch Millionen solcher Einzelentschließungen, die sich um die Nation nicht kümmern und von ihr nichts wissen, wird das Schicksal der Nation bestimrnt. Und wenn der Mann der Wissenschaft hinter jener scheinbaren Zufälligkeit von voneinander unabhängigen Einzelwillen doch Gesetze entdeckt, die schließlich diese Umschichtung der Bevölkerung bewirkt und so den Charakter der Nation umgewandelt haben, so sind das Gesetze, von denen doch diejenigen, die die Entschließungen gefasst haben, nichts wussten, Gesetze, die sich nach dem genialen Worte des jungen Engels „ohne das Bewusstsein der Beteiligten“ vollziehen.

Ganz anders in einer sozialistischen Gesellschaft. Die Schaffung neuer Betriebsstätten, die örtliche Verteilung der Bevölkerung wird in ihr zur bewussten Tat der organisierten Gesellschaft. Sie muss von den Gesellschaftsorganen beschlossen, von den einzelnen, die diese Organe bilden, beraten, nach ihren Wirkungen untersucht werden. So wird die örtliche Schichtung der Bevölkerung zur bewussten Tat. Die Gesellschaft der Zukunft wird darüber beraten und beschließen, ob sie eine neue Schuhfabrik im Kohlengebiet bauen will, wo die Produktionskosten niedrig sind, oder in einer schönen Waldlandschaft, wo die in der Schuhproduktion beschäftigten Arbeiter ein möglichst gesundes und angenehmes Leben führen können. Die Einwirkung auf den Charakter der Nation, die Bestimmung der Wandlungen dieses Charakters nimmt die Gesellschaft wieder an sich, die künftige Geschichte des Volkes wird zum Erzeugnis seines bewussten Willens. So wird die Nation der Zukunft vermögen, was die Nation in der warenproduzierenden Gesellschaft niemals vermag: sich selbst erziehen, ihr Schicksal selbst zimmern, die künftigen Wandlungen ihres Charakters bewusst selbst bestimmen. Der Sozialismus erst gibt der Nation die volle Autonomie, die wahre Selbstbestimmung, entzieht sie der Wirksamkeit der ihr unbewussten. ihrer Einwirkung entzogenen Kräfte.

Die Tatsache, dass der Sozialismus die Nation autonom, ihr Geschick zum Erzeugnis ihres bewussten Willens macht, bewirkt nun aber steigende Differenzierung der Nationen in der sozialistischen Gesellschaft, schärfere Ausprägung ihrer Eigenart, schärfere Scheidung ihrer Charaktere voneinander. Dieses Urteil wird vielleicht manchen überraschen; gilt es doch bei Freunden und Gegnern des Sozialismus als gewiss, dass der Sozialismus die Verschiedenheit der Nationen ausgleichen, die Unterschiede zwischen den Nationen verringern oder gar aufheben wird.

Dass der materielle Kulturinhalt der verschiedenen nationalen Kulturen in der sozialistischen Gesellschaft ausgeglichen werden wird, ist gewiss. Diese Arbeit hat schon der moderne Kapitalismus begonnen. Der vorkapitalistische Bauer hat Jahrhunderte lang in der von den Ahnen ererbten Weise produziert und gelebt, ohne von den Fortschritten der Nachbarn etwas zu übernehmen; er hat den alten schlechten Pflug verwendet, obwohl er ein paar Meilen weiter Gelegenheit gehabt hätte, einen besseren Pflug kennen zu lernen, der ihm viel reicheren Bodenertrag gesichert hätte! Der moderne Kapitalismus dagegen hat die Nationen gelehrt, voneinander zu lernen; jeder technische Fortschritt wird in wenigen Jahren Eigentum der ganzen Welt, jede Veränderung des Rechtes wird von den Nachbarvölkern studiert und nachgeahmt, jede Strömung der Wissenschaft, der Kunst beeinflusst die Kulturvölker der ganzen Welt. Es unterliegt gar keinem Zweifel, dass der Sozialismus diese kosmopolitische Tendenz unserer Kultur ungeheuer steigern, die materiellen Kulturinhalte noch ungleich schneller ausgleichen wird, dass die Nationen noch viel mehr voneinander lernen werden, eine der anderen das ihren Zwecken Entsprechende ablernen wird. Aber es wäre übereilt, daraus zu schließen, dass die Ausgleichung der materiellen Kulturinhalte die Nationen nun auch völlig einander gleich machen werde.

Beobachter des englischen Lebens haben oft über den merkwürdig konservativen Charakter der Engländer gestaunt, sich oft darüber verwundert, wie außerordentlich langsam die Engländer neue Gedanken aufnehmen, Neues von anderen Völkern lernen. Diese Merkwürdigkeit des englischen Nationalcharakters hat die Briten vor mancher Modetorheit bewahrt, hat die Macht mancher wertvollen Gedankensysteme bei ihnen gestärkt, hat alle Demagogie in England erschwert; sie hat freilich auch dem Eindringen manchen Fortschrittes, auch dem Eindringen des Sozialismus in England gewaltige Schwierigkeiten bereitet. Hier aber gilt es gar nicht, diese Erscheinung zu beurteilen, sondern sie zu verstehen. Eine der Ursachen dieser merkwürdigen Erscheinung sehe ich in der alten englischen Demokratie. Ein Despot vermag in kurzer Frist neuen Gedanken in seinem Lande Raum zu schaffen; seine Laune von heute ist’ morgen Mode in allen Schlössern des Landes, sein Wille von heute morgen im ganzen Lande Gesetz. Ganz anders die Demokratie. Das Neue vermag ein demokratisches Land nur zu erobern, indem es jeden einzelnen Staatsbürger gewinnt, von jedem angeeignet, von jedem erworben wird; nur durch den Willen von Millionen einzelner wird es zum Gesamtwillen des Landes – gewiss, ein viel langsamerer Weg des Fortschrittes, aber auch ein unvergleichlich sicherer. Denn einmal gewonnen, sitzt es nun fest in Millionen Köpfen und es bedarf eines langen Weges, es diesen Millionen wieder zu entwinden, in ihnen zu überwinden. Was nun selbst von der Demokratie eines kapitalistischen Landes gilt, gilt ungleich mehr von der sozialistischen Demokratie. Denn erst der Sozialismus bedeutet wahre Demokratie, wahre Volksherrschaft, weil er dem Volke die Herrschaft über die wichtigsten Machtmittel, die Arbeitsmittel, gibt; erst er macht wirkliche Volksherrschaft überhaupt möglich, weil er das ganze Volk zur Kulturgemeinschaft eint, jedem der von der ganzen Kultur der Nation beeinflussten Volksgenossen die Möglichkeit selbständiger Mitentscheidung gibt. Neue Gedanken werden in keiner anderen Weise sich eine sozialistische Gesellschaft erobern können, als indem sie jeden einzelnen der durch die sozialistische Nationalerziehung zu hochentwickelten, im Vollbesitz der nationalen Kultur stehenden Persönlichkeiten erzogenen Volksgenossen sich zu erobern suchen. Das bedeutet nun aber, dass kein neuer Gedanke einfach angenommen werden kann, sondern dass er aufgenommen, dem ganzen geistigen Sein von Millionen Individuen einverleibt, angepasst werden muss. Wie kein Individuum das Neue einfach mechanisch seinem geistigen Sein angliedert, sondern sich einverleibt, seiner Persönlichkeit eingliedert, es geistig verdaut, apperzipiert, so wird auch die ganze Nation kein Neues einfach übernehmen, sondern es, indem sie es aufnimmt, verarbeiten, ihrem Sein anpassen, in dem Prozess der Aufnahme durch Millionen Köpfe verändern. Durch diese große Tatsache der nationalen Apperzeption wird jeder Gedanke, den eine Nation von einer anderen übernimmt, dem ganzen Sein der Nation immer erst angepasst, von ihr erst verändert werden müssen, ehe er aufgenommen wird. So werden die Nationen keine neue Dichtung und keine neue Kunst, keine neue Philosophie und kein neues System gesellschaftlichen Wollens einfach voneinander übernehmen, sondern immer nur verarbeitet aufnehmen: Anpassung an die bestehende geistige Kultur der Nation bedeutet aber Verknüpfung, Ineinssetzung mit der ganzen Geschichte der Nation. Wie heute schon das englische oder französische oder deutsche Volk viel schwerer eine neue Welt geistiger Werte von einem anderen Volk unverändert übernimmt als etwa das japanische oder kroatische Volk, so wird in der sozialistischen Gesellschaft kein neues Stück geistiger Kultur in einer Nation Eingang finden können, ohne an ihre nationale Kultur anzuknüpfen, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, von ihr mitbestimmt zu werden. Darum bedeutet die Autonomie der nationalen Kulturgemeinschaft im Sozialismus notwendig, trotz der Ausgleichung der materiellen Kulturinhalte, doch steigende Differenzierung der geistigen Kultur der Nationen.

Heranziehung des gesamten Volkes zur nationalen Kulturgemeinschaft, Eroberung voller Selbstbestimmung durch die Nation, steigende geistige Differenzierung der Nationen – das bedeutet der Sozialismus. Die volle Kulturgemeinschaft aller Volksgenossen, wie sie in den Zeiten des Kommunismus der Sippschaften bestanden hat, wird der Kommunismus der großen Nationen nach der jahrtausendelangen Periode der Klassenscheidung, der Scheidung zwischen Genossen und Hintersassen der Nation, wiedererstehen lassen. Aber die Grundlage der Nation hat sich seither geändert. Die Kulturgemeinschaft der Germanen beruhte auf der Abstammung von einem gemeinsamen Stammvolk: dass ihnen allen von gemeinsamen Ahnen gleiche Kulturelemente überliefert worden waren, das einte sie zur Nation. Anders die Kulturgemeinschaft der modernen sozialistischen Gesellschaft: sie ist ein Produkt gesellschaftlichen Schaffens, ein Erzeugnis der Erziehung, an der die Kinder des ganzen Volkes Anteil haben, ein Erzeugnis des Zusammenwirkens der Nation in der gesellschaftlichen Arbeit. Dies bedeutet aber einen gewaltigen Unterschied. Denn die auf der Abstammungsgemeinschaft beruhende Nation trug in sich den Keim des Zerfalles: je mehr die Nachkommen gemeinsamer Ahnen voneinander örtlich geschieden und verschiedenen Bedingungen des Daseinskampfes unterworfen wurden, desto mehr wurden sie verschieden voneinander, wurden sie zu verschiedenen Völkern mit verschiedenen Mundarten, so dass sie einander nicht mehr verstanden; mit verschiedenem körperlichen Typus, da keine Wechselheirat mehr sie verband; mit verschiedenen Sitten, verschiedenem Rechte, verschiedenen Lebensgewohnheiten, verschiedenem Temperament, verschiedener Art, auf gleichen Reiz zu reagieren. Aber während die auf der Abstammungsgemeinschaft beruhende Nation den Keim des Zerfalles in sich trägt, trägt die auf Erziehungsgemeinschaft beruhende Nation in sich die Tendenz der Einheit: alle ihre Kinder unterwirft sie gemeinsamer Erziehung alle ihre Genossen arbeiten zusammen in den Werkstätten der Nation, wirken miteinander zusammen an der Bildung des Gesamtwillens der Nation, genießen miteinander die Kulturgüter der Nation. So trägt der Sozialismus in sich auch die Gewähr der Einheit der Nation. Er wird die deutsche Einheitssprache, das große Zugangstor zu unseren Kulturgütern, die noch immer den Massen eine fremde Sprache ist, zu ihrer Muttersprache machen; er wird die Schicksale der Nation zum Bestimmungsgrunde des Charakters jedes einzelnen der zur Mitbestimmung des Willens der Nation berufenen Volksgenossen machen; er wird die Kulturgüter der Nation zum Eigentum jedes Deutschen und daher jeden Deutschen zum Erzeugnis unserer Kulturgüter machen. Bloße Abstammungsgemeinschaft bedeutet Zerfall, Erziehungs- und Arbeitsgemeinschaft bedeutet sichere Einheit der Nation. Erst muss die Nation Arbeitsgemeinschaft werden, ehe sie volle und wahre, sich selbst bestimmende Kulturgemeinschaft werden kann.

Fußnoten

1. Produktive Arbeit hier im technischen Sinn, daß heisst Güter, Gebrauchswerte schaffende Arbeit. Dazu gehört natürlich nicht nur jene Arbeit, die Sachgüter erzeugt, sondern auch jene, die immaterielle Güter erzeugt, Dienste leistet, die für einen Konsumenten einen Gebrauchswert haben. Der ökonomische Begriff der produktiven Arbeit ist ein anderer. Vergl. Marx, Theorien über den Mehrwert, Stuttgart 1905, I., S.253ff.

2. Marx, Kapital, II., S.217: III., 1, S.98; III., 2, S.156f., 347.

3. Nach Seiffert opfert die Bevölkerung das Deutschen Reiches jährlich 38 Millionen Mark der Geburt und Erhaltung des Nachwuchses, der nicht das erste Lebensjahr zu überleben vermag. Vergl. Seiffert, Säuglingssterblichkeit, Volkskonstitution und Nationalvermögen, Jena 1905.

4. Die Frage der Wirkung der Gesellschaftsverfassung auf die Produktivität der Arbeit konnte hier natürlich nur kurz skizziert werden; eine erschöpfende Behandlung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Bemerken möchten wir nur noch, dass diese Frage nicht zu vermengen ist mit der Frage nach den Tendenzen der Produktivität der Arbeit überhaupt, ob also etwa mit der steigenden Menschenzahl auf dem Erdball die Ergiebigkeit der Arbeit steigt oder fallt. Denn hier handelt es sich gar nicht darum, ob die Produktivität der Arbeit mit der Volkszahl steigt oder fällt, sondern darum, ob bei gleicher Bevölkerungszahl die Produktivität der Arbeit bei kapitalistischer oder bei sozialistischer Produktionsweise größer ist. Die alte Frage der Wirkung der veränderten Produktionsweise auf die Bevölkerungszahl selbst kann aber heute wohl mit weit mehr Ruhe betrachtet werden als früher. Größerer Volksreichtum, der zugleich höhere Kultur bedeutet, erweckt uns heute am allerwenigsten Furcht vor Übervölkerung!

5. Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule, Berlin 1905.

6. Fichte, Reden an die deutsche Nation, Reclam, S.15 u. 20.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008