Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


I. Die Nation

§ 8. Der moderne Kapitalismus und die nationale Kulturgemeinschaft


Die frühkapitalistische Entwicklung hatte die alte Grundherrschaft in die feudal-kapitalistische Gutsherrschaft verwandelt, in ein Mischgebilde, das, in der Rechtsform der Grundherrschaft wirkend, kapitalistischem Profitstreben diente. Der moderne Kapitalismus hat aber dem landwirtschaftlichen Großbetrieb die feudale Form völlig abgestreift und so die Grundherrschaft, seit mehr als einem Jahrtausend die Verfassung der deutschen Landwirtschaft, erst völlig beseitigt. Was unzähligen Aufständen der Bauern nicht gelungen war, die Ausbeutung durch den Grundherrn zu beseitigen, das hat die kapitalistische Entwicklung vollbracht: Der absolutistische Staat schon hat der Gutsherrschaft Grenzen gewiesen, die bürgerliche Revolution hat sie beseitigt. Der kapitalistischen Entwicklung leistet die Gutsherrschaft in ihren Anfängen unentbehrlichen Dienst: Sorgte sie doch durch das Bauernlegen für die Entstehung einer Armee von Proletariern. Aber das Bauernlegen setzt sich selbst seine Grenze. Hat einmal der Herr sein Land über die alten Bauernländereien weit genug ausgedehnt, so wird er die verschonten Bauern nicht weiter legen dürfen, will er nicht die notwendigen Arbeitskräfte entbehren, er wird vielmehr sich wieder dessen erinnern, dass der Bauer an die Scholle gefesselt ist und dass es seine Bestimmung ist, nur ihm, dem angestammten Herrn, und nicht etwa dem fremden Kapitalisten in der Stadt zu dienen. Von diesem Augenblicke an hören wir nicht mehr vom Bauernlegen, sondern von grausamer Verfolgung der Bauern, die sich durch die Flucht vom Lande der unerträglich gewordenen Ausbeutung entziehen wollen. Die Gutsherrschaft wird aber nun zum Hemmnis kapitalistischer Entwicklung: Indem sie den Bauern an die Scholle fesselt, die Berufswahl der Bauernsöhne an die Genehmigung der Herrschaft knüpft, die Bauernkinder zu Zwangsgesindediensten verpflichtet, erschwert sie die Heranziehung industrieller Arbeitskräfte; indem sie den Bauern zur Fron zwingt und ihn an intensiver Bewirtschaftung des Landes hindert, erschwert sie die Einbeziehung der Bauern in den Kreis der Warenkäufer, engt den Markt der Industrie ein, beschrankt das Kapital im wesentlichen auf die Luxusindustrien, die für den Bedarf der Gutsherren produzieren. Aber die Gutsherrschaft widerspricht nicht nur dem Interesse des Bürgertums, sie widerstreitet ebenso seiner Ideologie. Neu erstehend in einer alten Welt, im Kampfe mit allen geschichtlich überkommenen Mächten, hat das junge Bürgertum keinen Sinn für geschichtliche Rechtstitel das Altehrwürdige, das Überkommene, flößt ihm keine Achtung ein, an jede Einrichtung legt es das Maß seiner Klassenvernunft. Vor ihr findet die Gutsherrschaft keine Gnade. Ist doch ihr Rechtsgrund nur ihr geschichtliches Werden, dient sie doch keinem lebendigen Bedürfnis mehr. Das Bürgertum verwirft sie daher und fordert die Befreiung der Bauern. In diesem Verlangen findet es den ersten Bundesgenossen im Staate, der in dem Bauer seinen Steuerträger und Soldaten, in dem Gutsherrn dagegen den Gegner der zentralisierten Staatsgewalt sieht, der in der Ständeversammlung dem Fürsten Widerstand leistet, dessen Land keine Steuer trägt, dessen Gerichtsbarkeit über seine Hintersassen die Entwicklung einer zentralisierten bürokratischen Verwaltung unmöglich macht. So tritt schon der absolutistische Staat der Gutsherrschaft entgegen; er hat die Ausbeutung und Unfreiheit der Bauern gemildert, beseitigt hat er sie nicht. Erst die bürgerliche Revolution zerschmettert völlig die alte feudale Rechtsform: Sie macht den Bauer zum freien Staatsbürger, befreit ihn von aller persönlichen Bindung an den Gutsherrn, unterwirft ihn unmittelbar staatlichen Gerichten und staatlichen Verwaltungsbehörden, macht ihn zum freien Eigentümer seines Landes und befreit ihn von der Fronarbeit.

Die Beseitigung der feudalen Rechtsform räumt alle Hindernisse hinweg, die bisher der Einwirkung der kapitalistischen Kräfte auf die ländliche Bevölkerung entgegenstanden. Diese Mächte haben aber indessen ihr Wesen geändert, ihre Angriffskraft gestärkt durch die Veränderung der ihnen dienstbaren Produktivkräfte. Von der Kooperation, der bloßen Vereinigung gleichartige Arbeit verrichtender Arbeiter, von der Manufaktur, der auf Arbeitsteilung unter Handarbeitern beruhenden Werkstätte, ist der kapitalistische Betrieb vorgeschritten zur Fabrik, die die Maschine in ihren Dienst stellt. Die Spinnmaschine, der mechanische Webstuhl, die Dampfmaschine werden zu Werkzeugen des industriellen Kapitals. Mit diesen neuen Waffen ausgerüstet, geht nun das Kapital zunächst an eine Umwälzung aller sozialen Verhältnisse auf dem platten Lande.

Die moderne Fabrik zerstört zunächst die alte bäuerliche Hausindustrie. Die Spinnmaschine macht der Hausspinnerei in wenigen Jahrzehnten ein Ende, der mechanische Webstuhl schränkt die Hausweberei ein. Die Nebenbeschäftigung der Bauernfamilie während der Wintertage, mit ihr aber auch ihr Nebenverdienst, wird ihr weggenommen. Der Bauer wird immer mehr zum reinen Landwirt, dem die kapitalistische Industrie keine gewerbliche Nebenbeschäftigung mehr übrig lässt. Die alten Reste geschlossener Hauswirtschaft verschwinden; das alte Wort, ein Narr sei, wer dem Schmied gibt, was er selbst verdienen kann, wird vergessen; die bäuerliche Produktion wird reine Warenproduktion, der Bauer muss seine Erzeugnisse verkaufen, um für das Entgelt die Erzeugnisse kapitalistischer Industrie zu erstehen.

Wenige Jahrzehnte später bekommt die mit der Entstehung der modernen Fabrik beginnende Entwicklung einen neuen Anstoß. Der Kapitalismus stellt in seinen Dienst als die gewaltigsten seiner Werkzeuge die modernen Verkehrsmittel: die Eisenbahn und das Dampfschiff. Der billige Transport macht es möglich, landwirtschaftliche und Viehzuchtprodukte fremder Erdteile zur Ernährung der europäischen Völker zu verwenden. Der fruchtbare jungfräuliche Boden Amerikas, Russlands, Sibiriens, die ausgedehnten Weideländereien Australiens, Neuseelands, Südafrikas werden Europa dienstbar. Statt das Getreide und Vieh, dessen sie bedürfen, selbst zu produzieren, verlegen die europäischen Völker einen Teil ihrer landwirtschaftlichen Produktion in fremde Erdteile und tauschen gegen die landwirtschaftlichen Erzeugnisse junger Kolonialländer ihre Industrieprodukte ein.

Die europäische Landwirtschaft muss ihre Betriebsweise verbessern, will sie von den neuen überseeischen Konkurrenten nicht unterboten werden. Die Maschine findet, wenn auch in geringerem Umfang als in der Industrie, doch auch in der Landwirtschaft Eingang. Die Dampfdreschmaschinen verrichten in Deutschland bereits jährlich eine Arbeitsleistung, durch die 20 Millionen Arbeitstage menschlicher Arbeit ersetzt werden. [1] Die Notwendigkeit künstlicher Düngung, der Übergang zu intensiver Kultur, die engere Verbindung mit landwirtschaftlichen Industrien steigern den Bedarf der Landwirtschaft an Kapital. Der Grossbetrieb ghedert sich landwirtschaftlichen Industrien – Spiritusbrennerei, Zuckerproduktion – an; die Bauern suchen durch landwirtschaftliche Genossenschaften Ähnliches zu erreichen. All dies bewirkt immer engere Einbeziehung der ländlichen Bevölkerung in die Warenproduktion. Selbst der Tiroler Bauer gibt heute die Milch nicht mehr seinen Knechten zur „Marend“, sondern schickt sie in die genossenschaftliche Molkerei zur Verarbeitung und zum Verkauf und nährt dafür seine Knechte mit gekauftem Schnaps.

Alle diese ungeheuren Veränderungen bewirken einerseits eine vollständige örtliche und berufliche Umschichtung der Bevölkerung, andererseits eine gründliche Veränderung der wirtschaftlichen Stellung und daher auch der Psychologie des Bauern. Der Bauernsohn hat auf dem Lande keinen Platz mehr: Der Vater kann ihn nicht mehr im Herbst zum Ausdreschen des Korns verwenden, denn das Korn wird noch auf dem Erntefeld von der Dampfdreschmaschine ausgedroschen; er kann ihn nicht mehr im Winter am Webstuhl verwenden, denn der mechanische Webstuhl hat der alten Hausindustrie ein Ende gemacht; so verlässt der Bauernsohn das Land und zieht in die großen Industriegebiete. Die landwirtschaftliche Bevölkerung vermehrt sich nicht, desto schneller wächst die Zahl der in der Industrie und im Handel beschäftigten Köpfe. Ungeheure Menschenmengen sammeln sich in den Großstädten, in den großen Industriegebieten an. Die Bauern aber, die auf dem Lande geblieben sind, sind reine Landwirte geworden. Sie verwenden ihr Arbeitserzeugnis nicht mehr für sich, sondern für den Markt und kaufen für den erzielten Geldertrag die Industrieprodukte, deren sie bedürfen. Müssen wir erst ausführen, was all das für die nationale Kulturgemeinschaft bedeutet? Die ländliche Bevölkerung ist durch den Kapitalismus entwurzelt worden, herausgerissen aus dem Boden, an den sie seit dem Sesshaftwerden des Volkes gefesselt war, herausgerissen aus den engen Grenzen der Dorfgemarkung. Ihre Söhne sind hineingezogen in die Stadt, wo sich die Bevölkerung aus weit entlegenen Landesteilen trifft, beeinflusst, ihr Blut vermengt, wo an die Stelle des Althergebrachten, des im Wechsel der Jahreszeiten ewig wiederkommenden Einerlei des alten bäuerlichen Lebens das lebhaft pulsierende Leben der Großstadt tritt, welches alle überkommenen Anschauungen vernichtet – eine neue, ewig sich wandelnde Welt. Sie werden im Wechsel der industriellen Konjunktur bald dahin, bald dorthin geworfen. Welcher Unterschied zwischen dem modernen Metallarbeiter etwa, der heute am Rhein den großen Eisenmagnaten dient und den morgen eine Welle industrieller Wandlungen nach Schlesien verschlägt, der in Sachsen sein Weib freit und in Berlin seine Kinder erzieht, und seinem Großvater, der sein Leben von der Geburt bis zum Tode in einem entlegenen Alpendorf verbracht, vielleicht nur zweimal im Jahre gelegentlich eines Jahrmarktes oder eines der großen Kirchenfeste die Kleinstadt gesehen und nicht einmal die Bauern im Nachbardorfe gekannt, da irgend ein Gebirgszug den Verkehr zwischen Dorf und Dorf erschwerte! Aber welch anderer Mann ist auch der Bruder unseres Metallarbeiters, der das väterliche Bauerngut in unserem Gebirgsdorf ererbt! An die Stelle der alten überkommenen landwirtschaftlichen Betriebsweise sind fortwährender Wechsel, fortwährende Versuche getreten, unter dem Einfluss der landwirtschaftlichen Genossenschaften, der Wanderkurse der landwirtschaftlichen Ausstellungen und dergleichen; er ist ein Geschäftsmann geworden, der den Preis seiner Ware wohl zu berechnen, mit den städtischen Händlern über ihren Preis zu verhandeln, die Konkurrenz der Händler untereinander wohl zu nutzen weiß; ein Warenerzeuger und Warenverkäufer, so gut wie Händler und Produzenten in der Stadt, durch alle die Bande geschäftlichen Verkehrs mit der städtischen Bevölkerung verbunden, ihrem kulturellen Einfluss längst nicht mehr unerreichbar. Er fährt vielleicht schon auf dem Zweirad in die Stadt, um dort mit den Abnehmern zu feilschen, und an die Stelle der alten ererbten Tracht ist schon ein städtisches Gewand getreten, das er in der Stadt erstanden und dessen Schnitt deutlich, wenn auch nicht die letzte, so doch die vorletzte Mode von Paris oder Wien verrät.

Diese psychologischen Wandlungen, die die kapitalistische Entwicklung erzeugt hat, haben unser gesamtes Schulwesen verändert, wie sie ihrerseits wieder ohne die Entwicklung unseres Schulwesens nicht möglich gewesen wären. Die Schule ist zum notwendigen Werkzeug moderner Entwicklung geworden; höherer Volksbildung bedurfte der moderne Kapitalismus, weil ohne sie der komplizierte Apparat der Verwaltung des Großbetriebes nicht möglich war; bedurfte der moderne Bauer, weil er sonst nie zum modernen Landwirt sich hätte entwickeln können; bedurfte der moderne Staat, der ohne sie nie die lokale Verwaltung, nie das moderne Heer hätte schaffen können. So sieht denn das 19. Jahrhundert eine imposante Entwicklung des Volksschulwesens. Wir brauchen nicht auszuführen, was es für die nationale Kulturgemeinschaft bedeutet, wenn dem Arbeiterkind Ostpreußens wie dem Bauernkind Tirols das Lesebuch dieselben Bildungselemente, dasselbe Stückchen unserer geistigen Kultur in derselben deutschen Einheitssprache vermittelt!

Was die Schule beginnt, setzt unser Heerwesen fort. Das Konskriptionssystem musste in der allgemeinen Wehrpflicht sein logisches Ende finden. Auf den Schlachtfeldern, auf denen die französische Revolution die absolutistischen Mächte des alten Europa schlug, wurde das moderne Heer geboren – ein Volksheer, noch nicht seinem Zwecke nach, seiner Organisation nach, wohl aber schon seiner Zusammensetzung nach. Die Erfüllung der Wehrpflicht reißt den Bauernsohn aus dem engen Bereich des Dorfes hinaus, bringt ihn zusammen mit Kameraden aus der Stadt und Kameraden aus anderen Landesteilen, bringt ihn unter den Einfluss der Bevölkerung des Garnisonsortes. So revolutioniert unser Heersystem ganz wider Willen die Köpfe! Nicht umsonst ist der Mann, der in Gerhart Hauptmanns Webern den glimmenden Funken der Rebellion zum Brand entfacht, ein eben erst aus der Stadt heimgekehrter Soldat!

Und die wirkung, die die Schule am Kind, die Wehrpflicht am Jüngling beginnt, vollendet am Mann die Demokratie. Die Vereinsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Pressfreiheit wird zum Mittel, in jedes Bauerndorf, in jede Werkstätte die großen Fragen der Zeit zu tragen, die großen Weltbegebnisse zum bestimmenden Schicksal, zum wirkenden Kultureinfluss in jedem einzelnen Manne zu machen; das allgemeine Wahlrecht, das jeden zur Mitentscheidung beruft, zwingt die Parteien zum Kampfe um den letzten Mann, und im Schlagwort der politischen Parteien ringen alle großen Errungenschaften unserer ganzen Geschichte, unserer ganzen Kultur um jeden Bauer, um jeden Arbeiter; jede Versammlungsrede, jedes Zeitungsblatt bringt ein Stück unserer geistigen Kultur zum letzten Wähler. Und sie alle, nach Abstammung, nach Reichtum, nach Beruf, nach politischer Gesinnung so verschieden – sie alle umschlingt doch eine Kulturgemeinschaft, weil sie alle – das Kampfobjekt aller Parteien – gleichartigem Kultureinfluss unterliegen, in der Individualität jedes einzelnen gleichartiger Kultureinfluss wirksam geworden, zum Charakter erstarrt ist.

Von all den geschichtlichen Bewegungen aber, die so die moderne Nation des kapitalistischen Zeitalters erzeugen, ist die Arbeiterbewegung die weitaus bedeutsamste. Schon ihre unmittelbare Wirkung ist ungeheuer groß. Sie ist es, die den Arbeitern wenigstens eine solche Verkürzung des Arbeitstages erkämpft hat, dass ein Stück unserer nationalen Kultur doch auch zu ihnen dringen kann; die den Lohn der Arbeiter so weit gehoben hat, dass nicht völlige körperliche und geistige Verelendung sie gänzlich von der Kulturgemeinschaft der Nation ausschließt. Aber sie hat mehr getan! Indem sie die Angst der durch den Sozialismus bedrohten besitzenden Klassen erweckt hat, hat sie diese zum Kampfe gezwungen: Nun muss auch der Bürgerliche, ja selbst der Junker auf die Massen zu wirken suchen. Auch er sucht Arbeiter zu organisieren für seine Zwecke: er sucht Handwerker und Bauern zu vereinen zum Kampfe gegen die Arbeiterklasse. So tobt der Kampf um die große Frage des Eigentums in der ganzen Gesellschaft, tobt um jeden einzelnen Mann, Auf jeden einzelnen Volksgenossen wirken durch Presse, Vereine, Zeitungen, die Argumente aller Parteien: So dringt – wie verdünnt er auch werden mag – durch den Kampf der Parteien doch ein Teilchen des Stromes unserer Kultur zu jedem Mann, wird wirksam in seinem Charakter, eint uns alle zu einer durch gleichartigen Kultureinfluss zusammengeschlossenen Kulturgemeinschaft.

Die Germanen im Zeitalter des Cäsar sind eine Kulturgemeinschaft gewesen: aber diese alte Kulturgemeinschaft ist zerfallen mit dem Sesshaftwerden der Nation beim Übergang zum Ackerbau. An die Stelle der nationalen sind örtlich gebundene Gemeinschaften getreten: voneinander scharf geschieden von Ort zu Ort, von Tal zu Tal. Zur Nation einte höhere Kultur immer nur die herrschenden und besitzenden Klassen. Erst der moderne Kapitalismus hat wieder eine wahrhaft nationale, die engen Grenzen der Dorfgemarkung überspringende Kultur des ganzen Volkes erzeugt. Er hat dies vollbracht, indem er die Bevölkerung entwurzelt, aus der örtlichen Bindung herausgerissen, in dem Prozess der modernen Klassen- und Berufsbildung örtlich und beruflich umgeschichtet hat Er hat sein Werk vollbracht durch das Mittel der Demokratie, die sein Erzeugnis ist, durch die Volksschule, die allgemeine Wehrpflicht und das gleiche Wahlrecht.

Darf sich der Kapitalismus seines Werkes nicht rühmen? Hat er, der Vielverlästerte, indem er die Nation als Kulturgemeinschaft aller, nicht nur der besitzenden Klassen, wiedererschuf, nicht Ungeheures vollbracht? Gewiss. Aber der Kapitalismus wird sein Werk nicht allzu laut preisen dürfen. Die Entstehung der modernen nationalen Kulturgemeinschaft ist möglich geworden durch den Fortschritt der Produktivkräfte. Dass die Dampfmaschine für uns arbeitet, dass sie in unserem Dienste Spinnmaschine und Webstuhl bewegt, dass unsere Riesenhochöfen und unsere Bessemer-Birnen für uns schallen, dass die Entwicklung der Dampfschifffahrt und der Eisenbahnen die fruchtbaren Ländereien ferner Erdteile für uns erst erschlossen hat: das hat der Gesamtheit des Volkes jenen Anteil an den Kulturgütern erschlossen, der die Nation zur Kulturgemeinschaft macht. Der Entfaltung der Produktivkräfte, der Maschine, danken wir jene Umschichtung der Bevölkerung, aus der unser großer Reichtum fließt: der größere Reichtum ist zum Kulturgut geworden, das das Volk zur Kulturgemeinschaft zusammenschließt. Diese Entfaltung der Produktivkräfte ist nun gewiss geschehen durch den Kapitalismus; aber dass sie nur so geschehen ist, das setzt zugleich dem Werden der nationalen Kulturgemeinschaft seine Grenze. Dass unsere Produktivkräfte und durch sie unser Reichtum gewachsen sind, ward die Bedingung des Werdens der modernen Nation; aber dass diese Produktivkräfte bisher nur durch den Kapitalismus, nur im Dienste des Kapitals sich entfalten konnten, das begrenzt den Anteil der Massen an der Kultur der Nation, das setzt der Entwicklung der nationalen Kulturgemeinschaft ihre Grenze.

Die Entfaltung der Produktivkräfte bedeutet eine gewaltige Steigerung der Ergiebigkeit der Arbeit des Volkes. Aber der wachsende Reichtum, der unserer Arbeit entstammt, wird nur zum geringen Teil zum Besitztum der Massen, die ihn erzeugen. Das Eigentum an Arbeitsmitteln ist zum Werkzeug geworden, einen gewaltigen Teil des stetig steigenden Reichtums an sich zu ziehen. Nur einen Teil des Arbeitstages erzeugt der Arbeiter die Güter, die sein Eigen werden; den Rest des Arbeitstages schafft er jenen Reichtum, der zum Besitz der Eigner der Arbeitsmittel wird. Materielle Güter aber wandeln sich immer in geistige Kultur. So ist es das Gesetz unseres Zeitalters, dass die Arbeit der einen zur Kultur der anderen wird. Die Tatsache der Ausbeutung, der Mehrarbeit, die in der langen Arbeitszeit, dem niedrigen Arbeitslohn, der schlechten Nahrung und überfüllten Wohnung des Arbeiters in Erscheinung tritt, setzt aller Erziehung der breiten Massen des arbeitenden Volkes zur Teilnahme an der geistigen Kultur der Nation eine Schranke. Die Tatsache der Ausbeutung hemmt daher auch das Werden der Nation als Kulturgemeinschaft; sie verhindert die Eingliederung des Arbeiters in die nationale Kulturgemeinschaft; und was vom Arbeiter gilt, das gilt für den vom Abnehmerkapital und Hypothekenkapital ausgebeuteten Bauer; das gilt für den vom kapitalistischen Händler unterjochten Handwerker. Von früher Kindheit an bis zum späten Alter stehen sie bei der Arbeit; am späten Abend suchen sie vergebens in der engen Wohnung, die allzuviele teilen müssen, Ruhe; die Sorge um des Lebens täglichen Unterhalt lässt sie in keinem Augenblicke frei. Was können diese Menschen von dem wissen, was in uns Glücklicheren wirksam ist, uns zur Nation zusammenschließt? Was wissen unsere Arbeiter von Kant? Unsere Bauern von Goethe? Unsere Handwerker von Marx?

Aber der Kapitalismus hemmt nicht nur durch die Tatsache der Ausbeutung unmittelbar, sondern durch die Notwendigkeit der Verteidigung der Ausbeutung auch noch mittelbar die Entwicklung des gesamten Volkes zu einer nationalen Kulturgemeinschaft. Gewiss, er hat die Volksschule ausgebaut, so weit er sie brauchte; aber er wird sich hüten, eine wirklich nationale Erziehung zu schaffen, die die Massen in den Vollbesitz geistiger Kultur setzen könnte. Nicht nur weil er, um sich die Möglichkeit, Kinder auszubeuten, nicht zu schmälern, die Schulzeit allzu eng bemisst, nicht nur weil er an den Kosten für die Schule kargt und seinen Reichtum lieber den Werkzeugen seiner Macht opfert, sondern vor allem darum, weil die zur vollen Teilnahme an der Kultur der Nation erzogenen Massen keinen Tag länger seine Herrschaft ertragen könnten; er fürchtet die Volksschule, weil sie seine Gegner erzieht, darum sucht er sie zu seinem Herrschaftsmittel herabzuwürdigen. Der Kapitalismus hat die allgemeine Wehrpflicht notwendig hervorgebracht; aber er hat darum kein Volksheer geschaffen. Er sperrt seine Soldaten in die Kasernen, sucht sie dem Einfluss der Bevölkerung möglichst zu entziehen, sacht in ihnen durch äußere Auszeichnung und räumliche Fernhaltung, durch die Suggestion seiner Ideologie ein besonderes Standesgefühl zu erzeugen, das sie fernhält von dem Leben der Massen. Der Kapitalismus hat die Demokratie erzeugt. Aber die Demokratie war die Jugendliebe des Bürgertums, sie ist die Furcht seines Alters, da sie nun zum Machtwerkzeug der Arbeiterklasse geworden ist. Das gleiche Wahlrecht war im wirtschaftlich rückständigen Österreich zu erobern, im Deutschen Reich kann man es den Arbeitern für die Landtage verweigern, kann man daran denken, es ihnen für den Reichstag zu nehmen. Die Freiheit der Presse, der Versammlungen, der Vereine, fürchtet der altgewordene Kapitalismus als ebensoviele Machtmittel seiner Feinde. So tut er, was er tun kann, zur Hemmung der Entwicklung der Nation. Der Kapitalismus kann die Nation als Kulturgemeinschaft nicht voll erstehen lassen, weil jedes Stückchen geistiger Kultur zur Macht in den Händen der Arbeiterklasse, zur Waffe wird, die ihn dereinst niederstreckt.

Wir dürfen uns jedes Versuches, ein Stück unserer Wissenschaft, unserer Kunst Arbeitern zu vermitteln, gewiss freuen. Aber nur Schwärmer werden vergessen, dass der einzelne, ungewöhnlich begabte Arbeiter wohl heute schon zum Kulturmenschen werden kann, dass der Vollbesitz unserer Kulturgüter der Masse aber heute notwendig versagt bleiben muss. Wer jemals unsere Arbeiter gesehen, wie sie nach neun- oder zehnstündiger körperlicher Arbeit sich mühen, ein Stück der ungeheuren Reichtümer unserer geistigen Kultur sich anzueignen, wie sie mit der Müdigkeit kämpfen, die ihnen die Augen schließen will, wie sie mit dem furchtbaren Hemmnis der schlechten Vorbildung ringen, die jedes Fremdwort ihnen zur Schwierigkeit macht, wie sie soziale Gesetze begreifen wollen, die nie von Naturgesetzen gehört, nie Mechanik gelernt, wie sie exakte ökonomische Gesetze verstehen wollen, obwohl sie nie Mathematik gelernt haben – der wird nicht zu hoffen wagen, jemals unsere Kultur zum Besitztum dieser ausgebeuteten Menschen machen zu können. Nur Höflinge des Proletariats können den Arbeitern einreden, dass sie heute, als Proletarier, alle Wissenschaft begreifen, alle Schönheit genießen können. Das ist ja der große Schmerz der Arbeiterklasse, dass sie dies nicht vermag, dass sie ausgeschlossen ist von dem köstlichsten Schatz, an dessen Werden doch der letzte Handlanger mitwirkt, von unserer nationalen geistigen Kultur. Noch immer ist es so, dass die Herren allein gleichartige Kultur zu einer nationalen Gemeinschaft zusammenschließt, während die arbeitenden, ausgebeuteten und unterdrückten Massen, ohne deren Hände Werk diese Kultur keinen Tag bestehen könnte, nie hätte entstehen können, mit einem elenden Stückchen dieses Reichtums abgespeist werden. Aber freilich, näher als jemals vorher ist der Tag, an dem diese Massen imstande sein werden, auf die großen Reichtümer Hand zu legen, um die geistige Kultur, das Erzeugnis der Arbeit des ganzen Volkes, auch zum Besitztum des ganzen Volkes zu machen. Dieser Tag ist aber erst der Entstehungstag voller nationaler Kulturgemeinschaft.


Fußnote

1. Verkauf, Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, 1903, S.258.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008