Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


I. Die Nation

§ 7. Die Kulturgemeinschaft der Gebildeten im frühkapitalistischen Zeitalter


Es ist eine Eigentümlichkeit der Entwicklungsgeschichte der deutschen Nation, dass ihre frühkapitalistische Epoche nicht das Bild einheitlicher Aufwärtsentwicklung zeigt, sondern durch eine merkwürdige rückläufige Bewegung aufgehalten wurde. In Deutschland hat verhältnismäßig frühzeitig die von uns schon beschriebene frühkapitalistische Entwicklung eingesetzt, aber sehr bald war infolge einer großen wirtschaftlichen Umwälzung eine Reaktion eingetreten, die das Bild der nationalen Kulturgemeinschaft etwa von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts charakterisiert. Diese Reaktion setzt mit der großen Verschiebung der Handelswege ein.

Das Volk, das zuerst eine schnelle kapitalistische Entwicklung erlebt, die Italiener, hat auch zuerst den allem Kapitalismus innewohnenden Drang nach fortwährender Ausdehnung seines Ausbeutungsgebietes empfunden. Die Italiener sind es, die das große Zeitalter der Entdeckungen einleiten. Schon im 15. Jahrhundert entdeckten die Genuesen die Kanarischen Inseln; sie sind es auch, die es zuerst versucht haben, den Seeweg nach Ostindien zu finden. Und als schon die Völker am Atlantischen Ozean die Entdeckerfahrten unternahmen, bedienten sie sich noch immer der Italiener hierzu: der Entdecker Amerikas „Christoph Columbus ist nur der größte einer ganzen Reihe von Italienern, welche im Dienste der Westvölker in fremde Meere fuhren“. [1] Von den Völkern an der Westküste Europas haben zuerst die Portugiesen mit Erfolg kühne Entdeckungsfahrten unternommen. Sie entdeckten 1484 die Congoküste und fanden schließlich im Jahre 1498 den lange gesuchten Seeweg nach Ostindien. Damit beginnt die Verschiebung des Welthandels von den Küsten des Mittelmeeres nach den Gestaden des Atlantischen Ozeans: Die Führung der kapitalistischen Nationen wird den Italienern entwunden und geht der Reihe nach an die Portugiesen und Spanier, an die Holländer, an die Franzosen und Briten über.

Wir wissen, dass die kapitalistische Entwicklung Süddeutschlands zum nicht geringen Teile darauf beruhte, dass es den Zwischenhandel mit den kostbaren Schätzen des fernen Ostens zwischen Italien und den Ländern des Nordens beherrschte. Nun zerstörten aber die Portugiesen in einer Reihe von Kriegen die Handelswege, die von Indien über Arabien nach Italien führten. Nicht mehr auf dem Landwege durch Vorderasien, sondern auf dem Seewege sollten die fremden Waren nach Europa gelangen. An die Stelle der großen Städte Oberitaliens tritt jetzt Lissabon als Zentrum des Handels mit Indien.

Die großen süddeutschen Handelshäuser wussten sich nun freilich zunächst den neuen Verhältnissen anzupassen. Bald finden wir ihre Niederlassungen in Spanien und Portugal und auch der indische Handel blieb trotz der Verlegung der Handelswege zunächst in ihren Händen. So haben die Fugger von Lissabon aus den Molukkenhandel betrieben und auch die Reichtümer des von den Spaniern erschlossenen Amerika wurden zunächst deutschem Kapital dienstbar. So beuteten die Welser Venezuela aus; Welser und Ellinger pachteten die Kupferbergwerke von San Domingo. 1576 bis 1 5 80 war der indische Gewürzhandel in deutschen Händen und auch den Negersklavenhandel hatten die frommen Deutschen, zeitweilig monopolisiert. Aber der reiche Anteil des deutschen Kapitals an der spanischen Herrschaft und Ausbeutung hat den Niedergang des deutschen Kapitalismus nur aufgehalten, nicht verhindert. Im Jahre 1575 machte Spanien einen Staatsbankerott durch: Die Forderungen der fremden Gläubiger an den spanischen König wurden für null und nichtig erklärt. Dadurch wurden neben italienischen vor allem deutsche Kapitalisten getroffen, riesige deutsche Kapitalien sind so verloren gegangen.

So stürzt das stolze Gebäude des oberdeutschen Kapitalismus zusammen. Das Jahr 161 1 sieht den Bankerott des stolzen Handelshauses der Welser, 1653 lösen die Fugger ihr spanisches Geschäft auf. Sehr anschaulich schildert im Jahre 1581 ein Prediger den wirtschaftlichen Niedergang Oberdeutschlands: „Unglück über Unglück in Kaufmannschaft und Geldumschlag hört man schier allenthalben klagen, wohin man kommt, und hat es unter Kaufleuten, Handwerkern, Ratsherren, vornehmen Geschlechtern, Grafen und Edelleuten täglich vor Augen, da man sieht, dass unzählige viel, so im guten Stand, Reichtum, Wohlhabenheit und großem Ansehen gewesen sind, verarmet und verdorben sind.“ [2]

Fast gleichzeitig mit dem Rückgang des süddeutschen Handels setzt aber auch die Zurückdrängung der Niederdeutschen ein, die so lange den Handel Englands und der Niederlande mit den skandinavischen und nordslavischen Ländern vermittelt hatten. Schon Heinrich VII. griff zugunsten der englischen Kaufleute die Sonderrechte der Hansa in England an. Wohl gelang es im Jahre 1491 der Hansa noch, ihre englischen Privilegien zu behaupten, aber sie konnte dies nur, indem sie den Engländern den Zugang zur Ostsee, vor allem freien Handel mit Danzig, gewährte. Was Heinrich VII. begonnen, wurde unter Elisabeth vollendet. Noch um 1550 hatte die Hansa bei der Tuchausfuhr aus England hohe Begünstigungen, exportierte jährlich etwa 43.000 Stück rohes Tuch, außerdem Wolle, Blei, Zinn, und brachte dafür Wachs, Tuch, Leinwand, Teer und die Produkte des Südens nach England. 1567 gelang es dann schon den merchant adventurers, den „wagenden Kaufleuten“, die damals die Vorkämpfer des englischen Außenhandels waren, sich in Hamburg anzusiedeln. Es wurde ihnen zwar bald gekündigt und sie mussten Hamburg wieder verlassen, aber England beantwortete dies mit der Aufhebung der Privilegien der Hansischen Kaufleute in England. Gleichzeitig griff England die Flotte der Hansa an: 60 Hansische Schiffe wurden in kurzer Zeit von den Engländern gekapert, unter dem Vorwand, dass sie Spanien Kriegskontrebande geliefert hätten. Als dann im Jahre1598 das Reich die Aufnahme der merchant adventurers auf deutschem Boden verbietet, antworten die Engländer mit der Vertreibung der Hansischen Kaufleute aus ihrer uralten Gildhalle in London, und diese Vertreibung der Deutschen bleibt dauernd, während die englischen Kaufleute schon 161 nach Hamburg zurückkehren konnten und Hamburg zum Einfallstor der englischen Waren in Deutschland wurde.

Gleichzeitig mit den Engländern empörten sich auch die Skandinavier gegen die Ausbeutung durch die Hansischen Kaufleute. Der gewinnbringende Handel mit den skandinavischen Ländern ging aus den Händen der deutschen Kaufleute in die der Niederländer über. Die Niederlande aber waren nicht mehr deutsch. Die gewaltige Verschiebung der Handelswege, die ganz Deutschland geschadet, hat sie zeitweilig zum kapitalistisch höchst entwickelten Lande Europas gemacht. Eine enge Kulturgemeinschaft verknüpfte die aus drei verschiedenen deutschen Stämmen entsprossenen Bewohner der heutigen Niederlande; auf der Grundlage ihrer reichen wirtschaftlichen Kultur ruhte ihre abweichende politische und religiöse Entwicklung, ruhte ihre nationale Wissenschaft und Kunst, entstand als Werkzeug der engeren Kulturgemeinschaft ihre eigene, von der gemeindeutschen verschiedene Einheitssprache. So schieden sie aus dem Gesamtkörper der deutschen Nation aus, sie wurden nicht etwa nur ein eigener Staat, sondern wahrhaft eine eigene Nation. So konnte auch der wirtschaftliche Gewinn, den ihnen die neue Entwicklung des Welthandels brachte, der deutschen Nation nicht zugute kommen.

Der Ruin des deutschen Großhandels, die Zerstörung großer Kapitalien, der Wegfall der Handelsprofite machten sich sehr bald allen in die Warenproduktion einbezogenen Schichten der deutschen Bevölkerung fühlbar. Die Entwicklung des Bergbaues und der ländlichen Hausindustrien wurde gehemmt, die Handwerker sahen sich ihrer zahlungskräftigsten Kundschaft beraubt. Dazu kamen noch andere Ereignisse. Die Entwicklung der neuen, auf der Geldwirtschaft beruhenden Staaten in ganz Europa führte zunächst zu einer großen Anzahl verheerender Kriege. Das Opfer dieser Kriege wurden vor allem jene Völker, die in territorialer Zersplitterung verharrten, während die Völker des Westens bereits große Nationalstaaten gebildet hatten. Wie Italien damals unter fremde Herrschaft fiel, so wurde Deutschland zum Kriegsschauplatz, auf dem sich die Heere aller großen Staaten Europas maßen. Vor allem haben die Verwüstungen durch den dreißigjährigen Krieg die Entwicklung Deutschlands gehemmt. Dazu kam in manchen Ländern noch die gewaltsame Durchführung der Gegenreformation, die gerade die kapitalskräftigsten und gewerbfleißigsten Schichten aus dem Lande trieb.

Alle diese Ereignisse, die die kapitalistische Entwicklung Deutschlands hemmten, ja zeitweilig zu naturalwirtschaftlicher Rückbildung führten, verengerten die nationale Kulturgemeinschaft und veränderten ihr Wesen.

An der Spitze der nationalen Kulturgemeinschaft finden wir zunächst die deutschen Fürstenhöfe und den Adel. Dem Adel war die Entwicklung wirtschaftlich keineswegs ungünstig. Boten doch gerade die Umwälzungen der Gegenreformation und die Greuel des dreißigjährigen Krieges die Möglichkeit, die Ausbeutung der Bauern unerhört zu steigern, die wüsten Bauernländereien zum Herrenlande zu schlagen und die Fronen der wehrlosen Bauern ins Ungemessene auszudehnen. Aber trotzdem war die politische Entwicklung des Staates dem Adel ungünstig. Seine militärische Bedeutung war unwiederbringlich dahin und auf ihre starken Söldnerheere, später auf die auf dem Konskriptionssystem beruhenden stehenden Heere gestützt, haben die Fürsten die in den Ständen nochmals zusammengefasste politische Macht des Adels dauernd niedergeworfen. Nicht mehr als selbständiger Feudalherr kann der Adelige bestehen; er muss zufrieden sein, dass ihm der neue Staat neue Mittel der Herrschaft eröffnet, indem er dem Adel die obersten Würden in der Bürokratie und im Heere vorbehält. Nicht mehr selbständig, auf seine eigene wirtschaftliche und politische Macht – wie im Mittelalter – gestützt, gegen den Staat, sondern nur durch den Staat vermag der Adel zu herrschen. Kulturell aber bedeutet dies eine gewaltige Verschiedenheit. Denn die neue Kultur des Adels wird jetzt höfisch; der Adel im ganzen Lande ahmt die Sitte des Fürstenhofes nach und jede Laune des Fürsten wird als Mode zum Gesetz auf allen Schlössern im Lande. Diese höfische Sitte der kleinen deutschen Staaten musste aber notwendig ihr Vorbild finden in dem Adel des damals höchstentwickelten absolutistischen Staates, im prächtigen Hofe der Könige von Frankreich. So zieht französische Sitte und französische Mode, französische Frivolität und französische Kunst in Deutschland ein und vertilgt alles alte deutsche Wesen. Ein Aufenthalt in Frankreich wird zum unentbehrlichsten Bestandteil der Erziehung des jungen Edelmannes. Die französische Sprache verdrängt in den höfischen und Adelskreisen völlig die deutsche. Noch Friedrich II. gestand Gottsched gegenüber einmal:

„Ich habe von Jugend auf kein deutsches Buch gelesen und rede deutsch wie ein Kutscher; jetzo aber bin ich ein alter Kerl von 46 Jahren und habe keine Zeit mehr, deutsch zu lernen.“

Die wechselnden Moden des französischen Adels finden in Deutschland schnell Eingang. Der homme du monde wird das Erziehungsideal der adeligen Kreise. Und wie auch innerlich, in seinem ganzen geistigen Wesen der Adel hierdurch verändert wurde, blieb schon den Zeitgenossen nicht verborgen:

„À-la-mode-Kleider, à-la-mode-Sinnen –
Wie sich’s wandelt außen, wandelt sich’s auch innen.“

Neben dem höfischen Adel bildet den zweiten Bestandteil der „Gebildeten“ jener Zeit die Schichte der freien Berufe, der humanistisch Gebildeten. Ihren Mittelpunkt bildet die vom modernen Staate ausgebildete Bürokratie; zu ihr gesellen sich die Geistlichkeit, die Lehrer der höheren Schulen, die Ärzte. Auf sie wirkt nicht minder als auf den höfischen Adel fremde Bildung, nur ist hier der französische Einfluss weniger stark als der Einfluss der humanistischen Bildung. Die höhere Schule pflegte die deutsche Sprache nicht. Die kursächsische Schulordnung verbot in den höheren Schulen geradezu den Gebrauch der Muttersprache. Besondere Aufpasser mussten darauf achten, dass die Schüler selbst untereinander nur lateinisch sprachen, deutsche Gespräche wurden bestraft. Geläufigkeit im Gebrauche der lateinischen Sprache und Kenntnis der Schriftsteller des klassischen Altertums, wobei freilich hinter dem philologischen Interesse das historische weit zurückstehen musste, waren die Ideale dieser „humanistischen“ Erziehung. Die gesamte wissenschaftliche Literatur und auch die schulmäßige schöne Literatur bedienten sich der lateinischen Sprache.

Neben dem Adel und den humanistisch gebildeten freien Berufen war der Anteil des in der Produktion und im Handel beschäftigten Bürgertums an der nationalen Kulturgemeinschaft viel zu gering, als dass es zunächst eine eigene nationale Bildung hätte erzeugen können. Wer zu den „Gebildeten“, zur „Gesellschaft“ gehören wollte, musste darum suchen, französisch-höfische und gelehrt-lateinische Bildungselemente in sich aufzunehmen. Das war in der Tat das Streben der verhältnismäßig wenigen Patrizier der deutschen großen Städte, Hamburgs, das im Handel mit England sich bereicherte, Leipzigs, das der Handel mit den slavischen Ländern groß erhielt, der Schweizer Städte, für die von der reichen Entwicklung Frankreichs mancher Brocken abfiel.

Unter diesen Schichten der „gebildeten Gesellschaft“ stehen aber die breiten Massen der Handwerker, der Bauern und der Arbeiter. Sie eint kein Band einer gemeinsamen nationalen Kultur. Fast ohne jede Schulbildung wachsen sie auf. Am öffentlichen Leben haben sie keinen Anteil. Dichtung und Kunst dringt nicht zu ihnen – es sei denn in der pöbelhaften Form der „Haupt- und Staatsaktionen“ und der Hanswurstiaden des damaligen deutschen Theaters. Von den Ereignissen der großen Welt, von den wirtschaftlichen und politischen Revolutionen des Westens, von den großen Fortschritten der Naturwissenschaften und der Staatslehre dringt zu ihnen keine Kunde.

Nur langsam hat sich der deutsche Kapitalismus von den schweren Schlägen erholt, die ihm die weltwirtschaftliche Umwälzung und die Greuel der Gegenreformation und des dreißigjährigen Krieges versetzt hatten. Es geschah dies durch bewusste Unterstützung des Staates. Der moderne Staat ist erwachsen auf Grundlage der Warenproduktion. Er kann nicht entstehen und kann nicht bestehen, wenn nicht ein Teil des Arbeitsertrages des Volkes in der Geldgestalt als Steuer zu seinem Werkzeug wird, mit dem er seine beiden großen Machtmittel, die Bürokratie und das Heer, sich schafft und erhält. Notwendig musste der Staat für die Weiterentwicklung der Warenproduktion sorgen. Die Warenproduktion kann aber nur als kapitalistische Warenproduktion allgemeine Form der gesellschaftlichen Produktion sein. So wurde es notwendig zur Aufgabe des Staates, die Entwicklung des Kapitalismus zu fördern. Diesem Zwecke diente die merkantilistische Politik. Freilich, jene Großzügigkeit der merkantilistischen Politik, die die großen Staaten des Westens gekannt, war den kleinen Territorien Deutschlands versagt. Aber immerhin haben auch sie es verstanden, die kapitalistische Entwicklung zu fördern. Durch Einfuhrzölle auf Fabrikate und Ausfuhrzölle auf Rohstoffe förderten sie die Entwicklung der Industrie. Ihre Gewerbegesetzgebung suchte zu verhindern, dass die Zünfte die Entwicklung des Kapitalismus hemmten. Ihre Agrargesetzgebung suchte es den Gutsherren unmöglich zu machen, den Zuzug der Arbeiter vom Lande in die Industrie zu hemmen. Mit manchmal kleinlich-brutalen Mitteln schufen sie künstlich eine Nachfrage nach industriellen Produkten. Durch Berufung fremder Kapitalisten und Werkmeister suchten sie die Entwicklung zu beschleunigen. Damit die Begehrlichkeit des Arbeiters dem Kapitalisten nicht unangenehm werde, setzten sie Höchstlöhne und Mindestarbeitszeit fest und bestraften grausam Jeden Versuch der Arbeiter, sich eine menschenwürdige Lage zu erkämpfen. So förderten sie mit allen Mitteln die kapitalistische Entwicklung. Mit dieser Unterstützung erholte sich der deutsche Kapitalismus allmählich; es wuchs die Zahl und der Reichtum der deutschen Kaufleute; es verbreiteten sich wieder Manufakturen und Hausindustrien, der Bergbau begann wieder emporzublühen. Und mit dem Anwachsen der bürgerlichen Schichte wächst auch wieder die Zahl und die Wohlhabenheit derer, die immer die kapitalistische Entwicklung begleiten, der höheren Angestellten und der freien Berufe. Eine deutsche bürgerliche Gesellschaft war wieder im Entstehen. Das Selbstbewusstsein des Bürgers wuchs. Während noch ein paar Jahrzehnte früher Ludwig von Baden an den Kaiser schrieb „forchtsamb und kleinmütig zu seyn, ist unter den Burgern eine durchgehende Krankheit“, heißt es in Gottscheds Wochenschrift Der Biedermann bereits:

„Ein Handelsmann von Kredit und Ansehen hat zweifelsohne weit größere Ehre und besitzt viel mehr vom wahren Adel als ein wilder, verschwenderischer Junker.“ [3]

Diese bürgerliche Gesellschaft schuf sich allmählich auch ihre Kultur. Die deutsche Sprache begann wieder an Boden zu gewinnen gegenüber dem Französischen des Adels und dem Latein der Juristen und Theologen. Im Jahre 1730 bilden die in Deutschland gedruckten lateinischen Bücher nur 30 Prozent der gesamten deutschen Bücherproduktion, während 1570 70 Prozent der in Deutschland gedruckten Bücher in lateinischer Sprache geschrieben waren. Etwa seit 1680 schon überwiegt in der Dichtung die deutsche Sprache, 1687 hält Thomasius die erste Universitätsvorlesung in deutscher Sprache; unter dem Einfluss Christian Friedrich Wolffs beginnt auch die Philosophie sich der deutschen Sprache zu bedienen; beiläufig gleichzeitig auch die Medizin. Am längsten wahrten sich die Juristen ihr geliebtes Latein. Erst 1752 ist die Zahl der in deutscher Sprache gedruckten juristischen Werke größer als die der lateinischen. Dieser neue Gebrauch der deutschen Sprache bedeutet im Grunde eine Eroberung der deutschen Sprache, die Ausbildung einer deutschen Einheitssprache für Wissensgebiete, für die sie erst geschaffen werden musste. Aber die wachsende Zahl breiter bürgerlicher Schichten, die an der Kulturgemeinschaft der Nation ihren Anteil haben wollten, musste nicht nur dazu führen, dass die volkstümliche Sprache die fremden Sprachen verdrängte, sie musste ebenso sicher dazu führen, dass der Inhalt der Geisteskultur verändert wurde. Weder die Kultur des höfischen Adels noch die einer kleinen akademischen Schichte konnte die Kultur der emporstrebenden Oberschichte des deutschen Bürgertums sein. Deutlich spiegelt sich dies in unserer Literatur.

Gänzlich verfallen war das deutsche Schrifttum auch in den schlimmsten Zeiten des fremden Einflusses nicht. Aber auch diese deutsche Literatur vereinigte in sich das höfisch-adelige mit dem gelehrt-philologischen Element. Die äußere Nachahmung der französischen und der klassischen Poesie, die Lehrhaftigkeit dieser „Dichtung“ reiht etwa die Dichtungen eines Opitz ganz den französisch oder lateinisch geschriebenen Schriften seiner Zeit an, mögen sie sich auch der deutschen Sprache bedienen. Welches das Publikum war, an das auch diese deutschen Schriftsteller sich wandten, das sagt ebenso klar als naiv Weckherlin (1584 bis 1650):

„Ich schreibe weder für noch von allen
Und meine Verse, kunstreich und wert,
Sollen nur denen, die gelehrt,
Und (wie sie tun) weisen Fürsten gefallen,“

Aber aufblühen konnte eine deutsche Literatur erst, als das Bürgertum sich langsam wieder von seinem Niedergang erholte. Da musste denn zunächst der Geschmack breiter bürgerlicher Schichten von jener Verrohung geheilt werden, in die ihn die schwülstigen Romane jener Zeit und die pöbelhaften Theaterstücke der deutschen Bühne gebracht. So zwang man denn das deutsche Schrifttum zunächst in die Formen der klassischen Dichtung der Franzosen und weckte dadurch höheren Anspruch an die künstlerische Form. Sobald aber das Bürgertum stark genug war, selbst seine Kunst sich zu schaffen, warf es die Krücke weg, die es gebraucht, um die ersten Stufen zu erklimmen, und schuf sich nun frei seine eigene Kunst. Die neue Kunst war sich ihres bürgerlichen Ursprungs bewusst. Dass sie nur erstehen konnte im Kampfe gegen die höfische und gelehrte Kultur, die ihr vorausgegangen, das empfindet heute noch der Historiker der deutschen Literatur stark genug, dem es nicht leicht wird, trotz des harten Urteils unserer Klassiker über ihre unmittelbaren Vorgänger doch auch diesen gerecht zu werden und ihnen die historische Stelle anzuweisen, die ihnen trotz allem gebührt. Wie das erstarkende Bürgertum sich seines Gegensatzes gegen die fürstlich-adelige Kultur bewusst wurde, so warf unsere Dichtung in Emilia Galotti, im Götz, in Schillers Jugenddramen den Fürsten ihren Fehdehandschuh hin. Dass die deutsche Kunst ihres bürgerlichen Ursprungs sich bewusst war, spricht sie deutlich genug in Schillers berühmtem Gedicht aus:

„Kein Augustisch Alter blühte,
Keines Medicäers Güte
Lächelte der deutschen Kunst;
Sie ward nicht gepflegt vom Ruhme,
Sie entfaltete die Blume
Nicht am Strahl der Fürstengunst.
Von dem größten deutschen Sohne,
Von des großen Friedrichs Throne
Ging sie schutzlos, ungeehrt.
Rühmend darf’s der Deutsche sagen,
Höher darf das Herz ihm schlagen:
Selbst erschuf er sich den Wert.“

Es ist das stolze Selbstbewusstsein des deutschen Bürgertums, das sich hier der Kultur rühmt, die es selbst sich geschaffen.

Und welche geistige Wandlung bedeutet dieser Aufstieg des Bürgertums! Zur Zeit, als die adelige Kultur mit ihren von Frankreich kommenden, alljährlich wechselnden Moden in Deutschland die Führung hatte, da war das deutsche Bürgertum stark gebunden an die Überlieferung. Der Sohn lebte, dachte, fühlte, wie der Vater gelebt, gedacht und gefühlt. Finden wir in jener Zeit einmal einen Dichter, aus dem nicht höfisches, nicht gelehrtes, sondern schlicht bürgerliches Denken spricht, so finden wir ihn gewiss auch eingesponnen in die Allmacht der Überlieferung – wie etwa den schlichten Niederdeutschen Hans Laurenberg (gest. 1658):

„by den Olden will ick blyven,
höger schall myn Styll nich gähn,
als myns Vaders hefft gedan.“

Ganz anders, als das Bürgertum wieder erstarkt. Nun wird der Adel, dem die bürgerliche Entwicklung entgegentritt, konservativ: Das Bürgertum aber beginnt an alles wieder das Messer seiner Vernunft zu legen; es beginnt – in Gedanken freilich nur – die überlieferte Welt umzuschaffen, die überkommene Kultur nach seinem Sinn zu modeln. Es ist die Zeit der Aufklärung, deren Kritik die überlieferten Sitten und Lebensbräuche, die überlieferte Religion, der überlieferte Staat sich unterwerfen müssen. Eine Unzahl von Monats- und Wochenschriften, verbreitet die Gedanken von der „natürlichen Religion“, der „natürlichen Sittlichkeit“, dem „natürlichen Staat“ unter den Gebildeten ganz Deutschlands. Die aufklärerischen geheimen Gesellschaften vereinigen einflussreiche Schichten der deutschen Gebildeten. Und wie beschränkt und kleinlich uns diese Aufklärung auch erscheinen mag neben der großzügigen Entwicklung Frankreichs und Englands, deren große Werke nur in verdünnter Gestalt ein breiteres deutsches Publikum zu beeinflussen vermochten, gerade in ihrer, der langsameren und kurzatmigen Entwicklung des deutschen Bürgertums entspringenden Beschränktheit wurde die Aufklärung geradeso zum einigenden Band einer nationalen Ku1turgemeinschaft wie unsere mit ihr eng verknüpfte klassische Dichtung. Der Sieg der deutschen Einheitssprache wurde durch diese Entwicklung unserer Literatur vollendet. Noch kurz vor dem Wiederaufblühen der deutschen Literatur konnte in der Schweiz davon die Rede sein, man solle sich doch von der „diktatorischen Dreistigkeit“ der Ober-Sachsen emanzipieren, die ganz Deutschland ihre Sprache diktieren wollten, und eine eigene schweizerische Schriftsprache ausbilden. Davon war nun keine Rede mehr. Denn sich aus der Gemeinschaft der neuhochdeutschen Einheitssprache loslösen, das hieße jetzt sich selbst des Zugangs zu den großen Schätzen unserer Kunst und Philosophie berauben.

Versuche es einmal der erstbeste Gebildete von heute, aus dem Werden seiner Persönlichkeit die Wirkungen unserer klassischen Dichtung wegzudenken! Wegzudenken die Stunde, in der der Knabe zum ersten mal mit glühenden Wangen Schillers Räuber las! Wegzudenken den Tag, da der Jüngling mit Faust zum ersten Mal nach der Welten Rätseln sann! Da er im ersten Liebesweh mit Werther eins sich fühlte! Was unsere Klassiker geschaffen, das ward jedem von uns zum eigensten, persönlichsten Erlebnis, zu eigenstem Besitz, und was an seinem Sein mitgeschaffen, das schuf auch mit am Sein jedes anderen Deutschen. So verknüpft uns alle ein unsichtbares Band. Was mein wurde, das ward jedem anderen das seine; so wirkte es auf uns alle gleichartig ein und schuf uns alle zu einer Gemeinschaft um. Das ist es, was uns alle zu Deutschen macht. Wohl verstanden: Nicht davon ist hier die Rede, was die klassische Dichtung der Deutschen für unser Nationalbewusstsein bedeutet; nicht davon, dass wir an Lessing und Schiller, an Kant und Goethe denken, wenn wir uns des Stolzes des deutschen Namens bewusst werden wollen, sondern davon, dass unsere klassische Dichtung mitgeschmiedet hat am einheitlichen Charakter der deutschen Nation, indem sie jedem Deutschen zum Er1ebnis, zum bestimmenden Schicksal wurde.

Und was von unserer klassischen Dichtung gilt, das gilt nicht minder von der deutschen Aufklärung. Vielleicht ist hier die Wirkung gerade darum noch viel stärker, weil wir sie meist nicht so klar sehen wie den Einfluss der deutschen Dichtung. Und doch! Wer auch heute noch das erstbeste deutsche Zeitungsblatt in die Hand nimmt; wer der ersten besten deutschen Predigt lauscht, dem ersten besten deutschen Landschulmeister zuhört – und mag selbst die Zeitung eine sozialistische, der Prediger ein orthodoxer Katholik und der Schulmeister ein preußischer Konservativer sein – dem klingt aus all dem unendlich vieles wieder, was seit der Periode der Aufklärung sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzt und stärker, als wir ahnen, heute noch auf uns alle einwirkt. Was das deutsche Bürgertum damals selbst erdacht und mit Fremdem zu Eigenem verschmolzen, das ist so auch heute noch unser Besitz. Die wirtschaftliche Entwicklung des 18. Jahrhunderts hat jene Kultur erzeugt; aber einmal entstanden, ist diese Kultur zum lebendig wirkenden Faktor geworden, der in seinem Fortwirken noch späte Generationen gleichartig bestimmt und indem er auf jedes Individuum vereinzelt wirkt, die Nation als Ku1turgemeinschaft zusammensch1ießt.

Aber freilich! Mit ihrer vollen Kraft wirkt die deutsche bürgerliche Kultur auch heute noch nicht auf das ganze Volk, auch heute noch nur auf die besitzenden und herrschenden Klassen unseres Volkes. Wie viel mehr war das erst im 18. Jahrhundert der Fall! Was konnte die bürgerliche Aufklärung und bürgerliche Kunst den deutschen Bauern sein, die in maßloser Überarbeit für die Gutsherren ihr Leben hinbrachten? Was den deutschen Handwerkern, die bereits über die Konkurrenz des emporkommenden Kapitalismus zu klagen begonnen? Was den deutschen Arbeitern, die der kapitalistischen Ausbeutung wehrloser als jemals vorher und nachher preisgegeben waren? Wir brauchen bloß einen Blick auf das Schulwesen jener Zeit zu richten, um zu erkennen, wie eng noch immer der Kreis war, den die neue bürgerliche Kultur zu einer Nation zusammenschloss.

Die höhere Schule, wie sie unter der Einwirkung der Reformation in protestantischen Ländern überwiegend unter staatlichem, in katholischen Ländern unter dem Einfluss der Jesuiten entstanden ist, ist niemals völlig verfallen. Mit den Fortschritten der bürgerlichen Kulturgemeinschaft erlebte sie eine neue Blüte. Ganz anders die Volksschule. Der Kapitalismus der Manufakturperiode und der Hausindustrie brauchte die Volksschule nicht. Der Teilarbeiter der Manufaktur, der jahraus, jahrein dieselbe einfache Hantierung verrichtete, brauchte Übung und Handfertigkeit für seine Teilarbeit, aber keinerlei Wissen. [4] Und ebensowenig verlangte die Arbeit des Häuslers, der für einen kapitalistischen Verleger fronte, irgendwelche Vorbildung. Höhere Bildung des Bauern aber schien der Gutsherrenklasse schon damals gefährlich; darum ist es nach Friedrich II.

„... auf dem platten Lande genug, wenn sie bisgen lesen und schreiben lernen; wissen sie aber zu viel, so laufen sie in die Städte und wollen Sekretäirs und so was werden: Deswegen muss man auf dem platten Lande den Unterricht der jungen Leute so einrichten, dass sie das Notwendige, was zu ihrem Wissen nötig ist, lernen, aber auch in der Arth, dass die Leute nicht aus den Dörfern lauffen, söndern hübsch da bleiben.“

Auch der Staat konnte sich in jener Zeit mit einem sehr geringen Maß allgemeiner Volksbildung begnügen:

„Der Schulmeister muss sich Mühe geben, dass die Leute attächement zur religion behalten und sie so weit bringen, dass sie nicht stehlen und morden.“

Mehr brauchte der Staat nicht in der Zeit, in der im Kriege die Heeresabteilungen geschlossen auftraten und der Krieg daher an den eigenen Willen des gemeinen Mannes keine Ansprüche stellte; in der die Verwaltung von gelehrten Bürokraten oder von den Gutsherren besorgt wurde und daher der Teilnahme breiter Massen nicht bedurfte. So war es denn um das Volksschulwesen jener Zeit kläglich bestellt. Die Kirchendiener, die die Kirche zu fegen hatten, besorgten auch den Schulunterricht. In den Dörfern fehlte es an Schulgebäuden, daher wurde der Unterricht meist in wöchentlichem Wechsel in den Häusern der einzelnen Gemeindemitglieder erteilt und ebenso erhielt auch der Lehrer der Reihe nach bei diesen Kost und Wohnung, wozu ein Geldlohn von 3 bis 20 Talern jährlich kam. [5] „Ist der Schulmeister,“ bestimmen die Principia regulativa Friedrich Wilhelms I. von Preussen, „ein Handwerker“ – häufig waren es Schneider, die im Nebengewerbe das Amt des Dorfschulmeisters ausübten – „kann er sich schon ernähren; ist er keiner, wird ihm erlaubt, in der Ernte sechs Wochen auf Taglohn zu gehen.“ Friedrich II. wollte die Invaliden seiner Feldzüge zu Dorfschulmeistern machen, um sie zu versorgen.

„Wenn unter den Invaliden sich welche finden, die lesen, rechnen und schreiben könnten und sich zu Schulmeistern auf dem Lande eigneten und sonst gut schickten, sie dazu besonders an den Orten, wo der König die Schulmeister salarirte, employret werden sollten.“

Aber für den Umfang der damaligen Volksbildung ist es bezeichnend genug, dass sich bei der Durchführung dieser Kabinettsordre von 4.000 Invaliden nur 79 des Lesens und Schreibens hinreichend Kundige fanden. Und dabei war es in protestantischen Ländern um das Schulwesen noch immer besser bestellt als in den katholischen!

So zeigt uns auch die anscheinend so glänzende Entwicklung der deutschen Kulturgemeinschaft noch immer das traurige Bild, das wir schon kennen. Die nationale Kulturgemeinschaft ist noch immer die Kulturgemeinschaft einer Klasse, des gebildeten Bürgertums, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hat an ihr keinen Teil. Bauern, Handwerker und Arbeiter sind immer noch, wie im Zeitalter der Hohenstaufen, nicht Glieder der Nation. sondern ihre Hintersassen. Die weitere Verbreiterung der nationalen Kulturgemeinschaft konnte nur geschehen durch jene ungeheure Entfaltung der Produktivkräfte, die das Werk des modernen Kapitalismus gewesen ist.


Fußnoten

1. Burckhardt, Kultur der Renaissance, Leipzig 1904, 2. Bd., S:4.

2. Zitiert bei Steinhausen, a.a.O., S.540.

3. Zitiert bei Steinhausen, a.a.O., S.643.

4. Schulz, Die Volksschule in der Manufakturperiode, Neue Zeit, XX., S.172f.

5. Jolly, Unterrichtswesen, In Schönbergs Handbuch der politischen Ökonomie, III., S.1063.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008