Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


I. Die Nation

§ 6. Die Warenproduktion und die Anfänge der bürgerlichen Kulturgemeinschaft


Weder der Grundherr noch der Bauer des Mittelalters ist Warenproduzent, erzeugt Güter, die bestimmt sind, Ware zu werden, das heißt, zum Austausch, zum Verkauf zu dienen. Das Getreide, das der Bauer dem Boden abgewinnt, will er selbst mit Frau und Kind verzehren; den Flachs, den er zu Linnen braucht, baut er sich selbst, es verspinnen und verweben ihn Frau und Mägde an den langen Winterabenden. Das Korn, das der fronende Bauer auf dem Herrenlande geerntet und in des Herrn Speicher gebracht, soll nicht verkauft werden, sondern dem Herrn und seinem Gesinde zum Unterhalt dienen. Nur die kleinen Überschüsse landwirtschaftlicher Produktion werden gelegentlich verkauft und mit dem erlösten Gelde kaufen Bauern und Grundherren die wenigen Güter. die sie nicht in eigener Wirtschaft erzeugen können. So spielt Warenproduktion und Warenaustausch in der ersten Hälfte des Mittelalters eine geringe Rolle. Und dem entspricht die geringe Bedeutung der Warenproduzenten – der Handwerker – und der Vermittler des Warenaustausches – der Kaufleute – im gesamten Leben des Volkes. Die wenigen volksarmen Städte verschwinden fast in dem Meer der Grundherrschaften und Markgenossenschaften. Noch sieht die mittelalterliche Welt nicht in den kleinen Städten die Macht wirksam, die dereinst die auf der Grundherrschaft aufgebaute Gesellschaft stürzen sollte; noch ordnet sie den Bürger in die Stände ein, führt ihn neben Geistlichen, Rittern und Bauern als einen ihrer Stände an ; noch hat das städtische Bürgertum keine eigene Kultur ausgebildet, sondern hat nur, soweit es zu höherer Gesittung gelangt, Anteil an der ritterlichen Kulturgemeinschaft. Die Patrizier der Städte, die alten erbgesessenen Geschlechter, finden wir häufig mit den Rittergeschlechtern des Landes verschwägert. In süddeutschen Städten bilden manche Patriziergeschlechter Brüderschaften, die die ritterliche Gesittung übernehmen und nachahmen. Unter den großen Dichtern des höfischen Epos finden wir auch einen für ritterliches Wesen begeisterten Bürger, Meister Gottfried von Straßburg.

Die allmählich wachsende Bedeutung der Warenproduktion und mit ihr der Stadt ist geknüpft an die Steigerung der Ergiebigkeit der landwirtschaftlichen Arbeit. Immer reicheren Ertrag vermochte der Bauer dem Boden der Heimat, vor allem aber den größeren Hufen des neu eroberten Koloniallandes abzugewinnen. So war er denn geneigt, einen Teil seines Arbeitsertrages gegen andere Güter einzutauschen. Aber nicht nur der Arbeitsertrag stieg, sondern auch seine Verteilung war der Entwicklung der Warenproduktion günstig. Die Zeit der Kolonisation, in der jedem Bauern die weiten Gefilde im Osten offen standen, milderte den Druck der Grundherrschaft in der alten Heimat. Der Grundherr blieb auf die überlieferten Abgaben beschränkt, das Wachstum des landwirtschaftlichen Ertrages fiel vor allem dem Bauer zu. Hatte die ältere Zeit den Bauer in so geringem, nur den Grundherrn in beträchtlichem Masse als Warenkäufer gekannt, so sieht das 13. Jahrhundert eine Klasse üppig lebender Bauern, die einen nicht unbeträchtlichen Überschuss ihres Arbeitsertrages gegen gewerbliche Erzeugnisse einzutauschen bereit sind. Diese Entwicklung nützt unmittelbar dem deutschen Kaufmann. Und die Zahl der deutschen Kaufleute, ihr Geschäftsumfang, wächst um so mehr, als zum Wachstum der heimischen Nachfrage auch noch ein bedeutsamer Zwischenhandel kommt. Die nordischen Städte vermitteln den Austausch zwischen Ost und West, zwischen den hoch entwickelten Niederlanden und England einerseits, den skandinavischen Ländern und den Slavenländern im Osten andererseits. Die Städte Süddeutschlands vermitteln den Handel der nordischen Länder mit den frühzeitig kapitalistisch entwickelten Städten Italiens, welche die Schätze des Ostens nach Europa bringen. So gewinnt der deutsche Kaufmann auch durch die frühe kapitalistische Entwicklung der italienischen Städte an Bedeutung. Aber nicht nur der Kaufmann, auch der Handwerker wird durch diese Entwicklung gehoben. Während noch die große Masse der deutschen Bauernsöhne nach dem Nordosten Deutschlands zieht, um das slavische Land zu besiedeln, beginnt doch schon auch der Zug in die Stadt. Die einwandernden Bauernsöhne aber werden Handwerker. Wer Lehrling war, wird Geselle, wer Geselle war, wird Meister. Noch kennt die Zeit keine Klasse, die zu lebenslänglicher Lohnarbeit verurteilt wäre. Die hohen Gesellenlöhne ermöglichen es jedermann, das geringe Kapital zu ersparen, das der selbstständige Meister braucht. Und dieser langsam anwachsenden Klasse von Handwerkern ist der Absatz ihrer Ware gewiss: die reicher werdenden Kaufleute in der Stadt, die behäbigen Bauern auf dem Lande sind ihre Kundschaft.

So weit ist die Entwicklung der Stadt eine ziemlich einheitliche. Wohl war gerade die Zeit, von der wir bisher gesprochen, die Zeit der großen Kämpfe zwischen den Handwerkerzünften und den alten erbgesessenen Geschlechtern um die politische Macht in der Stadt. Aber wir dürfen uns darum die kulturelle Scheidung der beiden Schichten der städtischen Bevölkerung nicht allzu tief vorstellen. Handwerksmäßiges Wesen beherrschte die ganze Stadt, kulturell war der Abstand zwischen Geschlechtern und Handwerksmeistern zunächst nicht allzu groß. Es ist eine Periode geringer Differenzierung der städtischen Kultur, die auf dem Boden der einfachen Warenproduktion – in der dem Produzenten auch die Arbeitsmittel gehören – ruht.

Aber allmählich beginnt eine weitere Entwicklung. Die „große Vorratskammer des deutschen Volkes“, das noch ungerodete Land, versiegt allmählich und dichter und dichter drängt sich auf den alten Fluren die Bevölkerung. Die Hufe, das alte Einheitsgut der Bauernfamilie, wurde mehr und mehr geteilt. In vielen Gegenden war im 15. .Jahrhundert schon die Viertelhufe die Regel. Und daneben bildete sich aus den zahlreichen Schichten der nachgeborenen Bauernsöhne eine Klasse der Häusler oder Kossäten. Der kleine Grundbesitz sicherte der Bauernfamilie vielfach nicht mehr die gewohnte Nahrung. Ein doppelter Weg weist sich zur Ergänzung der allzu dürftigen Nahrung, die dem Bauer sein Besitz spendet.

Zunächst kann der Bauer daran denken, seine und seiner Familie Arbeitskraft während der vielen Stunden zu nutzen, die sie bisher brach gelegen war. Der Bauer ist ja in mancher gewerblicher Arbeit geschickt; ist er doch seit vielen Jahrhunderten gewohnt, sich „in allem selbst fertig zu machen“, im eigenen Hause sein Garn spinnen, sein Linnen weben, seine Kleider und Wäsche nähen zu lassen. Was liegt nun näher, als diese bisher nur im altehrwürdigen Hauswerk zu eigenem Gebrauch genutzte Geschicklichkeit in den Dienst eines Kapitalisten zu stellen, um Geld zu verdienen und so den dürftigen Ertrag der kleinen Wirtschaft zu ergänzen? So entsteht die kapitalistische Hausindustrie auf dem Lande, vor allem die alte, von Bauern und Häuslern im Dienste eines kapitalistischen Verlegers betriebene Spinnerei und Weberei. Aber auch wenn der Bauer seine und seiner Familie Arbeitskraft im Dienste des Verlegers ausnützt, vermag er auf dem klein gewordenen Hofe nicht seine zahlreichen Söhne zu ernähren. Dem erblosen Bauernsohn aber steht kein herrenloses Land im Osten mehr offen. Er zieht in die Stadt. Von Jahr zu Jahr schwillt der Zug der Bauernsöhne, die sich in die Stadt wenden. Das Anschwellen der Zuwanderer seit dem Aufhören der Kolonisation im Osten schreckt die erbgesessenen Handwerker in der Stadt, die im Zuziehenden den Konkurrenten fürchten. Bald klagen die Handwerker:

Wo yez die pawrn sune (Söhne) gewinnen
machens all zu handwercksleuten –
wer will hacken oder reuten?

So beginnen denn ihre Organisationen, die Zünfte, immer mehr und mehr den Zugang zum Gewerbe, zur Meisterschaft, zu erschweren; nicht jeder von den Bauernsöhnen mehr, die stadtwärts ziehen, darf jetzt hoffen, dereinst selbständiger Meister zu werden. Dies hat zweierlei Wirkungen. Einmal hören die Handwerksgesellen vielfach auf, sich als zukünftige Meister zu fühlen, sie werden sich des Gegensatzes zu den Meistern bewusst und es entsteht eine kampflustige Gesellenbewegung. Andererseits wächst aber in den Vorstädten der Stadt die Zahl der Proletarier, denen das Handwerk verschlossen ist, die ihre Arbeitskraft um einen Lohn verkaufen müssen, der ihnen nur das nackte Leben sichert. In Hamburg gelten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts 20 Prozent, in Augsburg 12 bis 15 Prozent der Bevölkerung als Proletarier. Bald nimmt der Kapitalist – der Kaufmann, der Geldverleiher, der durch die Steigerung der städtischen Grundrente reich gewordene städtische Grundbesitzer – dies wahr; er dingt sie als seine Arbeiter. Die kapitalistische Werkstätte entsteht: in den süddeutschen Städten entsteht zuerst die kapitalistische Manufaktur.

Aber das Wachstum der Städte beginnt nun langsam auch auf die alte ländliche Verfassung einzuwirken. Denn nun ist ein großer Markt für landwirtschaftliche Produkte entstanden: die Stadt muss ihren Getreidebedarf und Fleischbedarf bald vom Lande her decken ; die kapitalistische Manufaktur muss Flachs und Wolle auf dem Lande kaufen. Reicher Gewinn winkt den Grundherren, wenn sie imstande sind, den Ertrag ihrer Wirtschaft so zu steigern. dass sie größere Mengen Getreide, Vieh, Flachs, Wolle verkaufen können. Wollen sie das, so brauchen sie aber zweierlei: einmal mehr Land und zweitens mehr Leute, mehr Arbeitskräfte. So beginnen denn die Grundherren das Land der Bauern anzugreifen. Erst hegen sie die uralten Gemeindeländereien ein:

Die Fürsten twingent mit Gewalt
Feld, Steine, Wasser unde wald.

Später aber beginnen sie mit Schlimmerem: sie „legen“ den Bauern, vertreiben ihn mit Weib und Kind von dem ererbten Haus und Hof, wo seit Jahrhunderten seine Ahnen gesessen. So dehnen sie ihr Land aus; bleiben aber weniger Bauern übrig, so müssen sie dann auf dem ausgedehnten Herrenland desto mehr Fronarbeit verrichten. So verwandelt sich die alte Grundherrschaft, die nur der Bedürfnisbefriedigung des Herrn dient, in die moderne Gutsherrschaft, die Waren produziert, landwirtschaftliche Erzeugnisse, die verkauft werden sollen, und die so in die alte feudale Form neuen kapitalistischen Inhalt gießt. Die verjagten und vertriebenen Bauern aber finden wir zunächst auf der Landstraße als Bettler, Räuber, Diebe, gegen die sich vergebens die blutige Strafgesetzgebung des Zeitalters der Carolina wehrt. Allmählich aber zwingt sie die Gesellschaft hinein in die Stadt – dem Verbrechen, der Prostitution, im besten Falle neuer Ausbeutung in die Arme. Denn in der Stadt harrt ihrer der Kapitalist: der Sohn des „gelegten“ Bauers wird dort sein Arbeiter.

Welche Veränderung bedeutet diese ganze Entwicklung, deren Bild wir hier flüchtig skizzierten? An die Stelle der kleinen, volksarmen Städte, die von Handwerkern und handwerksmäßig ihren Handel betreibenden Kaufleuten bewohnt gewesen waren, stellt die frühkapitalistische Entwicklung die Stadt mit schroffen sozialen Unterschieden: an ihrer Spitze die Kapitalisten – Kaufleute. Geldverleiher, aber auch schon die Kapitalisten, die in der Manufaktur den städtischen Arbeiter, in der Hausindustrie den ländlichen Häusler ausbeuten; dann die Zünfte, fest sich absperrend gegen allen Zuzug von außen; die Handwerksgesellen in stetem Kampfe gegen die Meister; die Arbeiterschaft der städtischen Manufaktur und endlich ein zahlreiches arbeitsloses Lumpenproletariat, das zwischen Arbeit und Verbrechen hin und her schwankt. Aber nicht minder gewaltig ist die Veränderung auf dem Lande: Die Hausindustrie bringt das Land der Stadt näher, der Bergmann und der Weber bringt den seit so vielen Jahrhunderten in seiner ländlichen Abgeschiedenheit von allen äußeren Kultureinflüssen unberührten Bauer in nahen Zusammenhang mit jener Welt neuen Denkens und neuen Wollens, die die neue Zeit in der Stadt gebiert, und um so gieriger nimmt der Bauer die neuen Werte auf, als die ersten Anfänge gutherrschaftlicher Entwicklung ihn, dessen Ahnen noch im 13. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 14. so glückliche Zeiten gesehen, den Druck des bisherigen Grundherrn stärker empflnden lassen, als der Grundherr da und dort schon an sein Gemeindeland greift, seine Abgaben und Fronen zu vermehren trachtet. Welche ungeheure Revolution ist es, die die frühkapitalistische Entwicklung in Stadt und Land hervorruft!

Aber diese ganze Umwälzung wird noch bedeutsamer dadurch, dass sie nicht nur unmittelbar die sozialen Verhältnisse in Stadt und Land ändert, sondern auch mittelbar, indem sie den neuen modernen Staat erzeugt. Das Gemeinwesen des Mittelalters beruht auf dem Lehensverband. Der mit dem Grafenamte Belehnte vererbt es auf seinen Sohn. Die Einkünfte des Grafen aber – der Grafenschatz vor allem, den die Bauern entrichten – kommen dem Grafen selbst zugute, nicht etwa dem Reiche. Der Graf ist verpflichtet, auf dem Reichstag zu erscheinen und an der Reichsheerfahrt teilzunehmen; weiter reicht seine Pflicht nicht. Nicht ein Verwaltungsbeamter ist er, sondern als unverantwortlicher Vizekönig haust er in seinem Sprengel. Wie hätte es auch anders sein können in einer Zeit, die keine Verkehrsmittel, keinen Nachrichtendienst kannte, kein anderes Heer als das Lehensheer, kein anderes Entgelt für Reichsdienste als Belehnung mit Reichsgut? Dass das öffentliche Amt zum Lehen geworden, hat die Einheit des alten Reiches gesprengt. Die Fürsten sorgten zunächst dafür, dass sie in ihrem Gebiet die wichtigsten Gewalten vereinigten: keiner sollte in des Fürsten Land die gräfliche Gewalt haben als er; keiner Lehensherr sein über die im Lande sitzenden Ritter, keiner Dienstherr über die Ministerialen im Lande, keiner Grundherr über die Bauern als er. So vereinigen sich die so verschiedenartigen Rechte in einer Person zur Landesherrschaft. Und allmählich wird der verschiedene Ursprung aller der verschiedenen Befugnisse des Landesherrn vergessen: es ersteht aus ihnen allen ein einheitliches Recht über alle im Lande sesshaften Ritter, Bürger, Bauern, die Landesherrschaft wird zur Landeshoheit, das Reich zerfällt in eine große Anzahl von Territorien. Diese Territorien nun sind es, die die neue Entwicklung der Warenproduktion zu nutzen beginnen; denn sie gibt dem Staat ganz andere Machtmittel, als sie das Zeitalter der Grundherrschaft gekannt. Die Warenproduktion erst macht eine Verwaltung und ein Heerwesen möglich, das nicht mehr auf dem Lehensband beruht. Der Reichtum des Mittelalters hatte in Gebrauchswerten – in Korn, Wolle, Flachs und Vieh – bestanden. Die Entwicklung der Warenproduktion bringt in jedermanns Hände Geld: Geld vor allem in die Hände des städtischen Warenproduzenten, Geld aber auch schon in die Hände des Gutsherrn und Bauern. Der Landesherr kann an diesem neuen Reichtum Anteil haben durch die Steuer, die einen beträchtlichen Teil des Geldeinkommens aller Klassen in seine Kasse zusammenfließen lässt. Und diese Steuer wird ihm nun zum vorzüglichsten Machtmittel: Mit Geld besoldet er einen Beamten, dessen Auftrag allzeit widerrufen werden kann und der dem neuen Landesherrn darum ganz anders zu Willen ist als der Graf einst dem Reich, das ihm das Grafenamt zu erblichem Lehen gegeben; das Geld macht es ihm möglich, um Sold Proletarier und Bauernsöhne für sein Heer anzuwerben und, an der Spitze eines Söldnerheeres stehend, sich von der Lehensfolge des alten ritterlichen Heeres völlig unabhängig zu machen. Für die Entwicklung der nationalen Kulturgemeinschaft wurde aber auch der moderne Staat von größter Bedeutung: Er hat zunächst eine Klasse geschaffen, die eine geistige Arbeitskraft um Geldlohn verkaufte: die Bürokratie, das neue Beamtentum; er hat durch Errichtung des Söldnerheeres gleichzeitig die alte herrschende Klasse der Nation, das Rittertum, in der Wurzel ihres Seins getroffen. All dies konnte er auf der Grundlage seines Steuerwesens, das sich auf der Geldwirtschaft aufgebaut, die ihrerseits wieder eine Erscheinung der sich verbreitenden Warenproduktion ist, die, nach einem Worte von Marx, als kapitalistische Warenproduktion immer mehr und mehr allgemeine Form gesellschaftlicher Produktion wird. [1]

Für das Rittertum aber bedeutet die Entwicklung der Söldnerheere natürlich eine ungeheure Katastrophe. Das Sinken der Rente in der Zeit der Kolonisation hatte das Rittertum wirtschaftlich geschädigt; die Entwicklung der Landeshoheit hatte es politisch unter die Fürsten gebeugt; die Entwicklung des Söldnerheeres nahm ihm nun auch seine militärische Macht; mit all dem sinkt auch die Bedeutung der Ritterschaft für die nationale Kulturgemeinschaft: im selben Masse aber, wie die Bedeutung des Rittertums sinkt, steigt die Zahl und die Wohlhabenheit des städtischen Bürgertums. In seine Hände fällt nun die kulturelle Führung Deutschlands.

Die Wurzel der ritterlichen Kultur war die Müße der durch die Ausbeutung der Bauern von der Not der Arbeit befreiten Ritterschaft. Die Kultur des Bürgertums dagegen hat gerade in der Arbeit des Bürgertums ihre Wurzel. So trägt sie denn von Anfang an auch einen wesentlich anderen Charakter. Nicht höfische Sitte ist ihr Element, sondern zunächst jenes Wissen und Können, das der Kaufmann, der Handwerker für seinen Erwerb braucht. So wird es zunächst jetzt zum ersten Erfordernis höherer Bildung, lesen, schreiben, rechnen zu können. Dem Rittertum waren diese Künste fremd gewesen. Selbst Wolfram von Eschenbach gesteht:

Swaz an den buochen stêt geschriben
Des bin ich künstelôs beliben.

Es ist schon ungewöhnlich, wenn einem Ritter nachgerühmt werden kann:

ein Ritter so geleret was
daz er an den buchen las.

Die Bürger aber können diese Künste nicht entbehren. So setzt mit der bürgerlichen Entwicklung zugleich die Entwicklung des Schulwesens ein. Höhere Schulen werden gegründet, in denen die Schüler der städtischen Kaufleute nicht nur lesen und schreiben, sondern auch Latein lernen, das ja noch überall die Verkehrssprache war, wo über die örtliche Mundart hinaus ein Verkehr vermittelt werden sollte, die Sprache der Urkunden wie der Handelskorrespondenz; sie machten die Söhne der städtischen Geschlechter fähig, den weit ausgedehnten Handel zu treiben, aber auch fähig, die Stadt zu verwalten und mit den Kanzleien der Fürsten allerwärts in Verkehr zu treten. Gleichzeitig aber entstehen deutsche Schreibschulen, wo die Kinder der Handwerker deutsch lesen und schreiben lernen.

Die Kunst des Lesens wird nun zur Grundlage der höheren geistigen Kultur. Schon vor Erfindung der Buchdruckerkunst entstehen kapitalistische Schreibstuben, in denen Lohnschreiber die alten Handschriften vervielfältigen. Im 15. Jahrhundert gab es schon Schreibstuben, wo die Handschriften massenhaft gewerbsmäßig abgeschrieben wurden. Sie waren teils genossenschaftlich organisiert wie die Schreibstuben der „Brüder vom gemeinsamen Leben“, teils kapitalistisch wie die Schreibstuben in Hagenau, die für den Verleger Diepold Lauber arbeiteten, der bereits seine Verlagskataloge in einem großen Teil Deutschlands verbreitete. [2] Die Buchdruckerkunst ermöglichte dann billige Herstellung des Buches, das jetzt seinen Weg in breitere Massen finden kann. Luthers Bibelübersetzung hat nur anderthalb Gulden gekostet. Der billige Buchdruck macht es aber auch möglich, durch das Plakat und durch die billige, vielfach mit dem Holzschnitt verzierte Flugschrift auf weite Massen zu wirken.

Die Zeit, da das Bürgertum noch wenig differenziert war, Handwerker und Kaufleute noch eine geringe kulturelle Kluft schied, sieht auch die Anfänge bürgerhcher Kunst und Literatur. Die Dichtung steigt von den Ritterburgen hinab und wird im Meistersang unter Handwerkern heimisch. Die Kämpfe der kleinen bürgerlichen Welt spiegelt die Satire wieder, die mit den Anfängen des bürgerlichen Dramas eng zusammenhängt. Das Handwerk vermag sich bald zum Kunsthandwerk, schließlich zu wirklicher Kunst auszuweiten. Diese ganze geistige Kultur ist ja dürftiger, schlichter als die ritterliche gewesen: aber dafür ist sie nicht auf die herrschende Klasse der Ritter beschränkt, sondern Eigentum der breiteren Schichten städtischer Bevölkerung geworden.

Aber wie die kapitalistische Entwicklung das sozial einheitliche Bürgertum des Zeitalters der einfachen Warenproduktion sehr bald scharf schied in die Klassen der Kapitalisten, der Handwerksmeister, der Handwerksgesellen, der kapitalistischen Lohnarbeiter und des Lumpenproletariats, so differenziert sich auch die bürgerliche Kultur immer mehr. Das höhere Bürgertum schafft sich eine höhere Kultur. Die Kultur der damals höchst entwickelten Nation, der Italiener, beginnt auf die oberen Schichten des deutschen Bürgertums einzuwirken; Renaissance und Humanismus dringen in Deutschland ein. Das kapitalistisch entwickelte Italien hatte in den Kapitalisten und in den dort vom bereits hochentwickelten modernen Staate geschaffenen höfischen und bürokratischen Schichten die hohe Kultur des klassischen Altertums wiedererstehen lassen. Diese Kultur beginnt nun auf die obere Schichte der bürgerlichen Welt auch in Deutschland einzuwirken. Die Lateinschule, die Schule des wohlhabenden Bürgertums, wurde zur Mittlerin der höheren Kultur. Die neue Kunst Italiens beginnt die Kunst dieser bürgerlichen Schichte zu beeinflussen. Die humanistische Wissenschaft, losgelöst von aller Überlieferung des Mittelalters, wird auch in Deutschland zum Eigentum der wohlhabenden bürgerlichen Kreise. Neben dieser höheren Kultur, die die obere Schichte des Bürgertums aufnimmt, verschwindet die dürftige Kultur des Handwerks: Der Unterschied zwischenGebildeten“ und „Ungebildeten“, zwischen denen, die an der neuen, von italienischem Boden nach Deutschland verpflanzten Kultur Anteil haben, und jenen, die die harte körperliche Arbeit und die wirtschaftliche Dürftigkeit von dieser Kultur ausschliesst, entsteht innerhalb der Stadt.

Es ist nicht unsere Aufgabe, diese neue Kultur des deutschen Bürgertums zu schildern. Was uns hier interessiert, ist allein, wie diese Kultur zu einer Klammer wurde, die die deutsche Nation zusammenschloss. Die Warenproduktion brachte die Menschen einander näher. Der Kaufmann zog von Stadt zu Stadt, um seine Waren feilzubieten. Aber auch den Handwerker finden wir bald auf fremden Messen: der Kölner Weber verkauft auf der Frankfurter Messe sein Gewebe. Der Handwerksgeselle durchwandert große Teile Deutschlands. Den Söldner wirft wechselndes Kriegsschicksal bald dahin, bald dorthin. Auch beginnt schon der Kapitalismus zu zeigen, wie gewaltig und schnell er die Menschen örtlich umzuschichten weiß: Das Aufblühen kapitalistischen Bergbaues bevölkert in wenigen Jahren die neu erschlossenen Bergreviere mit einer zusammengewürfelten Bevölkerung aus vieler Herren Länder. Aber auch der Bauer kommt in engeren Verkehr mit den Bürgern der Stadt: Er besucht den städtischen Markt, er verkauft dem Bürger einen Teil seines Arbeitsertrages, er kennt den städtischen Kapitalisten auch schon als Geldverleiher, er ist als Hausindustrieller im Dienste städtischer Verleger beschäftigt. So wirkt alles, was in der Stadt sich ereignet, in ganz anderer Weise als früher auf ihn ein.

Aber wirksamer noch als diese gleichsam unmittelbar körperlichen Beziehungen werden die unsichtbaren geistigen Bande, die die Deutschen, und vor allem das deutsche Bürgertum, allerwärts verknüpfen. Die neu entstehende deutsche Literatur wirkt auf die großen Massen ein, die in den „deutschen Schulen’“ das Lesen erlernt haben. Wie wäre die große und schnelle Wandlung der Geister in der Reformation möglich gewesen ohne die ungeheure Macht, die das Buch, das billige Pamphlet auf die breiten städtischen Massen und mittelbar selbst auf einen Teil des Landvolkes geübt! Dazu kommt aber noch, dass der neue Staat zunächst für seine Zwecke einen regelmäßigen Postverkehr entwickelt, den er bald auch dem Publikum zur Verfügung stellt: Nun erst wird ein ausgedehnter und regelmässiger Briefverkehr möglich, nun entstehen die ersten Anfänge des deutschen Zeitungswesens. Im 16. Jahrhundert finden wir in den größeren deutschen Städten schon Agenten, die Nachrichten aus aller Welt empfangen und brieflich weiter vertreiben; nach Erfindung der Buchdruckerkunst werden diese Nachrichten durch den Druck vervielfältigt, werden dadurch billiger und können daher in weitere Volksschichten dringen. Aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hören wir, dass solche gedruckte Nachrichtensammlungen schon regelmäßig halbjährig, bald auch monatlich erscheinen. So werden große Teile des Volkes aus der engen örtlichen Abgeschiedenheit herausgerissen und durch Buch und Flugschrift, durch Brief und Zeitung in engeren Verkehr mit den anderen Landesteilen gebracht. [3]

Wie der enge Verkehr der Ritterschaft in früheren Jahrhunderten die Tendenz zu einer Vereinheitlichung der deutschen Sprache erzeugt hatte, so musste der noch unvergleichlich engere Verkehr im Zeitalter der Warenproduktion und des modernen Staates neuerlich und mit unvergleichlich größerer Kraft diese Tendenz hervorbringen. Es ist die Überwindung der örtlichen Schranken, welche die neuhochdeutsche Einheitssprache geboren hat. Sie schließt nicht an die mittelhochdeutsche Hofsprache an, die mit dem wirtschaftlichen, politischen und militärischen Verfall des Rittertums vergessen worden war. Hatte die Blütezeit der ritterlichen Literatur die Tendenz zu einer einheitlichen deutschen Hofsprache deutlich sehen lassen, so sahen die Jahrhunderte des Verfalls des Rittertums wieder schärfere Differenzierung der deutschen Mundarten. Erst die Entwicklung der Warenproduktion hat eine ganz neue Tendenz zur Vereinheitlichung der Sprache erzeugt. Für die Kanzleien der Staaten und Städte, die miteinander in Verkehr traten, für die Kaufleute, deren Handelskorrespondenz, die weitesten Teile deutschen Landes verknüpfte, für die Schriftsteller, die durch ihr Schriftwerk auf die Deutschen über alle örtlichen und Stammesgrenzen hinweg wirken wollten, war die mundartliche Zersplitterung der Deutschen ein schweres Hindernis. Darauf nicht zum geringsten beruhte die Lebendigkeit der lateinischen Sprache, die als ein Ersatz für die deutsche Einheitssprache erschien.

Aber je bürgerlicher die deutsche Kultur wurde, je breitere Massen an ihr teilnehmen wollten, desto misslicher war es, die fremde lateinische Sprache als einziges Verbindungsmittel der deutschen Städte und Territorien zu haben. Mit dem stärkeren Hervortreten des Bürgertums tritt auch die deutsche Sprache immer stärker hervor: so erobert sie sich im 13. Jahrhundert das Rechtsleben. Von den städtischen Kanzleien übernehmen die Fürsten die deutsche Kanzleisprache und deutsche Urkunden. Der politische Agitator brauchte die deutsche Sprache, wenn er auf breitere Massen wirken wollte. So sagt Ulrich von Hütten:

„Latein ich vor geschrieben hab,
Das war eim Jeden nit bekannt;
Jetzt schrei ich an das Vaterland,
Teutsch Nation in ihrer Sprach,
Zu bringen diesen Dingen Rach.“

Der deutsche kaufmännische Brief und die Sprache der deutschen Kanzleien sind zunächst die Träger der Einheitsbewegung in der Sprache. Insbesondere musste das Streben, die mundartlichen Verschiedenheiten abzuschleifen, stark werden in den Kanzleien der größeren Staaten, die Gebiete mit verschiedenen, einander kaum noch verständlichen Mundarten vereinigten und die mit deutschen Städten und Staaten in ganz verschiedenen Stammesgebieten in Verkehr treten mussten. So haben die Luxemburger, die ja gleichzeitig Nieder-, Mittel- und Oberdeutsche beherrschten, eine von jeder besonderen Mundart abweichende Kanzleisprache entwickelt. 1330 verlässt die Trierer erzbischöfliche Kanzlei die reine heimische Mundart. Mitte des Jahrhunderts tut die Kanzlei des Magdeburger Erzbischofs dasselbe. Der Habsburger Friedrich III. sucht seiner Kanzlei die mundartlichen Eigentümlichkeiten abzustreifen. Seit Maximilian I. sprechen die kaiserlichen Kanzleiurkunden dieselbe Sprache, in welchen Teilen Deutschlands immer sie entstanden sein mögen. Im 15. Jahrhundert nähert die kursächsische Kanzlei ihre Sprache der kaiserlichen. [4] Die Kanzleien der größeren Territorien entwickeln zuerst eine künstliche Schriftsprache, die dann bereitwillig von den deutschen Schriftstellern übernommen wird, die die Deutschen aller Länder beeinflussen wollen. So schreibt Martin Luther: „Ich habe keine gewisse, sonderlich eigene Sprache im Deutschen, sondern gebrauche der gemeinen deutschen Sprache, dass mich beide, Ober- und Niederländer, verstehen mögen; ich rede nach der sächsischen Kanzlei, welcher nachfolgen alle Fürsten und Könige in Deutschland. Alle Reichsstädte, Fürsten, Höfe schreiben nach der sächsischen und unseres Fürsten Kanzlei; darum ist es auch die gemeinste deutsche Sprache.“ Die Sprache Luthers wird nun zunächst zur Sprache der Schriftsteller. An der Hand der Lutherschen Bibelübersetzung entwickeln die ersten deutschen Grammatiker die Gesetze der deutschen Sprache. So führt eine der ersten deutschen Sprachlehren den Titel: Grammatica Germanicae linguae M. Johannis Claji Hirtzbergensis: Ex Bibliis Lutheri Germanicis et aliis eius libris collecta.“ (Leipzig 1578) Diese Grammatik wurde in den Schulen verwendet und wurde zur Grundlage der späteren Lehrbücher der deutschen Sprache. [5] Die Sprache Luthers wurde zur Sprache der Kanzleien bald auch in den anderen deutschen Ländern, zum Beispiel 1560 in Schleswig-Holstein, Sie wurde zur Sprache der Schulen, zur Sprache der Schriftsteller, zur Sprache der kirchlichen Predigt. Seit 1600 etwa wird in ganz Niederdeutschland neuhochdeutsch gepredigt. Seit etwa derselben Zeit ist der Sieg des Neuhochdeutschen im gesamten deutschen Schrifttum entschieden [6] und diese Sprache der Schule, der Kanzlei, der Literatur, des kaufmännischen Briefes musste notwendig schließlich zur Einheitssprache zunächst der „Gebildeten’“ der deutschen Nation werden.

Schon die Tatsache, dass die deutsche Einheitssprache äußerlich anknüpft an die Sprache der Lutherschen Bibelübersetzung, deutet darauf hin, wie alle die durch die Warenproduktion und den modernen Staat geschaffenen Kräfte, die zum Zusammenschluss der Deutschen zu einer Nation hindrängten, zum Entstehen einer Gemeinschaft, in deren jedem einzelnen Glied gleichartige und in stetem gegenseitigen Verkehr miteinander erlebte Kultureinwirkung einen gemeinsamen Nationalcharakter erzeugte – wie alle diese Kräfte zum erstenmal sich in vollster Entfaltung zeigten in dem großen Ereignis der Reformation.

Das Land, das zuerst eine reiche kapitalistische Entwicklung erlebt, das zuerst den modernen Staat geschaffen und in dem Kapitalismus und Staat die moderne Oberschichte der humanistisch Gebildeten erzeugt hatten, war Italien. Italien erlebt darum auch zuerst den ersten großen Abfall vom Christentum – nicht etwa nur vom Katholizismus, sondern vom Christentum überhaupt. Das Christentum, wie es das Mittelalter von Generation zu Generation allmählich ausgebildet hatte, war so recht der Glaube des an seinen Boden gefesselten, von aller Beziehung zur weiten Welt ausgeschlossenen Bauern gewesen. Dem in die Überlieferung verstrickten Bauer konnte auch zunächst ein Zweifel an seiner Wahrheit nicht entstehen. Anders den neuen Menschen der kapitalistischen Gesellschaft Italiens. Zu ihnen drang lebendig die Kunde von anderen Religionen – von Byzantinern und Mohammedanern. Sie durchforschten wieder die Schriften der klassischen Philosophen des Altertums. So erstand bei ihnen zuerst der Zweifel am Altüberlieferten, so wurde das Christentum zu einer Lehre, die es sich gefallen lassen musste, mit anderen Religionen und philosophischen Systemen verglichen, auf ihren Wahrheitswert geprüft zu werden. Diesen neuen Menschen, vor deren Augen sich in unglaublich kurzer Zeit wirtschaftliche und politische Revolutionen vollzogen, die von Tag zu Tag alles niederrissen, was gewesen, und eine neue Welt erstehen Hessen, war das Alte, Überlieferte kein Heiliges mehr, die konnten es wagen, an alles das Maß der Vernunft, ihrer Vernunft zu legen. Was konnte ihnen, die mit jugendlichem Ungestüm erforschen, erraten, erdenken wollten, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, das überlieferte Weltbild der christlichen Glaubenslehre, was ihnen, die, vom Ertrage ungeheuerlicher Ausbeutung zehrend, in ungezügeltem Genuss aller Kulturgüter schwelgten, die überlieferte Sittlichkeit des Christentums bedeuten? So hat es, seit das Christentum das Abendland erobert, niemals eine im Denken und in der Lebensweise weniger christliche Gesellschaft gegeben als die Fürsten und Höfe, die reichen Kapitalisten, die Gelehrten, Künstler, Dichter des Italien der Renaissance. Und trotzdem hat Italien den Katholizismus als Organisation nicht angegriffen. Aus begreiflichen Gründen! Ihm war der katholische Glaube eines jener Ausbeutungsinstrumente, die allein seine hohe wirtschaftliche und geistige Kultur möglich machten. Wie wäre die Pracht am Hofe eines Leo X. möglich gewesen, wenn nicht die christlichen Völker des Abendlandes ihre Millionen nach Rom geschickt hätten um ihres Seelenheiles willen? Wie hätte man die maßlose Ausbeutung der geknechteten Völker in den italienischen Kolonien am Mittelmeere gerechtfertigt, wenn nicht mit der Notwendigkeit der Herrschaft der Christen über Mohammedaner und Heiden? Ja womit hätte man das eigene politisch unterdrückte, wirtschaftlich ausgebeutete Volk in Italien selbst verhindert, gegen seine Unterdrücker sich zu empören, wenn nicht mit der frommen Lehre christlicher Demut?

Ganz anders in Deutschland. Die wirtschaftliche und politische Entwicklung Deutschlands war hinter der Italiens weit zurückgeblieben. So war auch die geistige Revolution in Deutschland unvergleichlich weniger stark als in Italien. Was konnten auch die glänzendsten deutschen Höfe der Pracht des Medicäer-Papstes, den Herrlichkeiten des medicäischen Florenz, dem Glanz Venedigs gegenüberstellen? Und wie das Deutschland des 15. und 16. Jahrhunderts nicht jene reiche, von aller überkommenen Überlieferung losgelöste kapitalistisch-höfische Oberschichte geschaffen hat, die die Trägerin der Kultur der italienischen Renaissance gewesen ist, so hat Deutschland auch nie einen vollen Bruch mit den überlieferten christlichen Lehren erlebt. Aber freilich, wenn Deutschland keinen heidnischen Humanismus erzeugen konnte, so hatte doch auch hier die frühkapitalistische Entwicklung hinreichend stark alle überkommenen Verhältnisse umgewälzt, um zu einer Revolution zu treiben: der städtische Warenproduzent hatte auch hier es lernen müssen, durch eigenes Wollen sein Schicksal zu zimmern; auch sein Gesichtskreis hatte sich weit ausgedehnt, auch er die örtliche Beschränktheit überwunden: er hatte Umwälzungen des gesamten gesellschaftlichen Seins erlebt, die ihn aus den Ketten der Überlieferung rissen. So war ihm die überlieferte christliche Lehre kein Unantastbares mehr, an dem sich seine Vernunft nicht hätte versuchen dürfen. Und wie musste beim engen Zusammenhang, in den die neuen Mittel geistigen Verkehrs doch schon weite Volksschichten gebracht, jede Kritik des Bestehenden Widerhall finden in den gesellschaftlichen Schichten, die die Opfer des neuen Umwälzungsprozesses waren: unter den Zunfthandwerkern, die der Kapitalist bedrückte; unter den Handwerksgesellen und Arbeitern, die schon im sozialen Kampfe standen ; unter den breiten Massen des städtischen Proletariats; unter der Ritterschaft auf dem Lande, der die neue Ordnung der Dinge in derselben Zeit ihren alten Glanz nahm, in der der humanistische Einfluss sie für neue Gedanken empfänglich machte, und selbst in breiten bäuerlichen Schichten, die der engere Verkehr mit der Stadt allem Neuen empfänglicher gemacht und die den Druck des zum Warenproduzenten werdenden Grundherrn härter empfanden als ihre Ahnen seit Jahrhunderten. Und wie mussten alle diese Schichten die Nachrichten aufnehmen, die die Literatur, die Pilger, die Kaufleute, die Söldner aus Italien brachten von dem unchristlichen, prunkvollen und lasterhaften Treiben am Hofe der Päpste! Und die Deutschen wussten es sehr wohl, woher jene Reichtümer kamen, die die Pracht und den Glanz Roms möglich machten.

„Seht da,“ schreibt Ulrich von Hütten, „seht da die große Scheune des Erdkreises, darin zusammengeschleppt wird, was in allen Ländern geraubt und geplündert worden ist, und in der Mitte jener unersättliche Kornwurm, der ungeheure Haufen Frucht verschlingt, umgeben von seinen zahlreichen Mitfressern, die uns zuerst das Blut aussaugen, dann das Fleisch abgenagt haben, jetzt aber an das Mark gekommen sind, uns das innerste Gebein zermalmen und zerbrechen, was noch übrig ist.“

Hier in Deutschland konnte die Erschütterung aller überlieferten Glaubenslehre nicht verenden in einer heidnischen Gleichgültigkeit gegenüber der Religion, hier musste sie zum offenen Abfall vom Papsttum treiben; denn wenn das heidnische Italien katholisch bleiben musste, weil es den Katholizismus nicht als ein Werkzeug der Ausbeutung der Völker entbehren konnte, so musste in Deutschland die revolutionäre Stimmung zum offenen Abfall vom Papsttum treiben, da Deutschland es nicht zum geringen Teile war, das die Kosten des italienischen Reichtums trug. Das wirtschaftliche Interesse Deutschlands hat die soziale Umwälzung im Abfall vom Katholizismus enden lassen, wie das entgegengesetzte wirtschaftliche Interesse Italiens die dort viel stärkere Revolution der Geister verhindert hat, diese Konsequenz zu ziehen.

So sah sich Deutschland plötzlich vor eine einzige große Frage gestellt, die das ganze Volk, soweit es an der Kultur der Nation einen Anteil hatte, tief erschüttern musste. Und nun mussten alle die Kräfte lebendig werden, die ein Band der Gemeinschaft, des Verkehres, der Wechselwirkung um ganz Deutschland schlangen! Jetzt nimmt die deutsche Bücherproduktion riesig schnell vergrößerten Umfang an; jetzt dringt das gedruckte Flugblatt in weite Kreise; jetzt zieht der religiöse, politische, soziale Agitator von Land zu Land. Jetzt wird die höhere Schule zum Werkzeug des religiösen Kampfes und wird organisiert und verbreitert auf der einen Seite von den Reformatoren, auf der anderen von den Jesuiten. Wie oft hat man beklagt, die Reformation habe die Nation gespalten in Katholiken und Evangelische, habe ihre politische Zerrissenheit gefördert! Und doch, in den Stürmen der Reformation sind die Deutschen erst recht zu einer Kulturgemeinschaft geworden! Zum ersten Mal zeigte sich damals auf deutschem Boden die ungeheure kulturelle Bedeutung der Parteibildung, die die Parteien zwingt, um jeden Mann zu kämpfen, auf jeden Mann mit allen Mittel einzuwirken, und die so, indem von beiden Seiten auf jeden Mann gleichartiger Kultureinfluss wirkt, die nationale Gemeinschaft erst erzeugt! Die kapitalistische Warenproduktion und die Entwicklung des modernen Staates hat die Mittel geschaffen, weite Schichten durch unmittelbaren und durch mittelbaren geistigen Verkehr zu einer Kulturgemeinschaft zusammenzuschließen; aber damit diese Mittel auch wirklich voll ausgenützt werden, damit die Kultur der Nation auf jeden deutschen Mann einzuwirken. Jeden deutschen Mann zu beeinflussen, um jeden deutschen Mann zu kämpfen gezwungen werde, dazu bedurfte es eines großen Kampfes, der die ganze Nation aufrüttelte. Nicht in dem Abfall vom italienischen Papsttum, nicht in der Verselbstständigung der deutschen Kirche, auch nicht darin, dass unter den deutschen Protestanten die Reformation das Bewusstsein von dem Gegensatz deutschen und fremden Wesens gesteigert hat, liegt die Bedeutung der Reformation für das Werden der Nation, sondern darin, dass der große Kampf – gerade weil es ein Kampf war, der die Deutschen in Parteien zerriss! – jede der Parteien zwang, alle durch die neuen Verhältnisse geschaffenen Kulturmittel auszunützen und so in ganz anderem Sinne eine deutsche Kulturgemeinschaft zu schaffen, als sie jemals vorher bestanden hat. Was könnte diese Tatsache deutlicher illustrieren, als dass die Reformation es war, die der Tendenz zur Schaffung einer deutschen Einheitssprache zum Siege verhalf! Dass die Reformation es war, die zuerst Katholiken und Protestanten gezwungen hat, das Schulwesen – freilich zunächst nur das höhere Schulwesen – auszubauen! Dass die Reformation es war, die beide Parteien gezwungen hat, durch den Redner auf breite Massen zu wirken! Dass die Reformation es war, die beide Parteien zwang, des Buches und der Flugschrift als neuer Kampfmittel sich zu bedienen!

Aber freilich, gerade die Reformation zeigt auch, dass es keineswegs das gesamte Volk war, das so zur nationa1en Ku1turgemeinschaft wurde. Die soziale Kritik, zunächst in der Form der Kritik der überlieferten Religion, drang freilich in weite Schichten. Aber die breiten Massen konnten das Wort der humanistisch gebildeten Reformatoren nicht verstehen. So musste die Reformation in den Händen der Bauern, in den Händen der städtischen Proletarier und kleinen Handwerker und der Hausindustriellen auf dem Lande ein anderes werden, als die Reformatoren gedacht. Als aber diese Klassen nun in dieser großen Umwälzung ihre Revolution machen wollten, da mussten sich die Wortführer der Reformation gegen sie wenden. Niemand hat gegen die aufständischen Bauern grausamer gewütet als Martin Luther. „Steche, schlage, würge hier, wer da kann!“ schrieb er, als die Bauern sich gegen ihre Peiniger erhoben.

„Bleibst du drunter tot, wohl dir, seligeren Todes kannst du nimmermehr überkommen. Denn du stirbst im Gehorsam göttlichen Wortes und im Dienste der Liebe, den Nächsten zu retten.“

Und noch später rühmte er sich:

„Ich, Martin Luther, habe im Aufruhr alle Bauern erschlagen, denn ich habe sie totschlagen heißen: all ihr Blut ist auf meinem Hals. Aber ich weise es auf unseren Herrn Gott; der hat mir das zu reden befohlen.“

Und nicht minder grausam und verständnislos ist Luther den Sozialrevolutionären und kommunistischen Sekten entgegengetreten, in denen das städtische Proletariat und die kleinen Handwerker, wie die Bergleute und Weber auf dem Lande ihre Revolution machen wollten! Er war der Mann der Fürsten, die die Reformation benutzten, das reiche Kirchengut ihren Zwecken dienstbar zu machen und der bürgerlichen Oberschichte, zu der er durch seine Bildung gehörte. Welch weiter Kulturabstand schied ihn von den Bauern und Proletariern! Diese Oberschichte war es auch, deren Kultur die Reformation verbreitete und vereinte. Für sie schrieben Reformatoren und Jesuiten ihre Bücher, für sie gründeten beide ihre Schulen, ihr Kulturleben spiegelte sich im Geistesleben der neuen evangelischen Kirche wie des Katholizismus des Tridentinums und des Jesuitenordens. Diese enge Begrenztheit allein, die nur eine verhältnismäßig doch noch immer schmale Schichte zur Trägerin der nationalen Kultur machte, hat die Gegenreformation möglich gemacht. Wie hätte es Jemals möglich werden können, dass der Fürst das Bekenntnis seiner Untertanen bestimmte, wäre der Streit um das Bekenntnis wirklich Sache des gesamten Volkes, Sache vor allem der breiten Masse der Bauern gewesen!

Deutlich zeigt dies die Grenze der bürgerlichen Kulturgemeinschaft. Sie umfasst die Höflinge am Fürstenhof und den höfischen Adel, die Beamtenschaft der Kanzleien, das wohlhabende Bürgertum und die neuerstandenen freien Berufe in der Stadt. Ausgeschlossen von ihr bleibt nicht nur der Proletarier, sondern auch der Bauer, der grobe, unwissende, in harter Arbeit aufgehende Bauer; der Bauer, von dem der bürgerliche Schwank spottet:

Der Bauer ist an Ochsen statt.
Nur dass er keine Hörner hat.

Die bürgerliche Entwicklung hat gewiss einen weiteren Kreis in die Kulturgemeinschaft einbezogen als die ritterliche; aber noch immer spaltet sie das Volk in zwei große Teile, von denen nur der eine im Besitz der nationalen Kultur ist, durch gleichartigen Kultureinfluss zu einer nationalen Gemeinschaft zusammengeschlossen wird, während die arbeitenden Klassen, auf deren Ausbeutung jene höhere Kultur beruht, von ihr selbst ausgeschlossen sind, von der schaffenden Kraft der Kultur nicht erreicht und daher auch nicht von ihr beeinflusst werden. Sie sprechen die sich immer weiter differenzierenden Mundarten und verstehen einander nicht mehr, während die Gebildeten schon die deutsche Einheitssprache haben; sie eint nicht das Buch und die Flugschrift, denn sie können nicht lesen; sie haben keinen Teil an der Schule und Erziehung der Nation. Sie bilden nicht die Nation, sondern sind noch immer, wie die Bauern der Grundherrschaft, nicht mehr als die Hintersassen der Nation. Ihre Arbeit ist es freilich, die die nationale Kultur allein möglich macht, aber möglich macht nicht für sie. sondern für die Klassen, die sie ausbeuten und unterdrücken.


Fußnoten

1. Marx, Kapital, I., S.132; II., S.13; II., S.87.

2. Steinhausen, Geschichte der deutschen Kultur, Leipzig 1903, S.461.

3. Lamprecht, a.a.O., VI., S.8ff.

4. Behaghel, Geschichte der deutschen Sprache, in Pauls Grundriss, S.682.

5. Herrn Paul, Geschichte der germanischen Philologie, Im Grundriss, S.23.

6. Behaghel, a.a.O., S.673.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008