Otto Bauer

Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie


I. Die Nation


§ 1. Der Nationalcharakter


Die Wissenschaft hat bisher die Nation den Lyrikern, den Feuilletonisten, den Rednern in der Volksversammlung, im Parlament, am Biertisch fast ausschließlich überlassen. In einer Zeit großer nationaler Kämpfe haben wir kaum erst die ersten Ansätze zu einer befriedigenden Theorie des Wesens der Nation. Und doch bedürfen wir einer solchen Theorie. Wirkt doch auf uns alle die nationale Ideologie, die nationale Romantik ein, sind doch unter uns wenige, die auch nur das Wort deutsch auszusprechen vermöchten, ohne dass dabei ein merkwürdiger Gefühlston mitschwingen würde. Wer die nationale Ideologie verstehen und wer sie kritisieren will, kann der Frage nach dem Wesen der Nation nicht ausweichen.

Bagehot sagt, die Nation sei eine Jener vielen Erscheinungen, von denen wir wissen, was sie sind, so lange wir nicht gefragt werden, die wir aber nicht kurz und bündig erklären können. [1] Aber damit kann sich die Wissenschaft nicht begnügen; sie kann auf die Frage nach dem Begriff der Nation nicht verzichten. wenn sie von der Nation sprechen will. Und diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten, wie es flüchtigem Blicke vielleicht scheint. Ist die Nation eine Gemeinschaft von Menschen gleicher Abstammung: Aber die Italiener stammen von Etruskern, Römern, Kelten, Germanen, Griechen und Sarazenen, die heutigen Franzosen von Galliern, Römern, Briten und Germanen, die heutigen Deutschen von Germanen, Kelten und Slaven ab. Ist es die Gemeinschaft der Sprache, die die Menschen zu einer Nation vereint.“ Aber Engländer und Iren, Dänen und Norweger, Serben und Kroaten sprechen dieselbe Sprache und sind darum doch nicht ein Volk; die Juden haben keine gemeinsame Sprache und sind darum doch eine Nation. Ist es das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, das die Nation zusammenschließt? Aber soll der Tiroler Bauer darum kein Deutscher sein, weil er sich der Zusammengehörigkeit mit Ostpreußen und Pommern, Thüringern und Elsässern nie bewusst geworden? Und dann: Was ist es, dessen sich der Deutsche bewusst wird, wenn er sich seines Deutschtums erinnerte? Was macht ihn zur deutschen Nation zugehörig, mit den anderen Deutschen zusammengehörig.? Erst muss doch wohl ein objektives Merkmal der Zusammengehörigkeit da sein, ehe man sich dieser Zusammengehörigkeit bewusst werden kann.

Die Frage der Nation kann nur aufgerollt werden aus dem Begriff des Nationalcharakters. Bringen wir den erstbesten Deutschen in ein fremdes Land, etwa mitten unter Engländer, und er wird sich sofort dessen bewusst: das sind andere Menschen, Menschen mit einer anderen Art zu denken, zu fühlen, Menschen, die auf gleichen äußeren Reiz anders reagieren als die gewohnte deutsche Umgebung. Den Komplex der körperlichen und geistigen Merkmale, der eine Nation von der anderen scheidet, nennen wir vorläufig ihren Nationalcharakter; darüber hinaus haben alle Völker gemeinsame Merkmale, die sie alle uns als Menschen erkennen lassen, und haben andererseits die einzelnen Klassen, Berufe, Individuen jeder Nation individuelle Eigenschaften, Sondermerkmale, die sie voneinander scheiden. Aber dass der Durchschnittsdeutsche vom Durchschnittsengländer verschieden ist, mögen sie auch als Menschen, als Zugehörige derselben Klasse oder desselben Berufes vieles miteinander gemein haben, und dass ein Engländer mit dem anderen in einer Reihe von Merkmalen übereinstimmt, wie sehr sie auch individuelle oder soziale Verschiedenheiten trennen mögen, ist gewiss. Die Nation wird nichts für den, der das leugnen wollte; wird der Engländer, der in Berlin lebt und deutsch sprechen kann, darum ein Deutscher?

Es ist kein Einwand gegen den Begriff des Nationalcharakters, wenn man die Verschiedenheiten der Nationen aus den Verschiedenheiten ihrer Schicksale, ihres Daseinskampfes, ihres gesellschaftlichen Aufbaues erklärt, wenn beispielsweise Kautsky die Hartnäckigkeit und Zähigkeit der Russen daraus zu erklären sucht, dass die Masse des russischen Volkes aus Bauern besteht und der Ackerbau überall schwerfällige, aber zähe und hartnäckige Naturen erzeugt. [2] Denn damit wird das Bestehen eines eigentümlichen russischen Nationalcharakters nicht geleugnet, es werden vielmehr die nationalen Eigentümlichkeiten der Russen zu erklären gesucht.

Dass aber sich viele immer beeilen, die Entstehung des Nationalcharakters zu erklären und sich bei ihm selbst keinen Augenblick beruhigen wollen, dankt der Begriff dem Missbrauche, der mit ihm getrieben worden ist.

Vor allem hat man dem Nationalcharakter mit Unrecht eine Dauerhaftigkeit zugeschrieben, die sich geschichtlich widerlegen lässt; es kann nicht geleugnet werden, dass die Germanen zur Zeit des Tacitus eine Reihe übereinstimmender Charaktermerkmale besaßen, die sie von anderen Völkern, etwa von den Römern derselben Zeit, unterschieden und es kann ebensowenig geleugnet werden, dass die Deutschen unserer Zeit gewisse gemeinsame, von anderen Völkern verschiedene Charakterzüge zeigen, wie immer diese Charakterzüge entstanden sein mögen. Aber darum wird doch kein Unterrichteter leugnen, dass der Deutsche von heute viel mehr mit den anderen Kulturnationen seiner Zeit gemein hat als mit den Germanen des Tacitus.

Der Nationalcharakter ist veränderlich. Charaktergemeinschaft verknüpft die Zugehörigen einer Nation während eines bestimmten Zeitalters, keineswegs aber die Nation unserer Zeit mit ihren Ahnen vor zwei oder drei Jahrtausenden. Wo wir von einem deutschen Nationalcharakter sprechen, meinen wir die gemeinsamen Charaktermerkmale der Deutschen eines bestimmten Jahrhunderts oder Jahrzehnts.

Mit Unrecht hat man oft auch übersehen, dass es neben der nationalen Charaktergemeinschaft eine ganze Reihe anderer Charaktergemeinschaften gibt, von denen die der Klasse und des Berufes die weitaus wichtigsten sind. Der deutsche Arbeiter stimmt in gewissen Merkmalen mit jedem anderen Deutschen überein; das verknüpft die Deutschen zu einer nationalen Charaktergemeinschaft. Aber der deutsche Arbeiter hat mit seinen Klassengenossen aller anderen Nationen gemeinsame Merkmale: das macht ihn zum Gliede der internationalen Charaktergemeinschaft der Klasse. Der deutsche Schriftsetzer hat zweifellos mit den Schriftsetzern aller anderen Völker gewisse gemeinsame Charakterzüge, gehört zu einer internationalen Berufsgemeinschaft.

Es wäre eine müssige Frage, ob etwa die Charaktergemeinschaft der Klasse intensiver ist als die nationale Charaktergemeinschaft oder umgekehrt. Fehlt es doch für die Messung der Intensität solcher Gemeinschaften an jedem objektiven Massstab. [3]

Aber noch mehr ist der Begriff des Nationalcharakters dadurch kompromittiert worden, dass unkritisches Denken gemeint hat, aus dem Nationalcharakter selbst eine bestimmte Handlungsweise einer Nation erklären zu können, wie man etwa glaubte, den schnellen Wechsel der Verfassung in Frankreich damit erklärt zu haben, dass die Franzosen wie ihre gallischen Ahnen nach der Behauptung des Cäsar stets „nach Neuerungen streben“.

Cäsar beobachtete eine Unzahl von Handlungen gallischer Völkerschaften und einzelner Gallier: wie sie ihren Wohnsitz wechseln, ihre Verfassungen ändern, Freundschaften und Bündnisse eingehen und auflösen; in jeder dieser zu bestimmter Zeit an bestimmtem Orte beobachteten konkreten Handlungen erkennt nun der Beobachter etwas, was er schon an früheren Handlungen gesehen, wieder und hebt das all ihrem Handeln Gemeinsame heraus, wenn er sagt: „Sie streben stets nach Neuerungen.“ Es handelt sich also bei diesem Urteil gar nicht um ursächliche Erklärung, sondern um blosse Generalisation, Heraushebung des gemeinsamen Merkmals aus verschiedenen konkreten Einzelhandlungen. Wenn wir den Nationalcharakter beschreiben, so erklären wir damit nicht die Ursachen irgend welcher Handlungen, sondern wir beschreiben nur das, was einer großen Zahl von Handlungen der Nation und der Nationsgenossen gemeinsames Merkmal ist. Nun sieht 19 Jahrhunderte später ein Historiker den schnellen Wechsel der Verfassungsformen in Frankreich und erinnert sich hierbei des Urteils Cäsars. dass die Gallier „stets nach Neuerungen streben“. Hat er damit etwa die Geschichte der französischen Revolution aus dem angeblich von den Galliern ererbten Nationalcharakter der Franzosen erklärt? Keineswegs. Er hat nur festgestellt, dass auch die Handlungen der heutigen Franzosen ein gemeinsames Merkmal zeigen und dass dieses Merkmal dasselbe ist, das Cäsar schon als gemeinsames Merkmal der Handlungen der Gallier seiner Zeit beobachtet hat. Es handelt sich also gar nicht um ursächliche Erklärung, sondern um bloßes Wiedererkennen eines schon früher beobachteten gemeinsamen Merkmals verschiedener Einzelhandlungen. Warum die Gallier nach Neuerungen strebten und warum die Franzosen ihre Verfassungen schnell veränderten, ist damit natürlich nicht erklärt. Der Versuch, eine Handlung aus dem Nationalcharakter zu erklären, beruht auf einem Denkfehler: Er verwandelt ohne jedes Recht die Beobachtung eines gemeinsamen Merkmals an verschiedenen Einzelhandlungen in ein ursächliches Verhältnis.

Desselben Denkfehlers macht sich auch schuldig, wer die Handlungen des einzelnen Individuums aus dem Nationalcharakter seines Volkes „erklären“ zu können glaubt, zum Beispiel also der, der die Denkweise und das Wollen des einzelnen .luden aus dem jüdischen Nationalcharakter „erklärt“. Wenn Werner Sombart meint, die Juden zeichne die besondere Veranlagung für abstraktes Denken, die Gleichgültigkeit gegenüber aller qualitativen Bestimmtheit aus, die sich in der jüdischen Religion ebenso äussere wie in der Denkarbeit des jüdischen Gelehrten, wie in der Schätzung des Geldes als des von aller qualitativen Bestimmtheit entledigten Wertes [4], so könnte nun jemand glauben, er könne die Handlungsweise des Juden Kohn oder des Juden Mayer aus dem so erkannten Nationalcharakter des Juden „erklären“. In Wirklichkeit liegt ganz anderes vor! Sombart hat unzählige Einzelhandlungen einzelner ihm aus der Geschichte oder persönlich bekannter Juden beobachtet und aus ihren Handlungen ein gemeinsames Merkmal hervorgehoben. Wenn wir nun den einzelnen Juden beobachten und auch bei ihm jene besondere Veranlagung für abstraktes Denken wiederfinden, so erklären wir damit nicht die Handlungsweise des einzelnen Juden, sondern wir erkennen in ihr nur jenes Merkmal wieder, das Sombart früher bei den Handlungen anderer Juden beobachtet hat. Woher aber jene Übereinstimmung kommt, darüber ist damit natürlich gar nichts gesagt

Die Nation ist eine relative Charaktergemeinschaft; sie ist eine Charaktergemeinschaft, da bei der großen Masse der Nationsgenossen eines bestimmten Zeitalters eine Reihe übereinstimmender Merkmale beobachtet werden kann, und da, trotzdem alle Nationen eine Anzahl von Merkmalen als Menschen gemeinsam haben, doch eine Reihe von Merkmalen der einzelnen Nation eigentümlich ist, sie von anderen Nationen unterscheidet; sie ist keine absolute, sondern nur eine relative Charaktergemeinschaft, da die einzelnen Nationsgenossen, bei aller Übereinstimmung in den der ganzen Nation gemeinsamen Merkmalen doch überdies individuelle Merkmale (und örthche, Klassen-, Berufsmerkmale) haben, die sie voneinander unterscheiden. Die Nation hat einen Nationalcharakter. Aber dieser Nationalcharakter bedeutet nur eine relative Gemeinsamkeit der Merkmale der Handlungsweise einzelner Individuen, nicht etwa eine Erklärung dieser individuellen Handlungsweisen. Der Nationalcharakter ist keine Erklärung, sondern er ist zu erklären. Mit der Feststellung der Verschiedenheit der Nationalcharaktere hat die Wissenschaft das Problem der Nation nicht gelöst, sondern erst gestellt. Wie jene relative Charaktergemeinschaft entsteht, woher es kommt, dass alle Nationsgenossen bei aller individuellen Verschiedenheit untereinander doch in einer Reihe von Merkmalen übereinstimmen und bei aller körperlichen und geistigen Gleichartigkeit mit anderen Menschen sich doch von den Zugehörigen anderer Nationen unterscheiden, das eben wird die Wissenschaft zu begreifen haben.

Diese Aufgabe der ursächlichen Erklärung jener relativen Gemeinschaft des Charakters der Nationsgenossen wird nun nicht gelöst, sondern umgangen, wenn man die Handlungen einer Nation und ihrer Nationsgenossen aus einem geheimnisvollen Volksgeiste, einer „Volksseele“ erklären will. Der Volksgeist ist eine alte Liebe der Romantiker. In die Wissenschaft hat ihn die historische Rechtsschule eingeführt. Sie lehrt, dass der Volksgeist in den Individuen eine Gemeinschaft der Rechtsüberzeugung erzeugt, welche entweder schon an sich das Recht ist oder doch die Kraft, die das Recht setzt. [5] Später hat man dann nicht nur das Recht, sondern alle Handlungen, alle Schicksale der Nation als die Manifestation, die Verkörperung des Volksgeistes begreifen zu können geglaubt. Ein eigener Volksgeist, eine Volksseele, ist das Substrat, ist die Substanz der Nation, das Beharrende in allem Wechsel, die Einheit in aller individuellen Verschiedenheit, die Individuen sind bloße modi, bloße Erscheinungsweisen dieser geistigen Substanz. [6]

Es ist klar, dass auch dieser nationale Spiritualismus auf einem Denkfehler beruht.

Meine psychischen Erscheinungen, mein Vorstellen. Fühlen. Wollen, sind Gegenstand meiner unmittelbaren Erfahrung. Die rationale Psychologie früherer Zeiten hat sie nun zu Erscheinungen an einem Beharrenden, zu Tätigkeiten eines besonderen Gegenstandes, meiner Seele, gemacht. Die zersetzende Kritik Kants hat aber alles, was die rationale Psychologie von diesem Gegenstande aussagen zu können glaubte, als das Ergebnis eines Trugschlusses erwiesen. Seither haben wir keine rationale Psychologie mehr, die die psychischen Erscheinungen als Erscheinungen der seelischen Substanz begreifen will, sondern nur eine empirische Psychologie, die die durch Erfahrung unmittelbar gegebenen psychischen Erscheinungen des Vorstellens, Fühlens, Wollens beschreibt und in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander zu begreifen sucht.

Sind mir meine eigenen psychischen Erscheinungen durch Erfahrung unmittelbar gegeben, so sind dagegen die psychischen Erscheinungen der anderen erschlossen. Denn ich sehe den anderen nicht vorstellen, fühlen, wollen, sondern nur handeln: reden, gehen und stehen, kämpfen und schlafen. Aber da ich aus meiner eigenen Erfahrung weiß, dass die körperlichen Bewegungen von psychischen Erscheinungen begleitet sind, so schließe ich, dass es bei den anderen Menschen ebenso ist. Die körperlichen Bewegungen der anderen erscheinen mir unvermeidlich als die Tat ihres durch ihr Vorstellen und Fühlen bestimmten Wollens.

Die rationale Psychologie hat nun diese psychischen Erscheinungen der anderen gerade so zum Erzeugnis eines besonderen Gegenstandes gemacht, wie meine eigenen psychischen Erscheinungen zur Tat meiner Seele. Für sie ward es daher zum Problem, wie der Seelengegenstand des einen zum Seelengegenstand des anderen in Beziehung tritt. So hat man entweder individualistisch die empirischen Verhältnisse der Menschen untereinander zu Erscheinungsformen der Wechselbeziehungen der Seele zu anderen gleichartigen einfachen und beharrenden Wiesen gemacht, oder man hat universalistisch eine Gesamtseele konstruiert, eine geistige Totalität, die in der Einzelseele nur in Erscheinung tritt. Ein Nachkomme dieses, in der Einzelseele nur in Erscheinung tretenden Gesamtgeistes ist auch der Volksgeist, die Volksseele des nationalen Spiritualismus.

Wir aber kennen seit Kants Vernunftkritik keine seelische Substanz mehr, als deren Tätigkeit das psychische Geschehen begriffen werden könnte, sondern nur die empirischen psychischen Erscheinungen, die wir in ihrer Abhängigkeit voneinander begreifen. Daher verstehen wir die Beziehungen der Menschen untereinander nicht mehr als die Beziehungen jener einfachen Seelensubstanzen zueinander und ebensowenig als die Erscheinungen der einen Substanz des Weltgeistes, der in den Einzelseelen sich offenbart, sondern unsere Psychologie kennt keine andere Aufgabe mehr als das uns durch unmittelbare Erfahrung gegebene eigene Vorstellen, Fühlen und Wollen und das durch mittelbare Erfahrung gegebene Vorstellen, Fühlen und Wollen der anderen empirisch gegebenen Individuen in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander zu verstehen. Nach Kants Kritik des Seelenbegriffes ist uns der „Volksgeist“ nichts anderes mehr als ein romantisches Gespenst.

An den Handlungsweisen einer größeren Anzahl von Juden fällt mir die Übereinstimmung in irgend einem Merkmale auf. Der nationale Spiritualismus sucht nun diese Übereinstimmung zu erklären, indem er eine eigene einheitliche und beharrende Substanz, den jüdischen Volksgeist, konstruiert und die Gleichartigkeit jüdischer Handlungen daraus begreift, dass jeder einzelne Jude Verkörperung eben dieses Volksgeistes ist. Aber was ist dieser Volksgeist? Entweder ein leeres Wort ohne jeden Inhalt, das nichts zu erklären vermag, am allerwenigsten so konkrete Dinge wie die Handlungen irgend eines Herrn Kohn; oder aber, wenn ich ihm einen Inhalt geben will, so muss ich in ihn jenes Gemeinsame an allen jüdischen Handlungen mitübernehmen. Ist aber der jüdische Volksgeist die abstrakte Veranlagung des Kohn und Mayer und Löwy und wie die Herren alle heißen, deren Handlungen er erklären will, dann löst er seine Aufgabe erst recht nicht: denn der Kohn und der Mayer denken dann abstrakt, weil sich der jüdische Volksgeist in ihnen verkörpert, und der jüdische Volksgeist ist Veranlagung für abstraktes Denken, weil der Kohn und der Mayer abstrakt denken. Die Erklärung aus dem Volksgeiste wird so zur Tautologie, zum analytischen Urteil: wir wollen etwas erklären, indem das. was erklärt werden soll, doch schon in dem angeblich Erklärenden selbst enthalten, die angebliche Ursache nichts anderes als eine Abstraktion aus den zu erklärenden Wirkungen ist.

Der Volksgeist kann die nationale Charaktergemeinschaft nicht erklären, weil er selbst nichts anderes ist, als der in eine metaphysische Wesenheit, in ein Gespenst verwandelte Nationalcharakter. Der Nationalcharakter selbst ist aber, wie wir bereits wissen, keine Erklärung der Handlungsweise irgend eines Individuums, sondern nur die Erkenntnis relativer Gleichartigkeit der Handlungsweisen der Nationsgenossen eines bestimmten Zeitalters. Er ist keine Erklärung, sondern er ist zu erklären. Dies nun, die Erklärung der nationalen Gemeinschaft des Charakters, ist die Aufgabe der Wissenschaft.

Fußnoten

1. Bagehot, Der Ursprung der Nation, Leipzig 1874, S.25.

2. Neue Zeit, XXIII., 2., S.464.

3. Diese Frage, ob der deutsche Arbeiter mit dem deutschen Bourgeois oder mit dem französischen Arbeiter mehr Charaktermerkmale gemein hat, fallt nicht etwa mit der Frage zusammen, ob der deutsche Arbeiter Klassenpolitik oder nationale Politik treiben soll, ob er sich mit den Proletariern aller Länder gegen das internationale Kapital oder mit dem deutschen Bourgeois gegen die anderen Völker vereinigen soll. Denn die Entscheidung dieser Frage hängt von ganz anderen Erwägungen ab als von der Erörterung der Intensität der verschiedenen Charaktergemeinschaften.

4. Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert, Berlin 1903, S.128ff.

5. Über die Mängel dieser Anschauung, insbesondere für die Frage der Entstehung des Rechtes, vergleiche Stammler, Wirtschaft und Recht, Leipzig 1896, S.315ff.

6. Noch tiefer fasst Fichte diesen metaphysischen Begriff der Nation, indem er sagt: „Das Ganze der in der Gesellschaft miteinander fortlebenden und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besonderen Gesetze der Entwicklung des Göttlichen aus ihm steht, ist ein Volk. Die Gemeinsamkeit dieses besonderen Gesetzes ist es, was in der ewigen Welt und darum auch in der zeitlichen diese Menge zu einem natürlichen und von sich selbst durchdrungenen Ganzen verbindet.“’ Fichte, Reden an die deutsche Nation, Leipzig, Reclam, S.116. Jeder Mensch ist darnach nichts als eine der unzähligen Erscheinungsweisen des Göttlichen, aber das Göttliche steht unter verschiedenen Gesetzen und nur die Erscheinungsformen des unter demselben Gesetze stehenden Göttlichen bilden die Nationen. Der Volksgeist ist eine der Erscheinungsweisen des Göttlichen, das Lidividnum eine der Erscheinungsweisen des Volksgeistes. Zu dieser Metaphysik der Nation gelangte Fichte, obwohl er früher (Seite 52 der Reclamschen Ausgabe) dem richtigen empirischen Begriffe der Nation sehr nahe gekommen ist. Es ist für den nachkantischen dogmatischen Idealismus charakteristisch, dass er selbst dort, wo er eine Erscheinung empirisch-historisch richtig zu begreifen vermag, sich damit nicht begnügt, sondern die wissenschaftlich richtig bestimmte empirische Erscheinung zur Erscheinungsform einer von ihr unterschiedenen metaphysischen Wesenheit machen will.


Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008